Positionen im Umgang mit Raubkunst
E-Book, Deutsch, 448 Seiten
ISBN: 978-3-85869-993-0
Verlag: Rotpunktverlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Geht es um Raubkunst, ist oft die Rede von »problematischen Eigentumsverhältnissen«, »belasteten Kunstwerken«, »schwierigem Erbe« oder auch von »Werten, um die gestritten werden müsse«. Dabei geht es nicht allein um den materiellen Wert von Kunstwerken oder Vorgänge in der Vergangenheit. Vielmehr bestimmen heutige Sichtweisen auf gewaltsame Ereignisse in der Geschichte den Umgang mit Kunst- und Kulturgütern. Welche Folgen hat Kunstraub aus historischer, rechtshistorischer, juristischer und Museumssicht? Wie können Gedächtnisinstitutionen wie Museen ihre Verantwortung
gestalten? Und welche Rolle haben die Opfer nationalsozialistischer Verfolgung und ihre Nachfahren dabei?
Aus unterschiedlichen Perspektiven wird Position zu den aktuellen Fragen bezogen. Fallstudien zeigen exemplarisch auf, wie Verfolgung, Flucht und Raub mit dem Aufbau von Sammlungen und dem Kunsthandel zusammenhängen.
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Einleitung von Nikola Doll Das Erbe des Raubs
Noch achtzig Jahre später wirkt die Frage nach dem Zusammenhang des Handelns und Sammelns von Kunst in Zusammenhang mit dem Holocaust auf die Gesellschaft ein und ist dabei kein bisschen akademisch. Die Debatten um den Nachlass Hildebrand Gurlitts oder die Sammlung Emil Bührle im Kunsthaus Zürich spiegeln nach wie vor die Relevanz verfolgungsbedingter Verluste sowie das Unbehagen an der Auseinandersetzung mit den Hinterlassenschaften des Nationalsozialismus wider. Insbesondere wurden die je nach Land unterschiedlich gesetzten Maßstäbe dafür, was im Einzelfall als Raubgut gelten soll, deutlich, und damit das Missverhältnis zwischen dem historischen Ereignis des Verlusts und dessen Beurteilung in der Gegenwart entsprechend nationalen Geschichtsbildern als Problem erkennbar. So ging mit der Annahme des Nachlasses Gurlitt die Frage einher, ob mit der Überführung der unter Raubkunstverdacht stehenden Sammlung in die Schweiz Raubkunst entsprechend der dort geläufigen Definition bewertet werde. In Deutschland galten 2014 verfolgungsbedingte Entzugsvorgänge als Raubkunst, in der Schweiz Konfiszierungen. Unterschiedliche historische, rechtliche und moralische Wertungen von Verlusten im Zusammenhang mit dem Nationalsozialismus machten in der Diskussion um die Ausstellung der privaten Sammlung Emil Bührle im Kunsthaus Zürich auf die bestehende Kluft zwischen dem Umgang mit Raubkunst in Privatsammlungen und den ethisch-moralischen Verpflichtungen wie dem Bildungsauftrag öffentlich finanzierter Museen aufmerksam. Als die Sammlung im November 2021 im Bau des Architekten Chipperfield eröffnet war, ging es nicht mehr nur um unikale Qualität. Vielmehr sahen sich Museum und Stiftung den Forderungen früherer Eigentümer, gesellschaftspolitischen Ansprüchen und rechtspolitischen Perspektiven ausgesetzt, mithin Verantwortlichkeiten, die Museen nicht mehr alleine betreffen. Fragen nach dem Verlust und der Aneignung von Kulturgütern, deren Geschichte mit Verfolgung, Genozid und Krieg verbunden ist, zielen mitten auf das heutige Selbstverständnis von Staaten, ihre Geschichtsbilder, auf Autorität und Selbstverständnis von Museen und des von ihnen in Anspruch genommenen Kulturbegriffs. Auch in vielen Kunstmuseen, den Museen mit dem wohl konventionellsten Werkbegriff, sind Werke längst nicht mehr stumme Zeugen einer ästhetischen Künstlergeschichte. Gerade die durch die Erforschung von Raubkunst methodisch reformierte Provenienzforschung hat zu einem neuen Bewusstsein für ihre vielen Bedeutungsebenen geführt. Dennoch haben Kunstwerke, die einst in Gewaltzusammenhängen standen, das Potenzial einer Ohrfeige, das die Historikerin Lorraine Daston 2000 wissenschaftlichen Dingen zugeschrieben hat.1 Geraubte Dinge werden stets den Anspruch des gegenwärtigen Besitzers auf alleinige Deutungshoheit herausfordern, allein, weil mit der Wegnahme Aneignung einherging. Selbst Kunstwerke, bei denen durch eine Restitution das Unrecht und das ursprüngliche Eigentum anerkannt wurde, werden aufgrund ihrer Geschichtlichkeit immer mit dem zurückliegenden Raub verbunden bleiben. In vielen Fällen sind die Spuren des Geschehenen heute noch sichtbar in das Material eingeschrieben. Schon die Masse der zwischen 1933 bis 1945 geraubten Kunstwerke und Kulturgüter lässt Rückschlüsse auf die Art und das Ziel der Verfolgung aus rassistischen Motiven zu. Kunstwerke machen nur eine kleine, aber bedeutende Gruppe der vom nationalsozialistischen Regime geraubten Vermögenswerte aus. In Deutschland, in den einverleibten und im Zweiten Weltkrieg besetzten Ländern griff die Regierung mit eigens dafür geschaffenen Gesetzen auf Grundstücke, Immobilien, Firmen, Patente, Wertpapiere und Barguthaben sowie auf Kunstwerke, Schmuck, liturgische Objekte, auf ganze Bibliotheken und Archive bis hin zu Alltagsgegenständen unterschiedlichster Natur von Bürgerinnen und Bürgern zu, weil sie Juden waren. Mit der physischen Vernichtung im Holocaust ging die kulturelle Auslöschung einher. Sie ist die Grundlage für eine materielle wie intellektuelle Aneignung von Kunst, zunächst durch das nationalsozialistische Deutschland, dessen Museumsexperten aus beschlagnahmten Kunstsammlungen »Meisterwerke« für staatliche und private Sammlungen auswählten und damit in einen Hochkulturkanon einreihten, von dem Juden als »kulturlos« und »minderwertig« ausgeschlossen waren. Vor dem Hintergrund der Ereignisse, der historischen Aufarbeitung des Nationalsozialismus in Deutschland respektive der Auseinandersetzungen über die Verflechtungen der Schweiz mit dem nationalsozialistischen Regime mag es überraschen, dass bis heute über Verluste in Zusammenhang mit dem Holocaust gestritten wird. Die Auseinandersetzungen entzünden sich vielmehr an Kunstwerken, in der Regel Gemälden, deren Wert bereits in den dreißiger Jahren gesichert war und durch die Wertschöpfungsketten von Kunsthandel und Museen seit den fünfziger Jahren weiter gestiegen ist. Unter den Erklärungen, warum das 25 Jahre nach Verabschiedung der elf Grundsätze anlässlich der Washingtoner Konferenz über Vermögenswerte aus der Zeit des Holocaust vom 3. Dezember 1998 so ist, stechen zwei hervor, und sie hängen miteinander zusammen, zum einen die Aneignung von geraubtem Privateigentum und seine Aufwertung als kulturelles Erbe, zum anderen die Scheu vor der Auseinandersetzung mit dieser Problematik, die so auffällig unabgeschlossen wie politisch aufgeladen ist. Dass das Unbehagen bei nationalsozialistischer Raubkunst nicht Zufall, sondern Ergebnis bewusster Entscheidungen ist, hat die Forschung zu Raub und Restitution gezeigt. Bezeichnend ist etwa, wie der Kunsthändler Hildebrand Gurlitt (1895–1956) gegenüber den Vertretern der Wirtschaftsvereinigung Stahl seine Begegnung mit der französischen Kunst im besetzten Frankreich als eine Zeit der persönlichen Bildung und des beruflichen Fortkommens schilderte: »Sehen Sie, meine Damen und Herren, ich bin in meinem Leben zwei grossen Ereignissen begegnet: dem Expressionismus, mit dem ich aufwuchs, als ich in Dresden als junger Mensch lebte, und der grossen französischen Malerei, die ich später kennen lernte.«2 In derselben Zeit leugneten Gurlitt und seine Frau Helene, im Besitz der Bleistiftzeichnung Das Klavierspiel (um 1840) des Malers Carl Spitzwegs zu sein, die das Finanzamt Leipzig auf der Grundlage von Zwangssteuern eingezogen hatte.3 Heute noch findet sich auf dem Rückkarton des gerahmten Blatts von der Hand Gurlitts ein Hinweis auf die Sammlung Henri Hinrichsen (1868–1942) in Leipzig.4 Für die Rückforderung lag es nach dem Bundesrückerstattungsgesetz in der Verantwortung der Söhne des 1942 in Auschwitz ermordeten Hinrichsen, den Standort der Werke nachzuweisen. Ihre Bemühungen, das Blatt wiederzubekommen, hätten der Mithilfe der am Entzug oder am Verkauf beteiligten Personen beziehungsweise der neuen Besitzer bedurft. In den oftmals jahrelangen Verfahren zur Rückerstattung oder Entschädigung geraubter Kunst konnte nicht nur die Beteiligung von Experten an Beschlagnahmen, der Verteilung und der Verwertung geraubter Güter in den Hintergrund treten. In den Entschädigungsverfahren wurden mitunter dieselben Personen damit beauftragt, den Wert von Kunstwerken zur Bemessung von Entschädigungssummen erneut zu taxieren. Nach Ende des Holocaust und des Zweiten Weltkriegs hätten die Staaten die Grundlagen für die Rückgabe geraubter Kunst liefern können, Handel und Museen wären durchaus in der Lage gewesen, Hinweise auf Raubgut zu geben. In der Bundesrepublik Deutschland setzte sich jedoch in den fünfziger Jahren eine Schlussstrichmentalität durch, mit der die Diktatur verdrängt und ein kollektives Schuldeingeständnis abgewehrt wurden. Die Zerstörungen von Museumssammlungen durch die Einziehung von mehr als 20’000 Werken in der sogenannten Aktion »Entartete Kunst« von 1937, durch den Krieg und die Beutenahme der Alliierten trugen dazu bei, dass das Engagement für den physischen Erhalt von Kunstwerken im Nachhinein glaubwürdig eine Opposition gegen den Nationalsozialismus zu begründen vermochte. Mit der Rehabilitierung des als »entartet« diffamierten Expressionismus setzte sich in den Nachkriegsjahren die Sichtweise durch, die Verfolgung der Avantgarden habe im Zentrum nationalsozialistischer Kunstpolitik gestanden. Das Narrativ der Rettung von Kunstwerken diente, je nach Bedarf, der normativen Abgrenzung vom Nationalsozialismus und ab 1949 von der Periode alliierter Fremdbestimmung. Parallel zu dem besonders von den Amerikanern und Briten verfolgten Kurs der reeducation und reorientation wurde ab 1945 ein Kanon deutscher Kunst eingeübt, die im Zeitraum von 1905 bis Anfang der dreißiger Jahre entstanden war. Diese um jüdische und sozialistische Künstler und ihre Werke bereinigte »klassische Moderne« hatte sich spätestens mit der ersten documenta 1955 in Kassel international durchgesetzt.5 Insbesondere durch Ausstellungen im Ausland, wie etwa die Biennalen...