Dicle | Ein Leben im Kampf für die Rechte der kurdischen Bevölkerung | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 206 Seiten

Dicle Ein Leben im Kampf für die Rechte der kurdischen Bevölkerung

Eine Autobiografie
1. Auflage 2023
ISBN: 978-3-98791-027-2
Verlag: Westend Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Eine Autobiografie

E-Book, Deutsch, 206 Seiten

ISBN: 978-3-98791-027-2
Verlag: Westend Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Wenn man das über Hatip Dicle schreibt, dann ist es gewiss keine Übertreibung. Er ist einer der prominentesten kurdischen Politiker der Türkei und kämpft seit seiner Jugend unermüdlich für die Selbstbestimmung der kurdischen Bevölkerung und gegen die diskriminierende Unterdrückung, die der türkische Staat seit über 100 Jahren gegen die Kurd*innen ausübt. Über fünfzehn Jahre verbrachte Dicle deswegen im Gefängnis. Aber auch diese Haftstrafen hielten ihn nicht davon ab, sich für die demokratische Selbstorganisation der kurdischen Bevölkerung einzusetzen und seinen Überzeugungen treu zu bleiben. Mit der Verschlechterung des politischen Klimas in der Türkei musste er 2016 schlussendlich sogar seine Heimat verlassen und ins Exil gehen. Seitdem setzt er seinen Kampf von Deutschland aus fort. Dicle und seine Mitstreiter*innen haben bei allen Repressalien, Anfeindungen, Diffamierungen und nicht zuletzt auch tätlichen Angriffen nie den Glauben an eine friedliche und diplomatische Auseinandersetzung verloren und bringen sich auch weiterhin demokratisch ein.

Hatip Dicle wurde 1954 in Amed (Diyarbakýr) geboren. Schon während des Studiums engagierte er sich politisch und lernte den türkischen Staat so schnell von seiner repressiven Seite kennen. Als Abgeordneter der Arbeitspartei des Volkes zog Dicle 1991 zum ersten Mal ins Parlament ein, wurde jedoch bereits drei Jahre später mittels fadenscheiniger Anklagepunkte verhaftet und zu fünfzehn Jahren Gefängnis verurteilt. Nach seiner vorzeitigen Freilassung im Jahr 2004 setzte Hatip Dicle seinen Kampf für die Rechte der kurdischen Bevölkerung fort, was ihm 2009 eine weitere Haftstrafe von fünf Jahren einbrachte. Doch auch diese erneute Inhaftierung brachte ihn nicht von seinem Ziel ab. Nach der Verschlechterung des politischen Klimas in der Türkei und dem 'kontrollierten Putschversuch' von 2016 gab es begründete Sorge, dass Hatip Dicle und andere führende kurdische Politiker erneut verhaftet würden, weshalb er schließlich ins Exil ging. Seitdem setzt er seinen Kampf von Deutschland aus fort.

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Kindheitsjahre und politischer Einfluss
Ich bin 1955 in Amed (Diyarbakir)1 zur Welt gekommen. Meine Eltern, Emin und Mübeccel, sind Cousin und Cousine, was damals in der kurdischen Gesellschaft nicht unüblich war. Ich bin das älteste von insgesamt fünf Geschwistern – meine Geschwister heißen Ali, Remziye, Ibrahim Halil und Sait Nuri. Meine Kindheitsjahre verbrachte ich zunächst in Sûr, der Altstadt von Amed, bevor wir wegen der Beamtenstelle meines Vaters nach Pîran (Dicle) und anschließend nach Bîsmîl (Bismil) umzogen. Unsere Familie gehört zu den Dimilkî-Sprechenden,2 die traditionell in den gebirgigen Gebieten Kurdistans beheimatet sind. Unsere Vorfahren sollen aus Bergdörfern zwischen den Orten Licê und Dara Hênê (Genç) stammen. Dass die Generation meines Großvaters am Scheich-Said-Aufstand von 1925 teilgenommen hatte, wurde uns im jungen Alter mündlich überliefert. Dieser Aufstand sei der erste Widerstandsakt gewesen, nachdem die kurdische Bevölkerung durch die türkische Verfassung von 1924 verleugnet worden sei. Die Älteren sprachen untereinander immer wieder davon, wie der türkische Staat damals unsere Dörfer niedergebrannt und unsere Vorfahren gepeinigt hatte. Wir Jüngeren bekamen diese Diskussionen eher nebenbei mit, lernten so aber schon früh unsere eigene Geschichte kennen. Auf diese Weise erfuhr ich auch, dass unser Dorf später von unseren Vorfahren wiederaufgebaut wurde. Doch während sein Bruder in das Dorf zurückkehrte, beschloss mein Großvater, sich nahe dem Stadtzentrum von Amed niederzulassen. Er wurde Vorbeter in einer der größten Moscheen der Stadt. Sein Bruder arbeitete fortan als Landarbeiter auf dem Feld eines Großgrundbesitzers. Insgesamt wuchs ich in einem stark religiös geprägten Umfeld auf. Mein Vater folgte den Lehren von Said-i Nursî3 und bereits meine Großväter galten aufgrund der islamischen Traditionslinie, der sie entstammten, als anerkannte Persönlichkeiten in der Gemeinschaft. Ich begann schon mit sieben Jahren, fünfmal am Tag zu beten, und im Monat Ramadan fastete ich. Mit 16 oder 17 Jahren wurde ich auf Empfehlung einiger älterer Gemeindemitglieder freiwilliger Vorbeter in der Behrampasa-Moschee in Amed und von Zeit zu Zeit leitete ich dort das Morgengebet. Nachdem ich 1973 meine Abiturprüfungen absolviert hatte, fing ich auf Vorschlag meines Vaters an, mich mit den religiösen Schriften Said-i Nursîs auseinanderzusetzen. Schon bald hatte ich all seine Werke sowie weitere wichtige islamische Lehrbücher gelesen. Während meine Eltern also großen Wert darauf legten, dass ich den Islam schon früh kennenlernte, war das bei einem anderen wichtigen Thema ganz anders: Obwohl sie sich untereinander in ihrer Muttersprache Kurdisch unterhielten, sprachen sie mit uns Kindern nur Türkisch, weil sie dachten, dass wir es so in unserem Alltag leichter haben würden. Die Praxis, dass Eltern ihren Kindern aufgrund des herrschenden politischen Systems nicht mehr ihre Muttersprache beibringen, ist ein Aspekt der »Autoassimilation«. Auch ich bin Opfer dieser Praxis geworden. Hierzu möchte ich zwei Anekdoten erzählen, die sich in mein Gedächtnis eingebrannt haben. © Hatip Dicle Hatip Dicle im Alter von 18 Jahren als Abiturient (1973) Zwischen meinem fünften und zehnten Lebensjahr besuchten wir regelmäßig meine Großmutter. Doch sie sprach kein Türkisch und ich kein Kurdisch, weshalb wir nicht miteinander kommunizieren konnten. Ich weiß noch genau, dass mich dieser Umstand bereits im Kindesalter sehr beschäftigte. Natürlich konnte ich damals noch nicht begreifen, warum das so war. Bis zu ihrem Tod habe ich nicht mit ihr sprechen können. Das muss sie sehr traurig gemacht haben. Bei mir hinterließ es jedenfalls eine schmerzhafte Lücke. Die zweite Anekdote: Als ich in Pîran zur Grundschule ging, wollte unser Lehrer herausfinden, wer von den Kindern außerhalb des Klassenzimmers Dimilkî sprach. Er hatte sogar zwei Kinder als Spitzel bestimmt, die ihm darüber Bericht erstatten sollten. Es war strikt verboten, die kurdische Sprache zu benutzen, und alle, die sich diesem Verbot widersetzten, mussten einen Tag lang im Klassenzimmer auf einem Bein stehen. Wiederholte sich das Vergehen, erhielten sie Prügelstrafen. Natürlich verstand ich auch hier die Hintergründe nicht. Aber diese grausamen Szenen konnte ich nicht mehr vergessen. Jahre später sollte ich begreifen, dass diese Praxis Teil des Sark-Islahat-Plans war, der nach dem Aufstand von Scheich Said im Jahr 1925 durch die türkische Regierung erlassen worden war. Mit diesem »Reformplan« sollte die kurdische Frage in der noch jungen türkischen Republik »gelöst« werden, unter anderem durch eine strenge Assimilationspolitik. Zu den Maßnahmen gehörte beispielsweise das Erteilen von Geldbußen für den öffentlichen Gebrauch der kurdischen Sprache. Zudem wurde ein Teil der kurdischen Bevölkerung aus ihren heimischen Gebieten vertrieben und man siedelte dort wiederum türkischstämmige Familien an. So wurde die demografische Zusammensetzung Nordkurdistans verändert. Zwar sind mittlerweile knapp hundert Jahre seit dem Erlass des Sark-Islahat-Plans vergangen, doch der türkische Staat hält auch heute noch an dessen Grundsätzen fest. In meinen späteren Jugendjahren bemühte ich mich, das Erlernen meiner Muttersprache nachzuholen, bis ich mich schließlich einigermaßen auf Kurdisch ausdrücken konnte. Leider lebte meine Großmutter nicht lang genug, um das mitzuerleben. Später machte ich meinen Vater dafür verantwortlich, mir die kurdische Sprache nicht beigebracht zu haben. Da meine Mutter im Stadtzentrum von Amed aufgewachsen war, konnte sie nicht besonders gut Kurdisch sprechen. Spätestens als mein Vater selbst vom kurdischen Freiheitskampf beeinflusst worden war, erkannte er seinen Fehler. Ich habe ihn stets sehr respektiert, doch dies verletzte mich derart, dass ich mich bis zu seinem Tod am 31. Oktober 2009 weigerte, mit ihm Kurdisch zu sprechen. Selbst als er mir auf Kurdisch Fragen stellte, antwortete ich auf Türkisch. Ich spürte zwar, dass mein stures Verhalten nicht richtig war. Schließlich war nicht mein Vater das Problem, sondern der türkische Staat, der ihn dazu gebracht hatte, seinen Kindern die kurdische Sprache vorzuenthalten. Aber dass mein Vater und seine Generation bei dieser Frage nicht mehr Widerstand geleistet hatten, dass sie nicht auf ihrer Identität und ihrer Sprache beharrt hatten, konnte aus meiner Sicht einfach nicht entschuldigt werden. Meine persönliche Geschichte gibt lediglich einen kleinen Ausschnitt davon wieder, welch erschreckende Auswirkungen die Verbotspolitik der Türkei auf die kurdische Bevölkerung hatte und immer noch hat. Ich glaube, ohne dass in der Türkei eine Empathie für die Lage der Kurd*innen entsteht, kann es bei der Lösung der kurdischen Frage keinen Schritt vorangehen. In meiner Kindheit gab es noch mehrere Ereignisse, die mein weiteres Leben maßgeblich beeinflussen sollten. Im Jahr 1967 ging ich in die letzte Klasse der Grundschule in Bîsmîl. Wenige Wochen vor dem Abschluss rief unser Klassenlehrer uns einzeln auf und fragte, was wir nach der Grundschule tun würden. Ich war damals der Klassenbeste und als ich an der Reihe war, antwortete ich, dass ich auf eine Imam-Hatip-Schule4 gehen würde. Mein Lehrer reagierte nicht direkt darauf, rief mich aber in der Schulpause zu sich. Er fragte, warum ich auf eine solche Schule gehen wolle. Dies sei die Idee meines Vaters, antwortete ich. Noch am selben Abend besuchte uns mein Lehrer zu Hause, um meinen Vater davon zu überzeugen, mich auf eine reguläre Schule zu schicken. Mein Lehrer – selbst turkmenisch-alevitischer Herkunft – war jedenfalls in seinem Vorhaben erfolgreich. Rückblickend kann ich sagen, dass dieses Ereignis einen wichtigen Punkt in meinem Leben darstellt: Ohne das Eingreifen meines Lehrers wäre aus mir mit großer Wahrscheinlichkeit ein Mann des Glaubens geworden. Von klein auf vermittelte mir mein Vater ein Bewusstsein für die Geschichte meines Volkes. Bis zum Jahr 1975 war es geradezu unmöglich, an schriftliche Informationen über die Geschichte Kurdistans oder zur kurdischen Frage generell zu gelangen. Wenn wir etwas zu lesen bekamen, dann im Sinne der offiziellen Geschichtsschreibung. Und diese widersprach in mehr als einem Punkt den mündlich überlieferten Erzählungen unserer Vorfahren. In dieser Hinsicht konnte ich mich glücklich schätzen, denn mein Vater verfügte über ein umfangreiches Wissen über die kurdische Geschichte, insbesondere über das, was sich in den Jahren nach der Republikgründung ereignet hatte. Meine Fragen – zum Beispiel »Wer war Scheich Said?«, »Wie kam es zum Aufstand und wie wurde er niedergeschlagen?«, »Welche Politik hat der Staat nach dem Aufstand gegen die Kurd*innen verfolgt?« – beantwortete er stets ausführlich. Auch weil sein religiöses Vorbild, Said-i Nursî, sich intensiv mit der Situation der Kurd*innen beschäftigt hatte, war es sein Anliegen, uns auch dessen Lebensgeschichte und Ideen zu vermitteln. Ich schnappte all das auf, ich küsste die Abbildungen von Said-i Nursî in den damals verbotenen Büchern, die wir zu Hause verwahrten, und nannte ihn »meinen Löwen«. Ich erinnere mich gut daran, wie mein Vater mich anwies, ihm eine Broschüre über die Kriege des Imam Ali5 vorzulesen. Er hörte leise und aufmerksam zu und mahnte mich, mir ein Beispiel an Ali zu nehmen. Auch die Erzählungen meines Vaters von seinem Militärdienst, den er zwischen 1939 und 1945 ableisten musste, kamen uns Kindern wie Geschichten aus einer anderen...



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