Djerassi Vier Juden auf dem Parnass
1. Auflage 2013
ISBN: 978-3-7099-7502-2
Verlag: Haymon Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 212 Seiten
ISBN: 978-3-7099-7502-2
Verlag: Haymon Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Die Philosophen Theodor W. Adorno und Walter Benjamin, der Religionshistoriker Gershom Scholem, der Komponist Arnold Schönberg: vier große jüdische Denker des 20. Jahrhunderts, vier Wege jüdischen Selbstverständnisses und vier Lebensgeschichten durch die Abgründe des 20. Jahrhunderts, in denen sich als fünfter Weg auch die Biografie von Carl Djerassi selbst spiegelt.
Djerassi lässt diese vier Männer in Dialogen unmittelbar zu Wort kommen. So führt er die Leser ein in ihre Gedankengebäude und lotet aus, welche Bandbreite die Bedeutung des Wortes "Jude", in Hinblick auf Herkunft wie auf Religion oder Politik, abdecken kann. Zugleich erlaubt Djerassi auf der Basis fundierter Recherche aber auch völlig neue Einblicke in die privaten Lebensbereiche von Benjamin, Adorno, Scholem und Schönberg und lässt sie über Freundschaften und Frauenbeziehungen, über Sexualität und Pornographie erzählen.
Ein wichtiges Thema ihrer Gespräche ist auch Paul Klee, der als Prototypus des "nicht-jüdischen Juden" und insbesondere über sein 1920 geschaffenes Werk "Angelus Novus", mit dem Adorno und Benjamin sich intensiv beschäftigten, präsent ist.
Die Auseinandersetzung mit Paul Klee durchzieht auch die Fotokunstwerke, die Gabriele Seethaler für diesen Band geschaffen hat und die Djerassis in gedanklicher Schärfe funkelnden Text begleiten und ergänzen.
Aus dem Amerikanischen von Ursula-Maria Mössner.
Gabriele Seethaler, geboren 1964 in Linz. Biochemikerin und Fotokünstlerin an den Übergängen zwischen Kunst und Wissenschaft. Ausstellungen u.a. in Rom, Paris, Mailand, Brüssel, New York, Berlin und Wien.
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
2. VIER EHEFRAUEN
Wie Adorno im abschließenden Satz der ersten Szene andeutet, interessieren sich Leser, die sich für berühmte Männer interessieren, unweigerlich für deren Privatleben. Der Briefwechsel von Adorno, Benjamin und Scholem untereinander oder mit Freunden, gelegentlich auch mit Eltern oder Geliebten, wurde bereits in vielen Bänden veröffentlicht. Im Falle von Schönberg sind über 20.000 Briefe in mehreren Sammlungen erhalten. Aber wo ist der Briefwechsel zwischen den jeweiligen Männern und ihren Ehefrauen? Es ist ja nicht so, als ob die Ehefrauen nicht korrespondiert hätten; die meisten waren leidenschaftliche Briefschreiberinnen. Heißt das, dass ihre Briefe aus purer Nachlässigkeit nicht aufbewahrt wurden? Zerstört wurden, weil sie peinlich waren? Oder aber in Archiven versteckt sind? Besonders rätselhaft ist in dieser Hinsicht der Briefwechsel zwischen Benjamin und Scholem. Sie korrespondierten über zwanzig Jahre miteinander, in denen sie einen sehr persönlichen und intellektuell herausfordernden Briefwechsel führten, der sorgfältig aufbewahrt und später faktisch in vollem Umfang veröffentlicht wurde; dennoch findet sich darin so gut wie nichts über ihre Ehefrauen. War dieses Thema zu intim? Oder hielten sie es angesichts der gewichtigen Fragen, die sie in ihren Briefen erörterten, schlicht für nebensächlich? Die schiere Länge der Briefe ist praktisch unvorstellbar in der heutigen Welt der knappen E-Mails oder nicht aufgezeichneten Handy-Gespräche, wobei noch hinzu kommt, dass Benjamin gelegentlich nicht einmal Zugang zu einem Telefon hatte. Ein ähnlich erstaunlicher Schriftwechsel ist der zwischen Adorno und Benjamin, der sich über acht Jahre erstreckt. In einem Fall belaufen sich allein zwei Briefe von Adorno an Benjamin auf circa 50 Seiten mit einfachem Zeilenabstand – genug für eine bescheidene Diplomarbeit, inhaltlich aber tiefschürfender als so manche Dissertation. Und doch waren alle vier Ehefrauen kultivierte und tatkräftige Frauen, sehr gebildet und mit der intellektuellen Sphäre des jeweiligen Ehemannes vertraut. Bis auf eine (Mathilde Schönberg) trug jede zur kreativen Arbeit ihres Mannes bei. Trotz ihres beachtlichen intellektuellen und emotionalen Beitrags finden die Ehefrauen in der umfangreichen biografischen und autobiografischen Literatur dieser vier intellektuellen Giganten nur minimale Erwähnung. In Anbetracht der fast unglaublich detaillierten Einzelheiten aus Benjamins Leben, die dokumentiert sind, ist aus seiner eigenen Feder beispielsweise relativ wenig über seine Frau Dora Sophie bekannt. Tatsächlich sind, nach Benjamins Selbstmord im Alter von 48 Jahren, ihre weiteren 24 Jahre in London in Dunkel gehüllt. Wer war Dora Sophie Benjamin? Dora Sophie (zur Unterscheidung von Benjamins Schwester Dora Benjamin) wurde 1890 als Tochter des jüdischen Englischprofessors Leon Kellner in Wien geboren. Das häusliche Umfeld stattete sie mit Englischkenntnissen aus, die ihr später gute Dienste leisteten, und schon in jungen Jahren entwickelte sie eine Vorliebe für die Musik. (Benjamin dagegen verfügte nur über elementare Englischkenntnisse und verstand so gut wie nichts von Musik.) Mit 21 Jahren heiratete sie den wohlhabenden Journalisten und philosophischen Pädagogen Max Pollack, der bei Ausbruch des Ersten Weltkrieges zu Benjamins Berliner Kreis gehörte. Dora Sophie Pollack war von der Antrittsrede des 22-jährigen Walter Benjamin als Vorsitzender der Freien Studentenschaft so begeistert, dass sie ihm Rosen überreichte. Ein Jahr später verreisten sie bereits zusammen, und nach ihrer Scheidung von Max Pollack heirateten sie 1917. Während ihrer Ehe sorgte größtenteils Dora Sophie für den Lebensunterhalt, erst als Fremdsprachensekretärin, danach als Journalistin, später als Redakteurin der Zeitschrift Die Praktische Berlinerin und schließlich als Romanautorin; ihr Roman Gas gegen Gas erschien 1930. Ihr einziger Sohn Stefan wurde 1918 geboren, als Benjamin in Bern promovierte, zu einer Zeit, in der Dora Sophie auch Scholem und dessen zukünftige Frau Escha sowie deren zweiten Mann, Hugo Bergman, kennen lernte – Personen, denen der Leser in Kürze begegnen wird. Wie Dora Sophie in einem Brief an Scholem schrieb, wollte sie einen Partner, der ihrem Leben einen Sinn gab, während Walter jemanden brauchte, der ihn vor dem Selbstmord schützte. Keines der beiden Motive konnte die konfliktreiche Ehe retten, die 1930 endete. Die Gerichtsakten des Scheidungsverfahrens präsentieren ein schmutziges Melodram voller Seitensprünge und Streitereien um Geld. Nach Hitlers Machtergreifung zog Dora Sophie Benjamin nach Italien, wo sie zunächst Köchin und später die Besitzerin des Hotel Miramare in San Remo war. Bei mehreren Gelegenheiten bot sie ihrem mittellosen früheren Ehemann Zuflucht in ihrem Hotel. 1938 ging sie mit einem südafrikanischen Geschäftsmann eine Vernunftehe ein, die ihr erlaubte, 1938 mit ihrem Sohn Stefan nach London zu ziehen, wo sie 1964 starb. Zwei weitere Punkte verdienen es, erwähnt zu werden. Gerüchte, Anspielungen und sogar dokumentarische Beweise lassen darauf schließen, dass Dora Sophie sowohl Scholem als auch Adorno nicht leiden konnte, vielleicht sogar verabscheute. (Interessanterweise hegte Scholems zweite Frau, Fania, ähnlich negative Gefühle in Bezug auf Benjamin: Wie sie 1987 in einem Interview mit der israelischen Tageszeitung Ha’aretz sagte, hielt sie Benjamin für unehrlich und selbstsüchtig, da er nie etwas getan hätte, um Scholem zu helfen, wenn Scholem in Not gewesen wäre. Aber sie räumte ein, dass Scholem Benjamin aufrichtig geliebt habe, vermutlich mehr als jeden anderen Menschen auf der Welt.) Relevanter für spätere Teile meines Buches ist, dass Stefan Benjamin, der im Alter von 54 Jahren in London starb, ohne jegliche jüdische Erziehung aufwuchs. Seine dritte Frau war eine chinesische Buddhistin, und keine der beiden Töchter aus dieser Ehe hatte jemals eine Synagoge betreten. Biografische Details dieser Art hätte Dora Sophie Benjamin bei ihrem postumen Besuch auf dem Parnass gewiss nicht angeschnitten. Wahrscheinlichere Themen wären vermutlich ihr Groll wegen des beiderseitigen früheren Ehebruchs und Fragen über den Verbleib eines Bildes gewesen, das sie Benjamin 1920 zum Geburtstag geschenkt hatte: ein Aquarell von Paul Klee mit dem Titel Vorführung des Wunders. Ein weiteres Werk von Paul Klee, Angelus Novus, das Benjamin im Jahr darauf erwarb, spielte eine so wichtige emotionale und intellektuelle Rolle in seinem Leben – und später in dem von Adorno und Scholem –, dass es quasi zu Benjamins Logo wurde. Warum haben Benjamin oder seine Freunde nie etwas über die Vorführung des Wunders geschrieben? Es befindet sich heute in der ständigen Sammlung des Museum of Modern Art in New York. Aber wie kam es dort hin? Die Antwort auf diese bislang ungeklärte Frage bezüglich der Provenienz gibt der folgende Dialog. Walter Benjamin sitzt auf einem Hocker, den Kopf in den Händen. Dora Sophie Benjamin, seine frühere Frau, kommt auf ihn zu. Sie spricht laut, fast aggressiv mit sich selbst. DORA: Natürlich habe nicht ich Walter hier herauf gebracht. Dafür hat sich auch Hannah Arendt eingesetzt … obwohl die beiden Männer glauben, es sei nur ihnen zu verdanken. Aber letzten Endes ist Walter wegen seines Werks hier oben … und da komme ich ins Spiel. Wer sorgte denn dafür, dass er nicht den Verstand verlor, als er sich der Einberufung entzog und zum Studium nach Bern ging? Wer sorgte für Essen und Unterkunft während der frühen Jahre seines rastlosen Herumwanderns … sowohl geistig als auch körperlich. Aber es muss einen Schlussstrich geben. WALTER: (blickt bestürzt auf) Dora! DORA: (aggressiv) Ich hätte dich nie heiraten dürfen! WALTER: (müde) Es war so bestimmt. Aber wie kommst du hierher … und warum jetzt, nach so vielen Jahren? DORA: Sagen wir, mit einem Touristenvisum für den Parnass … um einige offene Fragen zu klären. WALTER: Touristenvisa für den Parnass? Ausgeschlossen. DORA: Dann eben ein Arbeitsvisum. WALTER: Lass den Unsinn. Kein Wunder, dass manche Freunde dich eine „Sprechmaschine“ nannten. DORA: Das waren deine Freunde … und meine Feinde. Aber da bin ich. Man muss eben Beziehungen haben, sogar auf dem Parnass. WALTER: Und die hast du? DORA: Einer deiner Freunde half mir. WALTER: Welcher? DORA: Da kommt er. (Auftritt Scholem) SCHOLEM: (zu Dora) Du hast es also doch geschafft? Ich dachte schon, du würdest dich anders besinnen. WALTER: (zu Scholem) Und warum bist du hier? DORA: Ich wollte einen Zeugen dabeihaben. WALTER: Der zugegen war? Bei früheren Ereignissen? Ich nehme an, dass wir beide uns auch ohne Gerhards Hilfe an die Fakten erinnern. DORA: An die Fakten? Vielleicht. Aber...