Buch, Deutsch, 230 Seiten, PB, Format (B × H): 145 mm x 210 mm, Gewicht: 350 g
Ethische und ästhetische Dimensionen der Folter
Buch, Deutsch, 230 Seiten, PB, Format (B × H): 145 mm x 210 mm, Gewicht: 350 g
ISBN: 978-3-935404-23-5
Verlag: DenkMal-Verlag
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
Inhalt
Volker C. Dörr, Jürgen Nelles, Hans-Joachim Pieper
Einleitung 7
Hans-Joachim Pieper
Die Wahrheit ans Licht! Philosophische Aspekte des
Folterproblems 13
Mathias Schmoeckel
Vom Wert einer Geschichtsschreibung zur Folter 35
Wolfgang Schild
Folter: Vom Rechtsinstitut zum Unrechtsakt 53
Konrad Schüttauf
Grausamkeit – eine anthropologische Konstante? 85
Helmut C. Jacobs
Goyas Darstellungen der Folter 101
Volker C. Dörr
Constantia – (Mit-)Leiden – Erhabenheit
Martyrien im deutschen Drama des 17.
und 18. Jahrhunderts 147
Jürgen Nelles
Das Ende der Folter und der Anfang der Kriminalgeschichte 177
Christian Moser
Anatomie der Folter
Zur Darstellung des gepeinigten Leibes
in den Texten W. G. Sebalds 207
Die Autoren
Volker C. Dörr / Jürgen Nelles / Hans-Joachim Pieper
Einleitung
Zahlreiche Staatsverfassungen und internationale Abkommen formulieren
eine dezidierte Ächtung der Folter. Allerdings vermitteln Meldungen
in Funk und Fernsehen, in Zeitungen und Zeitschriften oder
im Internet ein ganz anderes Bild: In den letzten Jahren erlangten
etwa die angebliche Aufforderung des ehemaligen stellvertretenden
Frankfurter Polizeipräsidenten zur Gewaltanwendung während einer
Vernehmung – im Entführungsfall des Bankierssohnes Jakob von
Metzler im Jahre 2002 – ebenso traurige Berühmtheit wie die Aufsehen
erregenden Fotos und Nachrichten aus den amerikanischen Gefangenenlagern
Abu Ghraib und Guantánamo.
Der vorliegende Band, der Vorträge einer im Wintersemester 2007/
2008 an der Bonner Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität veranstalteten
Ringvorlesung enthält, versucht die über solche aktuellen
Schlagzeilen hinausreichenden historischen und systematischen Dimensionen
des offenbar seit Menschengedenken unausrottbaren Phänomens
der Folter aus verschiedenen Perspektiven und in interdisziplinären
Zugriffen zu erschließen. Philosophische und rechtswissenschaftliche
Aspekte kommen ebenso zur Sprache wie sozialpsychologische
und gesellschaftspolitische; die Behandlung von Marter und
Martyrium in Literatur und Bildender Kunst dokumentiert das breite
Spektrum dieses überzeitlichen Phänomens, das sich auf verhängnisvolle
Art und Weise durch die Zivilisationsgeschichte von den Anfängen
bis in die Gegenwart zieht.
Folter gilt als ein Politikum, da sie seit jeher der Erzwingung von Informationen
ebenso dient wie der Verbreitung von Angst und Schrecken
zum Zwecke der Machtergreifung oder der Machterhaltung in
verschiedenen politischen Systemen. Dass dabei die unterschiedlichsten
Legitimationsversuche zur Sprache kommen, zeugt – vor dem
Hintergrund sich wandelnder historischer Kontexte – sowohl von
dem anhaltenden Interesse der Mächtigen an einem ‚funktionierenden‘
Unterdrückungssystem als auch von dem Bestreben derjenigen,
die auf Seiten der Ohnmächtigen und Unterdrückten stehen, dieses
Phänomen argumentativ zu bekämpfen und es zu beseitigen. Wie
schwierig sich dieses Unterfangen im Laufe der Jahrhunderte gestaltet
hat, verraten nicht nur künstlerische Bilder und literarische Werke;
auch die Lektüre politischer und juristischer Schriften, historischer
Dokumente und Zeugnisse fördert Argumentationsstrategien zu Tage,
deren Logik oft nur schwer oder gar nicht mehr nachzuvollziehen ist.
So wurde und wird beispielsweise die politische Inquisition nicht selten
durch ideologische oder religiöse Mächte legitimiert und motiviert:
Um die eigene Überzeugung derjenigen Andersgläubiger entgegenzusetzen
und jene gegen diese durchzusetzen, scheint beinahe jedes
Mittel recht, das die jeweils eigene Position stabilisiert und die realer
oder potenzieller Kontrahenten desavouiert und destruiert. Erwähnenswert
ist in diesem Zusammenhang ebenfalls, dass einige Religionen
oder religiöse Sekten ganz andere Beziehungen zur Folter oder
Marter haben, indem sie etwa eine Kasteiung des eigenen Körpers –
und mitunter auch den anderer – propagieren, da sie (sich) dadurch
eine Reinigung von Geist und Seele versprechen.
Auch in der Rechtsgeschichte spielten und spielen religiöse Vorstellungen
mitunter eine bedeutende Rolle, vor allem aufgrund der Überzeugung,
dass es sich bei der irdischen Gerichtsbarkeit nicht um die
letzte Rechtsinstanz handelt. Die Folter stellte – nicht nur in zahlreichen
Hexenprozessen – bis zum 19. Jahrhundert das wichtigste
Mittel der Beweiserhebung dar, an deren Ende das Geständnis der
Angeklagten stehen sollte. Auch in weltlichen Strafverfahren bildeten
in der Regel die Geständnisse der Beklagten die Voraussetzungen zu
deren Verurteilung.
Der Philosophie schließlich kommt die über Politik und Rechtsprechung
hinausgehende Aufgabe zu, darüber zu reflektieren, ob die
Anwendung von Folter prinzipiell oder zumindest in bestimmten Ausnahmesituationen
erlaubt sei oder gar erlaubt sein müsse oder ob
Gewaltanwendung als Mittel der Wahrheitsermittlung oder zur Vermeidung
eines befürchteten Unrechts grundsätzlich zu verbieten sei.
Wenn es etwa darum geht, einen terroristischen Anschlag zu verhindern
oder Menschen aus der Gewalt von Entführern zu retten, rücken
Fragen nach der Würde des Menschen und Rechte wie Pflichten der
Gesellschaft ins Zentrum philosophischer Überlegungen.
Die angedeuteten Dimensionen von Marter und Martyrium werden
jedoch nicht nur in wissenschaftlichen Abhandlungen thematisiert,
sondern fanden und finden ebenfalls in künstlerischen Werken ihren
meistens beunruhigenden Ausdruck. Aus diesem ästhetischen Aspekt
der Folter ergeben sich sowohl moralische als auch medientheoretische
Fragen. Denn Folter kommt nicht erst ins Spiel, wenn es sich um
künstlerische Gestaltungen im engeren Sinne handelt, indem Autorinnen
und Autoren in ihren Erzählungen und Romanen Gewaltexzesse
obsessiv beschreiben – von de Sades „Les cent-vingt jours de Sodome“
(1782) über Kafkas „In der Strafkolonie“ (1919), Pauline Réages
„Histoire d’O“ (1954) bis hin zu „A Clockwork Orange“ (1962) von
Anthony Burgess und „Waiting for the Barbarians“ von J. M. Coetzee
(1980). Bereits in dokumentierenden Formen kann die Darstellung
des Folteraktes auch Entsetzen und Faszination erwecken. Gerade diese
Spannung schlägt sich in zahlreichen Kunstwerken von der Antike
bis zur Gegenwart nieder. Kunsthistorische und literaturwissenschaftliche
Analysen zeigen exemplarisch, wie Literaten und bildende
Künstler das Bild vom quälenden und gequälten Menschen gezeichnet
haben – eine Gratwanderung zwischen Dokumentation, Expression
und Voyeurismus, deren Grenzen immer wieder neu zu bestimmen
sind.
Der vorliegende Band beschäftigt sich mit einigen der genannten
Aspekte, ohne den Anspruch zu erheben, das gesamte Spektrum des
Angedeuteten oder Erwähnten auszuloten oder gar erschöpfend abzuhandeln.
Die mitunter der Vortragsform verpflichteten Aufsätze wollen
vielmehr Anregungen bieten und die Aufmerksamkeit auf Gesichtspunkte
lenken, die in den Diskussionen um Folter und die
Möglichkeiten ihrer nachhaltigen Ächtung bisher zu wenig oder gar
keine Beachtung gefunden haben.
Der einleitende Beitrag von Hans-Joachim Pieper, „Die Wahrheit ans
Licht! Philosophische Aspekte des Folterproblems“, stellt aus philosophischer
Sicht die Grundprobleme im Umgang mit Folter heraus.
Er zeigt auf, dass Wesen und Bedeutung der Folter entscheidend davon
bestimmt werden, welches Menschenbild – ein materialistisches
oder idealistisches – man zugrundelegt. Im Anschluss daran diskutiert
er die Frage, ob Folter in Ausnahmefällen (Stichwort: „Rettungsfolter“)
gerechtfertigt sei oder ob philosophisch ein absolutes Folterverbot
begründet werden könne. Das Ergebnis dieser auf der Grundlage
der moralphilosophischen Konzeptionen Kants und Fichtes
geführten Diskussion lautet: Folter ist zwar moralisch strikt zu verurteilen,
zur Begründung eines absoluten Folterverbots müssen jedoch
auch historische und politische Argumente berücksichtigt werden.
In „Vom Wert einer Geschichtsschreibung zur Folter“ führt Mathias
Schmoeckel aus, dass vieles von unserem heutigen Rechtsstaat brüchig
und morsch ist, nicht weil es schlecht wäre – alles ist immer verbesserungsfähig
–, sondern weil die tragenden Überzeugungen und Wertungen
nicht mehr in der Gesellschaft verbreitet sind. Der Wert der
Freiheit ist selbstverständlich geworden und scheint vielen vernachlässigenswert.
Die Bedrohung des Terrorismus weckt die irrige Meinung,
der Staat befinde sich vor einer neuen Herausforderung, die
neue Maßnahmen erfordere. Wenn man in diesem Zusammenhang
nicht mehr vor Augen hat, aus welchen Gründen die Folter abgeschafft
wurde, erscheint sie erneut als notwendiges Mittel des Staates
im Krieg gegen seine Feinde. Allerdings vergisst man über dieser
Schlussfolgerung, dass die europäische Gesellschaft spätestens seit dem
Ende des 18. Jahrhunderts davon überzeugt ist, dass der Staat dem
Menschen dienen muss und das Wohl des Individuums Priorität
genießt.
Wolfgang Schild hebt in seinem Beitrag „Vom Rechtsinstitut zum
Unrechtsakt“ zunächst hervor, dass die Folter heute in den offiziellen
rechtlichen Texten (Gesetzen, Internationalen Verträgen usw.) und in
der Wissenschaft als staatliches Unrecht bewertet wird. Demgegenüber
zeigt ein Blick in die Vergangenheit, dass von der Frühen Neuzeit
bis in die erste Hälfte des 18. Jahrhunderts Folter als Rechtsinstitut
gesetzlich geregelt, im Rechtsunterricht gelehrt und öffentlich
anerkannt war. Schild versucht, die Gründe für diese frühere Bewertung
verständlich zu machen und die Entwicklung vom Recht zum
Unrecht nachzuzeichnen.
Die Frage „Grausamkeit – eine anthropologische Konstante?“ stellt
Konrad Schüttauf. Und warum scheint die Folter trotz weltweiter
Ächtung unausrottbar? Gibt es so etwas wie einen Trieb zum Quälen
oder vielleicht sogar zum Gequält-Werden? Der Beantwortung dieser
und anderer Fragen nähert sich der Verfasser zunächst anhand der
Diskussion von zwei berühmten sozialpsychologischen Experimenten
(denen von Milgram und Zimbardo), bevor er die Position der klassischen
Psychoanalyse erörtert. Diese glaubt, die Wurzel von Grausamkeit
in der Sphäre des „Anal-Sadistischen“ entdeckt zu haben und
die nie ganz auszuschließende Gefahr, gewalttätig zu sein oder zu werden,
in der individuellen oder kollektiven Regression in Sphären des
Archaisch-Infantilen erblicken zu können.
Bevor Helmut C. Jacobs „Goyas Darstellungen der Folter“ beschreibt,
skizziert er, wie Cesare Beccarias „Dei delitti e delle pene“ („Von den
Verbrechen und den Strafen“; 1764) eine heftig und kontrovers
geführte Diskussion über Folter, Todesstrafe und die damit verbundenen
Fragen einer praktischen Strafrechtsreform auslöste. Diese Auseinandersetzung
setzte unmittelbar nach dem Erscheinen der Abhandlung ein
und dauerte bis zur offiziellen Abschaffung der Folter in Spanien 1814
an. Erst vor diesem Hintergrund ist Goyas künstlerische Beschäftigung
mit dem Themenbereich Folter, Todesstrafe und Inquisition verständlich.
Denn Goya hat nicht nur seine erste eigenständige Druckgraphik
„El agarrotado“ diesem Thema gewidmet, er greift es immer wieder auf,
und zwar sowohl in den veröffentlichten Kabinettbildern und den
„Caprichos“ als auch in den zu seinen Lebzeiten nicht gedruckten berühmten
„Desastres de la Guerra“, deren exemplarische Untersuchung
insbesondere zeigt, dass Goya bei seiner Darstellung von Kriegsfolterungen
auf antike Mythen (z.B. von Marsyas) und Bildvorlagen der Renaissance
zurückgreift, die klassizistischen Modelle originell reaktualisiert
und seinen eigenen ästhetischen Anschauungen anpasst. Im Anschluss an
die Musterung von drei bekannten Folteropfern (Galileo Galileis als
Repräsentant der Wissenschaften, des Renaissance-Künstlers Pietro
Torrigiano und des Arztes Diego Mateo Zapata) beschäftigt sich Jacobs
mit zwei Zeichnungen Goyas, die erkennen lassen, dass dieser die
zu seiner Zeit propagierten Vorzüge der neuen, angeblich humanen
Hinrichtungsform durch die Guillotine in ihrer Absurdität dekuvriert.
Ausgehend von der Beobachtung, dass in Schillers „Maria Stuart“ die
Hinrichtung der Titelfigur in auffälliger Weise nicht gezeigt wird, setzt
Volker C. Dörrs Beitrag „Constantia – (Mit-)Leiden – Erhabenheit.
Martyrien im deutschen Drama des 17. und 18. Jahrhunderts“ jenes
klassische Trauerspiel in Beziehung zum barocken Märtyrerdrama.
Dabei wird Schillers Begriff des „Pathetischerhabenen“ als eine (implizit)
gegen Lessing gerichtete Säkularisierung der constantia gedeutet.
Ein kontrastiver Blick auf Heinrich Wilhelm von Gerstenbergs Tragödie
„Ugolino“ zeigt die Fragilität der Konstruktion einer sich selbst
begründenden (praktischen) Vernunft, die nun – anstelle des Erlösungsglaubens
– ermöglichen soll, sich über das körperliche Leiden zu
erheben.
„Das Ende der Folter und der Anfang der Kriminalgeschichte“ stehen
im Mittelpunkt eines bisher in der Forschung zu wenig beachteten
Verhältnisses, das Jürgen Nelles anhand einiger prominenter Erzähltexte
exemplarisch analysiert. Wenn man einen Blick auf die Entwicklungsgeschichte
der Folter und der Kriminalliteratur wirft, scheint sich
zunächst eine fast gegenläufige Bewegung abzuzeichnen. Denn die
Geschichte der Folter – als staatlich legitimiertes Instrument der
Strafverfolgung und Wahrheitsermittlung – endet in der Epoche, in
der die Geschichte der Kriminalliteratur ihren Anfang nimmt: am
Ausgang des 18. Jahrhunderts. Inwieweit diese Geschichtsverläufe
miteinander in Beziehung stehen, voneinander abhängen oder sich
unabhängig voneinander vollziehen, lassen sowohl außerliterarische
Gegebenheiten erkennen als auch literarische Werke, die epochale
Einschnitte markieren oder solche dokumentieren. In frühen Kriminalgeschichten,
etwa in Heinrich von Kleists „Der Zweikampf“, Friedrich
Schillers „Der Verbrecher aus verlorener Ehre“, Annette von
Droste-Hülshoffs „Die Judenbuche“ und auch noch in Theodor Fontanes
„Unterm Birnbaum“, kommen zum einen die seit Jahrhunderten
sich abzeichnenden Widerstände gegen die staatlich legitimierte
Gewaltanwendung zum Ausdruck und zum anderen der vernunftgeleitete
Glaube daran, dass Verbrechen auch ohne Foltermethoden
entdeckt und aufgeklärt sowie Verbrecher überführt werden können.
Nachdem das Ende der Folter als Praxis der Aufklärung von Verbrechen
besiegelt ist, nehmen Detektive in Literatur und Wirklichkeit
ihre Ermittlungen auf.
In „Anatomie der Folter. Zur Darstellung des gepeinigten Leibes in
den Texten W. G. Sebalds“ untersucht Christian Moser die literarischen
Verfahrensweisen, die der Autor in seinen Texten anwendet,
um den gefolterten Körper zu repräsentieren. Die Folter gilt dem
Schriftsteller als ein Paradigma für die Frage nach der Darstellbarkeit
menschlichen Leids im Medium der Sprache und des Bildes. Der
gepeinigte Leib wird von ihm zwar immer wieder evoziert, konkrete
Szenarien der Folterung begegnen jedoch eher selten. Die Peinigung
des Körpers gelangt vielmehr indirekt – im Medium des toten oder
animalischen Körpers – zur Darstellung. Diese Diskretion ist nicht
(allein) in der Scham gegenüber den Opfern begründet, sondern ist
Teil einer ästhetischen Wirkungsstrategie, die darauf abzielt, die Vorzensur,
der die traumatischen Erinnerungen im individuellen und
kollektiven Gedächtnis unterliegen, zu umgehen.