E-Book, Deutsch, 208 Seiten
Dornblüth / Franke Jenseits von Putin
1. Auflage 2023
ISBN: 978-3-451-82989-5
Verlag: Verlag Herder
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Russlands toxische Gesellschaft
E-Book, Deutsch, 208 Seiten
ISBN: 978-3-451-82989-5
Verlag: Verlag Herder
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Als Russland am 24. Februar 2022 die Ukraine angriff, schien das großen Teilen der russischen Gesellschaft egal zu sein. Das ist nicht überraschend. Seit Jahren wird das russische Expansionsstreben davon begleitet, dass gesellschaftlich das Recht des Stärkeren gilt. Gewalt wird von vielen als Mittel der Politik akzeptiert.
Gesine Dornblüth und Thomas Franke erklären, wie es dazu kommen konnte. Ihre Reportagen und Analysen führen uns durch drei Jahrzehnte, in denen nationalistische Kräfte über Verfechter demokratischer Werte die Oberhand gewannen. Dabei wird deutlich: Der zukünftige Frieden in Europa hängt davon ab, ob wir Russlands Gesellschaft richtig verstehen und entsprechend handeln.
Autoren/Hrsg.
Fachgebiete
- Sozialwissenschaften Politikwissenschaft Politische Kultur Staatsbürgerkunde, Staatsbürgerschaft, Zivilgesellschaft
- Sozialwissenschaften Politikwissenschaft Politikwissenschaft Allgemein
- Sozialwissenschaften Politikwissenschaft Militärwesen
- Sozialwissenschaften Politikwissenschaft Internationale Beziehungen Geopolitik
- Sozialwissenschaften Politikwissenschaft Politische Systeme Totalitarismus & Diktaturen
Weitere Infos & Material
3. Sie brauchen einen Führer – Putins jugendliche Machtressource
Sommer 2005. Fünfzig junge Menschen in weißen Hemden bevölkern den Park in Wladimir Putins Residenz Nowo-Ogarjowo westlich von Moskau. Sie essen Schaschlik, Fisch und Gemüse vom Grill, übergießen die Speisen mit Granatapfelsoße, kauen Piroggen. Dazu gibt es Kaffee und Tee. Sie warten. Nach einer Stunde kommt Putin dazu. Er trägt ein kurzärmliges kariertes Hemd: „Danke, dass Sie vorbeigeschaut haben.“ Dann setzt er sich locker und leicht breitbeinig auf einen Hocker, seine Fans platzieren sich im Halbkreis um ihn herum. „Ohne Zweifel werden Sie in der Lage sein, die Situation im Land zu beeinflussen“, versichert Putin der aufgedrehten Schar junger Anhänger. Die jungen Menschen sind Funktionäre der frisch gegründeten Naschi – die Unsrigen –, einer Art Putin-Jugend. Seine Machtreserve. „Ich bin mir da sicher: Wenn Sie organisiert sind, können Sie der Führung des Landes, der Gesellschaft und dem Staat helfen.“ Putin lobt den positiven Einfluss, den die Naschi bereits auf Russland hätten, spricht über den Beitritt Russlands zur Welthandelsorganisation, über die Beziehungen zu anderen ehemaligen Sowjetrepubliken. Und er dankt den Naschi für ihre Aktion zum 60. Jahrestag des Sieges am 9. Mai. Da schafften es die Funktionäre der erst wenige Wochen alten Organisation, eine Demonstration mit 50 000 Teilnehmern auf die Beine zu stellen. Die regierungsnahen Fernsehsender übertragen Putins Treffen mit den Naschi. „Das Bildungssystem muss den Bedürfnissen der heutigen Zeit angepasst werden“, sagt Putin, und die junge Schar nickt. „Werden Sie eine Union von Russland und Weißrussland gründen?“, möchte einer wissen. „Ich denke, das hängt in erster Linie von Weißrussland ab“, antwortet Putin. Der Zweck der Naschi ist, das Leben junger Russen mit dem Schicksal Putins zu verknüpfen, ihnen eine Perspektive vorzuspiegeln. Das erzeugt Dankbarkeit und macht abhängig von kontrollierten Karrierenetzwerken. Je mehr Menschen zu verlieren haben, desto eher werden sie mithelfen, dass Putin an der Macht bleibt. In Europa geht zu dieser Zeit ein Geist um. Es ist der Geist der friedlichen Revolutionen Ende der 80er Jahre. Im Jahr 2000 haben Studenten in Serbien den Diktator und Kriegsverbrecher Slobodan Miloševic gestürzt. Drei Jahre später taten Studenten in Georgien das Gleiche mit ihrem greisen Präsidenten Eduard Schewardnadse, dem letzten Außenminister der Sowjetunion. 2004 folgte die Ukraine. Hunderttausende gingen in der Hauptstadt Kyjiw auf die Straße. Anlass war eine gefälschte Präsidentenwahl. Prorussische Oligarchen wollten ihren Kandidaten mit allen Mitteln durchsetzen. Sein reformorientierter Konkurrent wurde mit Dioxin vergiftet und überlebte schwer entstellt. Die Demonstranten schlugen Zelte auf. Wochenlang harrten sie bei Schnee und Regen aus. Die Wahl wurde wiederholt, der Reformer gewann. Die friedliche Revolution bekam einen Namen: orangefarbene Revolution. Und in Moskau, bei Putin, schrillten Alarmglocken: Ausgerechnet die Ukraine. Das Virus der Freiheit könnte sich unkontrolliert auf Russland ausbreiten. Das darf nicht geschehen. Vor den Volksbewegungen, den sogenannten „orangefarbenen“ oder „farbigen Revolutionen“, hat Putin mächtig Angst. Die Naschi sind die jugendliche Gegenbewegung für den Fall der Fälle. Und während eine Zeitung „Putin traf sich mit Antifaschisten“ titelt, sprechen Oppositionelle längst von „Naschisten“. Die Naschi tragen rot-weiße Kleidung und knüpfen an Bekanntes an. In der Sowjetunion waren die meisten Jugendlichen Mitglied im Komsomol, der Jugendorganisation der Kommunistischen Partei der Sowjetunion (KPdSU). Die Naschi geben sich nicht nur wie eine Fortführung des Komsomol; ihre Funktionäre heißen Kommissare. Politkommissare waren in der Roten Armee für die Erziehung zu sozialistischen Persönlichkeiten zuständig. Sie waren sogar befugt, Befehle von Kommandeuren aufzuheben, wenn sie diese nicht im Einklang mit der Linie der Kommunistischen Partei wähnten. Zwei Jahre nach dem Treffen mit Putin sind die Naschi längst fester Bestandteil von Putins Machtgefüge. Es ist spät am Abend im Herbst 2007, und in ihrem Hauptquartier in einer ehemaligen Grundschule in Moskau herrscht reges Treiben. Eine Massowka steht an, eine Massenaktion. In wenigen Wochen sind Parlamentswahlen, im März 2008 folgt dann die Präsidentenwahl. Die Wände hängen voller Schnappschüsse von fröhlichen jungen Menschen. Auf den roten Treppenstufen ist „Vorwärts, Russland“ und „Vorwärts, Generation Putin“ zu lesen. Auf dem Flur sitzen zwei junge Frauen auf Hockern und telefonieren Listen ab, um zu mobilisieren. Eine heißt Julia und studiert. „Die Liste ist ganz schön lang. Aber wir sind viele, und das eint uns. Ich bin an meinen freien Tagen immer hier. Mir gefällt es hier. Hier kann ich etwas Sinnvolles für unser Land tun.“ Die Naschi sind zu dem Zeitpunkt nach eigenen Angaben auf 100 000 Mitglieder angewachsen. Journalisten stellen sie eine Pressebetreuerin zur Seite. Irina Anissimowa ist 21 und von Anfang an dabei. „Wir müssen auf den Straßen und Plätzen die Unabhängigkeit Russlands verteidigen. Es besteht die Gefahr farbiger Revolutionen nach dem Muster der Ukraine oder Georgiens, und wir müssen dafür sorgen, dass Russland einig und unbesiegbar bleibt.“ Kaum hat sie angefangen zu sprechen, umringen sie ein paar Zuhörer, nicken zustimmend. Es sind immer die gleichen Textbausteine, die die Unsrigen von sich geben. „Naschi ist eine moralisch sehr anspruchsvolle Bewegung. Bei uns herrscht absolutes Alkoholverbot. Die Kommissare und Mitglieder trinken nicht. Jeder Mensch muss getreu seiner Moral in seiner nationalen Kultur leben.“ An einer Pinnwand hängen die Broschüren der Naschi. Sie heißen „Freiwillige Jugendwehr“, „Ideologie“ und „Russland, unser Megaprojekt“. Die Broschüren sind inhaltlich äußerst kreativ gestaltet. Ein bisschen so wie die Nachrichten im Staatsfernsehen. So lernen die Unsrigen, das Nachbarland Georgien sei eine „amerikanische Militärbasis“. Das Foto eines Militärfahrzeugs soll das belegen. Man muss nicht mal genau hinsehen, um das „Y“ und die deutsche Fahne an der Antenne zu erkennen. Auch die Aufschrift KFOR, Kosovo Force, ist gut zu lesen. Es ist ein Jeep der Bundeswehr im Kosovo. Die Bildunterschrift heißt: „Georgien 2006“. Zwischen Foto und Bildunterschrift liegen etwa 2500 Kilometer Luftlinie. Richtig ist, dass Georgien sich um enge Beziehungen zur NATO bemüht. Schon das bringt die Naschi auf. Sie betrachten Georgien als russisches Einflussgebiet, in dem Russland automatisch Regeln bestimmen kann. Die Naschi sind im Dauerwahlkampf: „Kasparow zum Beispiel will ein anderes Russland, ein liberales Russland, damit Russland wieder seine Rohstoffe an Europa verschenkt. Das ist Faschismus: das Land für Kopeken zu verkaufen“, erläutert Anissimowa. Der ehemalige Schachweltmeister Garri Kasparow ist 2007 einer der Oppositionsführer. 2005 schlug ihm einer der Naschi bei einer Veranstaltung ein Schachbrett auf den Kopf. Eine Woche vor der Parlamentswahl wird Kasparow während einer der wenigen Großdemonstrationen der russischen Opposition festgenommen und muss fünf Tage in Polizeigewahrsam. Angeblich hat er sich der Staatsgewalt widersetzt. Westliche Regierungen protestieren. Die Naschi finden derlei Kritik aus dem Ausland ungerechtfertigt. „Putin ist gut für Russland, wer gegen Putin ist, ist gegen Russland und damit Faschist“, so einfach ist das für Anissimowa und ihre Mitstreiter. Diskussionen und Streit um die besseren Argumente, der Ausgleich unterschiedlicher Interessen sind vielen Russen unbekannt, schüren Angst vor instabilen Verhältnissen und einem Zusammenbruch der Lebensmittelversorgung wie in den 90er Jahren. Auch Andrej Bogdanzew ist spät am Abend noch schwer beschäftigt. Er ist bei dem Treffen 23 Jahre alt und leitet die Abteilung Naschi Profi. Das ist eine Art Mini-Personalagentur, die Praktika und Jobs für Mitglieder der Naschi vermittelt. Dreißig Leuten hätten sie in diesem Jahr eine Arbeitsstelle verschafft. Darauf ist er stolz. „Die personelle Modernisierung des Landes ist eine Aufgabe unserer Bewegung“, erläutert er, „so steht es in unserem Manifest. Wir wollen den derzeitigen Beamtenapparat durch junge Menschen mit einem neuen Denken ersetzen. Junge Menschen, die es als ihre Pflicht ansehen, den Staat voranzubringen. Wir wollen keine Funktionäre.“ Seit Kurzem hat er selbst einen Job im Bildungsministerium. Den hat er dank seines Engagements für die Naschi bekommen. Er schaut auf sein Telefon. Das liegt neben einem Deospray auf seinem Schreibtisch und klingelt. „Meine Oma“, sagt er, „da muss ich rangehen.“ Wann er denn endlich nach Hause komme. „Das weiß ich noch nicht. Wartet nicht auf mich. Ich muss hier noch arbeiten.“ Wer bei und mit den Naschi etwas werden möchte, muss mehrere Theorieseminare absolvieren. Darin wird der künftigen nationalen Elite die richtige patriotische Einstellung beigebracht. Die Kurse heißen: „Technologie sozialer Manipulationen“, „Der russische Weg“, „Rhetorik“ oder „Leadership“. „Unser Ziel ist der nationale Manager“, sagt Bogdanzew. „Aus unserer Sicht muss jeder Staatsbeamte vor allen Dingen Führer, Patriot und Profi sein.“ Die Naschi vermitteln nicht nur Jobs in den Behörden, erläutert er: „Wir arbeiten mit den großen nationalen Konzernen: Gazprom, Lukoil und deren Tochterunternehmen. Also mit Energiekonzernen. Denn sie bestimmen die Wirtschaft Russlands, Russlands Einfluss auf der Weltbühne und in weiten Teilen auch die Politik unseres Staates.“ Zehn Praktika würden sie jeden Monat vermitteln. Um so einen Platz zu bekommen, müssten die Mitglieder aber...