E-Book, Deutsch, 432 Seiten
Downham Ich war der Lärm, ich war die Kälte
1. Auflage 2020
ISBN: 978-3-641-24660-0
Verlag: cbj
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Vom internationalen literaturfestival berlin ausgezeichnet als Außergewöhnliches Buch 2024
E-Book, Deutsch, 432 Seiten
ISBN: 978-3-641-24660-0
Verlag: cbj
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Lexis Wut brodelt unter der Oberfläche und wartet nur darauf, ans Tageslicht zu kommen
Die fünfzehnjährige Lexi kämpft mit Aggressionsproblemen. Sie zertrümmert Möbel, wirft Sachen aus dem Auto und zerstört Handys, wenn ihr die Sicherungen durchbrennen. Dabei möchte Lexi einfach nur von ihrer Familie akzeptiert werden: von ihrem Stiefvater John, der meint: »Warum passieren in deiner Nähe immer schlimme Dinge, Alexandra?«. Vom älteren Stiefbruder Kass, in den sie sich rettungslos verliebt hat. Und von ihrer Mutter, die sich immer mehr von ihr abwendet. Doch ihre Wut zu unterdrücken, lässt sie nicht verschwinden ...Eine unerschrocken ehrliche und außergewöhnlich berührende Geschichte über emotionalen Missbrauch von der mehrfach ausgezeichneten Autorin von »Bevor ich sterbe«.
Jenny Downham hat als Schauspielerin in einer freien Theatergruppe gearbeitet, bevor sie anfing zu schreiben. Sie lebt mit ihren beiden Söhnen in London.
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1 Ich lief in den Garten, um mich zu verstecken. Als ich nach über zehn Minuten schon hoffte, damit durchgekommen zu sein, trat Mum aus der Wohnung und kam die Stufen herunter. Sosehr ich mich auch bemühte, mich unsichtbar zu machen, entdeckte sie mich doch, als sie über den Rasen kam. Sie sagte: »Komm sofort runter vom Baum und entschuldige dich.« »Ist er böse?« »Genau wie ich.« »Gibt er mir Hausarrest?« »Weiß ich nicht. Aber du kannst nicht solche Sachen sagen, ohne dass es Konsequenzen hat.« »Ich wollte das nicht. Das ist mir nur so rausgerutscht.« »Ach ja?« Sie zählte an den Fingern einer Hand ab: »Du hoffst, dass der heutige Abend ein Desaster wird. Dass die Gäste Lebensmittelvergiftung kriegen. Du denkst gar nicht dran, zur Party zu kommen, und wir können dich alle mal. Das ist dir alles bloß aus Versehen rausgerutscht, ja?« Ich berührte eine schwarzsamtene Blattknospe mit der ausgestreckten Hand. Wenn ich ein Blatt wäre, würde niemand etwas von mir erwarten. Mum sagte: »Ziemlich verletzend, findest du nicht?« Ich spähte durch die Zweige zu ihr runter. Sie trug eine Sportleggings und ein T-Shirt, hatte sich eine Schürze umgebunden, und ihre Wangen waren gerötet. Bei ihrem Anblick schmolz ich dahin. Ich hatte versprochen, bei den Vorbereitungen zu helfen, und stattdessen nichts als Ärger gemacht. »Tut mir leid, Mum.« Sie lächelte erschöpft zu mir hoch. »Ich weiß, dass du enttäuscht bist, weil Kass nicht kommt, aber du kannst auch ohne ihn Spaß haben. Denk nur an all das leckere Essen und wie toll der Garten aussehen wird mit den vielen Lichtern und wenn alle tanzen.« Aber der Einzige, mit dem ich tanzen wollte, war Kass. Ich hatte ihn nicht mehr gesehen, seit er nach Weihnachten zur Uni zurückgefahren war. Ganze fünfundsechzig Tage war das schon her. Mum sagte: »Jetzt komm endlich – runter mit dir. Je eher du dich bei John entschuldigst, desto leichter wird es.« Ich kletterte langsam runter und hoffte, anmutig zu wirken. »Ich hab eine Idee wegen heute Abend«, sagte sie, als ich endlich neben ihr auf dem Rasen stand. »Ich weiß, dass du dich mit geselligen Anlässen schwertust, und es tut mir leid, dass dein Bruder nicht dabei sein kann.« »Er ist nicht mein Bruder.« »Du weißt, was ich meine. Wenn Kass hier wäre, würde dir alles leichterfallen. Aber er kommt nun mal nicht, so ist das eben. Also, wie wär’s, wenn du zu Beginn die Appetithäppchen herumreichst? Was meinst du? Das verschafft dir die Gelegenheit zu zwanglosen ersten Kontakten.« Ich merkte, worauf das hinauslief, und verspürte einen Anflug von Panik. »Ich kann nicht mit den Leuten reden.« »Vielleicht fällt es dir leichter, wenn du eine Aufgabe hast.« Was sie wohl täte, wenn ich auf dem Absatz kehrtmachte und den Baum wieder raufkletterte? Mich an den Fußgelenken packen? Wenn ich schnell genug oben wäre, würde sie vielleicht über den Rasen zurückwandern und John erzählen, dass ich verschwunden wäre? Dann müssten sie ihre Verlobung ohne mich feiern. Doch während die Sekunden verstrichen, wurde mir immer klarer, dass es so nicht laufen würde. Ich steckte die Hände in die Taschen und wartete. »Lex?«, sagte sie schließlich. »Ist der ganze Sinn von einem Büfett nicht, dass die Leute sich selbst bedienen?« »Ja, beim Hauptgericht, aber zur Begrüßung bietet man üblicherweise ein paar Häppchen an.« »Bitte zwing mich nicht dazu. Lass es Iris machen.« »Iris ist ein bisschen zu jung.« Sie hakte sich bei mir unter und drückte meinen Arm. »Das ist ein Neuanfang für uns. Ich möchte, dass du dich einbringst.« Sie war aufgeregt. Ich spürte es ihren Fingern an. Nachdem sie jahrelang darauf gewartet hatte, dass Johns Scheidung durchkam, konnte sie jetzt, da sie endlich seine Frau wurde, nicht gebrauchen, dass ich ihr alles verdarb. »Ich sammle leere Gläser ein, wenn du willst. Ich kümmere mich um die Garderobe.« »Dabei kommst du nicht mit den Gästen ins Gespräch, Lex.« »Ehrlich, Mum, wenn ich mit Tabletts voller Essen rumlaufe, schreit das nach einer Katastrophe. Das weißt du doch selbst am besten.« »Gar nichts weiß ich.« Ich sah mich schon stolpern. Sachen verschütten. Die Namen der Kanapees vergessen. »Was ist das?«, würden mich die Leute fragen, auf etwas auf meinem Tablett zeigen und eine sinnvolle Antwort erwarten, und ich würde dumm dastehen und irgendeinen Blödsinn murmeln; wenn sie mich dann komisch ansahen, würde mich das so wütend machen, dass ich das Tablett auf den Rasen schmeißen und davonstapfen würde. Johns gelackte und geschniegelte Arbeitskollegen würden herausfinden, was er schon wusste – dass ich eine fürchterlich jähzornige Idiotin war. Irgendwer würde ihn garantiert fragen: »Hat dieses Mädchen irgendwas mit dir zu tun?« Und dann würde er dieses furchtbar enttäuschte Gesicht ziehen und sagen: »Alexandra wird meine Stieftochter.« Mum küsste mich auf den Scheitel. Keine Ahnung, warum. Vielleicht wünschte sie mir Glück, oder sie wollte mir zu verstehen geben, dass sie mich lieb hatte, auch wenn ich ein Albtraum war. Ich sagte: »Ich bin sauer auf Kass.« Mum nickte. »Ich weiß.« Ich hatte ihm zuvor aus meinem Zimmer geschrieben: SCHON WACH? Für die Antwort hatte er siebenunddreißig Minuten gebraucht: JETZT JA. KOMMSTE ECHT NICHT? Er bestätigte. Entschuldigte sich und meinte, dass er es wiedergutmachen wollte. Ich wollte ihn fragen, was genau ihm da vorschwebte, ließ es aber und schaltete stattdessen das Handy aus. Mum nahm mich an der Hand, als wir zur Wohnung zurückgingen. »Du wirst dich irgendwann dran gewöhnen, dass er weg ist, Lex.« Sie kapierte rein gar nichts. Als ich Kass kennenlernte, war ich acht und er fast elf. Mum war schon mit Iris schwanger, eine neue Familiengründung war also ein fait accompli, was heißt, dass man keine Wahl hat. Kass wurde beauftragt, mich im Garten zu beaufsichtigen, während die Erwachsenen redeten. Ich beschloss, ihn nicht zu beachten. Ich war acht und brauchte keinen Babysitter. Außerdem war es mein Garten. Ich dachte mir, wenn ich ihn komplett ignorierte, würde er weggehen. Aber daraus wurde nichts. Gleich zu Anfang setzte er sich auf eine Stufe der Feuerleiter und sagte: »Wenn es wirklich mal brennen sollte, ist die Treppe hier nutzlos.« Er erklärte, dass sie direkt in einen ummauerten Garten ohne Ausgang führte, und wenn sich alle Hausbewohner dort versammelten, wäre es die Hölle – dann würden uns brennende Gebäudeteile auf den Kopf fallen, und wir wären eingekesselt. »Du solltest dir ein Kletterseil besorgen«, sagte er, »es an dein Bett oder das Fensterbrett knüpfen und auf der Straßenseite rausklettern.« Mir gefiel, dass er so ruhig über Katastrophen nachdenken konnte. Und auch, dass er mich retten wollte. In Hänsel und Gretel war das Mädchen die Retterin, aber andersrum stellte ich mir spaßig vor. »Meine Mum dreht durch, wenn sie erfährt, dass ich hier war«, fuhr er fort. Er hob eine Handvoll Kies von den Stufen auf und warf die Steinchen nacheinander ins Gras. »Deine Mutter ist die Andere. Wusstest du das?« Ich schüttelte den Kopf. »Deshalb wird meine Mutter durchdrehen. Sie ist ausgerastet, als sie es rausgekriegt hat. Sie dachte immer, mein Dad wäre ständig bei der Arbeit, nicht bei einer anderen Frau.« »Der trifft sich schon ewig mit meiner Mum«, sagte ich. »Eben«, sagte Kass. Er erzählte mir, dass seine Mum seinen Dad rausgeschmissen, ihm aber wieder verziehen hatte, als er versprach, sich zu ändern. Er sagte, sein Vater sei ein Meister im Entschuldigen, aber normalerweise sei das alles nur Gerede, und er wünschte, seine Eltern würden sich nicht mehr so hirnverbrannt benehmen. »Dann hat meine Mum das mit dem Baby rausgekriegt.« Er sah mir in die Augen und etwas Trauriges in seinem Blick versetzte mir einen tiefen Stich. »Was hat sie gemacht?«, flüsterte ich. »Ziemlich viel rumgeschrien. Mit Sachen geworfen. Das Komischste war eine Tasse Tee, die sie meinem Dad an den Kopf geworfen hat.« Weil er lachte, lachte ich auch. »Hat sie ihn getroffen?« »Er ist ausgewichen, und die Tasse ist gegen die Wand geknallt, aber er wurde trotzdem nass.« Ich sah ihm weiter in die Augen. »Womit hat sie sonst noch geworfen?« »Das Größte war der Fernseher, den hat sie durchs Treppenhaus runtergeschmissen.« Wir kriegten uns beide nicht mehr ein vor Lachen. Ich stellte mir vor, dass seine Mutter unheimlich stark war, aber er sagte, es sei ein tragbarer Fernseher gewesen, also doch nicht so beeindruckend. Und dass seine Mutter damals sowieso einen neuen kaufen wollte, von daher kein großer Verlust. Kass sagte: »Meine Mum glaubt, dass mein Dad dieses supertolle neue Leben hat, mit neuer Wohnung, neuer Frau und gebrauchsfertiger Tochter.« »Sie weiß von mir?« »Klar.« Die Vorstellung, dass die Erwachsenen über mich geredet hatten und eine völlig Fremde neidisch auf mein Leben war, machte mich unverschämt glücklich. Ich zeigte Kass meine Spezialmethode, auf den Baum zu klettern, und von welchem Ast man sich auf die Mauer hinablassen konnte. Er sagte, ich wüsste mir im Brandfall eindeutig zu helfen und hätte mich die ganze Zeit schon selbst retten können. Vom...