Dickens | Der Weihnachtsabend oder Eine Geistergeschichte zum Christfest | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 133 Seiten

Reihe: Reclams Universal-Bibliothek

Dickens Der Weihnachtsabend oder Eine Geistergeschichte zum Christfest

Reclams Universal-Bibliothek

E-Book, Deutsch, 133 Seiten

Reihe: Reclams Universal-Bibliothek

ISBN: 978-3-15-962070-1
Verlag: Reclam Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Der alte Geizkragen Ebenezer Scrooge mag Weihnachten so gar nicht. Auch in diesem Jahr würde er die Feiertage am liebsten ignorieren. Nur hat er da die Rechnung ohne drei Geister gemacht. Die nämlich suchen ihn am Weihnachtsabend freundlich heim - und stecken den reichen Geschäftsmann mit dem Zauber dieser besonderen Nacht an. Soll aus dem Griesgram am Ende noch ein Menschenfreund werden? »Der Weihnachtsabend« erscheint nun in einer modernen Neuübersetzung von Hans-Christian Oeser, die zugleich dem Geist des Originals wunderbar treu bleibt. E-Book mit Seitenzählung der gedruckten Ausgabe: Buch und E-Book können parallel benutzt werden.
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[9]Erste Strophe Marleys Geist
Marley war tot, dies gleich vorneweg. Daran besteht überhaupt kein Zweifel. Der Eintrag im Begräbnisregister war vom Geistlichen, vom Handlungsgehilfen, vom Leichenbestatter und vom Hauptleidtragenden unterschrieben worden. Ja, Scrooge hatte unterschrieben. Und Scrooges Name war ja auch auf der Börse gut für alles, was er zu unterschreiben beliebte. Der alte Marley war tot wie ein Türnagel. Wohlgemerkt, ich will nicht behaupten, aus eigener Kenntnis zu wissen, was an einem Türnagel so besonders tot sein soll. Vielleicht wäre ich geneigt, einen Sargnagel als das toteste Stück Eisenware zu betrachten, das im Handel erhältlich ist. Doch in jenem Vergleich liegt die Weisheit unserer Vorfahren; und meine unheiligen Hände sollen ihn nicht entweihen, sonst wäre es um unser Land geschehen. Sie werden mir daher erlauben, mit Nachdruck zu wiederholen: Marley war tot wie ein Türnagel. Wusste Scrooge, dass er tot war? Natürlich wusste er es. Wie könnte es auch anders sein? Scrooge und er waren Geschäftspartner gewesen, ich weiß nicht, seit wie vielen Jahren. Scrooge war sein alleiniger Testamentsvollstrecker, sein alleiniger Nachlassverwalter, sein alleiniger Rechtsnachfolger, sein alleiniger Vermächtnisnehmer, sein einziger Freund und der einzige Leidtragende. Und selbst Scrooge war von dem traurigen Vorfall nicht so erschüttert, dass er sich nicht noch am Tag der Beerdigung als ausgezeichneter Geschäftsmann erwiesen und ihn [10]feierlich mit einem zweifellos vorteilhaften Handel begangen hätte. Die Erwähnung von Marleys Beisetzung führt mich zurück zu meinem Ausgangspunkt. Es besteht kein Zweifel, dass Marley tot war. Das muss man ein für allemal begreifen, sonst hat die Geschichte, die ich erzählen werde, nichts Wunderbares an sich. Wären wir nicht vollkommen überzeugt, dass Hamlets Vater vor Beginn des Stücks gestorben ist, so wäre sein nächtlicher Spaziergang auf dem eigenen Festungswall bei Ostwind nicht bemerkenswerter, als wenn irgendein Gentleman mittleren Alters nach Einbruch der Dunkelheit unversehens an einem windigen Ort auftaucht – sagen wir, auf dem Kirchhof von St. Paul’s –, um den schwachen Verstand seines Sohnes in Staunen zu versetzen. Den Namen des alten Marley ließ Scrooge nie übermalen. Noch Jahre später stand er über der Tür des Lagerhauses: Scrooge & Marley. Die Firma war unter dem Namen Scrooge & Marley bekannt. Manchmal nannten Leute, die neu ins Geschäft kamen, Scrooge Scrooge und manchmal Marley, doch er hörte auf beide Namen. Für ihn war alles ein und dasselbe. Oh, aber er war ein rechter Geizhals, dieser Scrooge! Ein schröpfender, raffender, klaubender, scharrender, krallender habgieriger alter Sünder! Hart und scharf wie Feuerstein, aus dem noch kein Stahl ein großzügiges Feuer geschlagen hat; in sich gekehrt, abgesondert und verschlossen wie eine Auster. Die Kälte in seinem Innern hatte seine alten Gesichtszüge starr, seine spitze Nase noch spitzer, seine Wangen welk, seinen Gang steif, seine Augen rot und seine dünnen Lippen blau werden lassen – und drückte sich [11]hinterlistig in seiner raspelnden Stimme aus. Auf seinem Kopf, seinen Brauen und seinem kantigen Kinn lag eisiger Reif. Seine frostige Temperatur trug er stets mit sich herum: An den heißen Hundstagen kühlte er sein Büro damit, und zur Weihnachtszeit taute er um kein Grad auf. Äußere Hitze und Kälte hatten wenig Einfluss auf Scrooge. Keine Wärme konnte ihn erhitzen, kein Winterwetter ihn erkälten. Kein Wind, der wehte, war schneidender, kein fallender Schnee zielstrebiger als er, kein prasselnder Regen weniger offen für flehentliche Bitten. Das miserabelste Wetter wusste nicht, wo es ihn packen konnte. Die heftigsten Regen-, Schnee-, Hagel- oder Graupelschauer vermochten sich ihm gegenüber nur eines Vorzugs rühmen: Sie zeigten sich oft freigebig, Scrooge dagegen nie. Niemand hielt ihn jemals auf der Straße an, um mit freudiger Miene zu fragen: »Mein lieber Scrooge, wie geht es Ihnen? Wann kommen Sie mich einmal besuchen?« Kein Bettler flehte ihn um eine milde Gabe an, kein Kind fragte ihn nach der Uhrzeit, zeit seines Lebens hatten sich kein Mann und keine Frau bei Scrooge je nach dem Weg erkundigt. Selbst die Blindenhunde schienen ihn zu kennen; und wenn sie ihn kommen sahen, zerrten sie ihre Besitzer in Hauseingänge und Höfe, dann wedelten sie mit dem Schwanz, als wollten sie sagen: »Gar kein Augenlicht ist immer noch besser als ein böser Blick, blindes Herrchen!« Aber was kümmerte das Scrooge! Genau das gefiel ihm ja. Sich auf den überfüllten Pfaden des Lebens voranzukämpfen und sich alles menschliche Mitgefühl vom Leib zu halten, genau das war, wie die Eingeweihten es nennen, Scrooges »Fimmel«. [12]Einmal nun geschah es – von allen schönen Tagen des Jahres ausgerechnet am Weihnachtsabend –, dass der alte Scrooge geschäftig in seinem Kontor* saß. Draußen war es trostlos und bitterkalt, neblig obendrein, und er hörte, wie die Leute im Hof schnaufend auf und ab gingen, die Hände vor der Brust zusammenschlugen und mit den Füßen auf den Boden stampften, um sich zu wärmen. Die Uhren der Stadt hatten eben erst drei geschlagen, doch es war schon recht dunkel – den ganzen Tag war es nicht hell geworden –, und in den Fenstern der benachbarten Büros flackerten Kerzen wie rötliche Schlieren durch die zum Greifen dicke, braune Luft. Der Nebel strömte in jeden Spalt und jedes Schlüsselloch und war so undurchdringlich, dass die gegenüberliegenden Häuser, obschon der Hof zu den schmalsten gehörte, bloße Phantome zu sein schienen. Wenn man sah, wie die düstere Wolke sich herabsenkte und alles verfinsterte, hätte man meinen können, die Natur hause ganz in der Nähe und brüte etwas Gewaltiges aus. Die Tür von Scrooges Kontor stand offen, damit er seinen Handlungsgehilfen im Auge behalten konnte, der in einer tristen kleinen Zelle dahinter, einer Art Kabuff, Briefe abschrieb. Scrooge hatte ein sehr kleines Feuer brennen, doch das Feuer des Handlungsgehilfen war noch viel kleiner; es sah aus, als bestünde es aus einem einzigen Stück Kohle. Aber er konnte nicht nachlegen, denn Scrooge bewahrte den Kohlenkasten in seinem Zimmer auf; und so sicher, wie der Handlungsgehilfe mit der Schaufel hereinkam, drohte ihm sein Herr, ihre Wege würden sich trennen müssen. Weswegen sich der Handlungsgehilfe in seinen weißen Wollschal hüllte und versuchte, sich an der Kerze [13]zu wärmen, was ihm, da er kein Mann von großer Vorstellungskraft war, jedoch missglückte. »Frohe Weihnachten, Onkel! Gott schütze dich!«, rief eine muntere Stimme. Es war die Stimme von Scrooges Neffen, der so schnell eingetreten war, dass Scrooge ihn erst jetzt bemerkte. »Pah!«, sagte Scrooge. »Humbug!« Von dem raschen Gang durch Nebel und Frost war er so erhitzt, dieser Neffe, dass er geradezu glühte; sein hübsches Gesicht war gerötet; seine Augen funkelten, und gleich fing sein Atem wieder an zu dampfen. »Weihnachten Humbug, Onkel?«, fragte Scrooges Neffe. »Das meinst du doch nicht etwa ernst?« »Und ob«, sagte Scrooge. »Frohe Weihnachten! Was für ein Recht hast du, froh zu sein? Was für einen Grund hast du, froh zu sein? Arm wie du bist.« »Ach, komm schon«, erwiderte der Neffe heiter. »Was für ein Recht hast du, trübsinnig zu sein? Was für einen Grund hast du, missmutig zu sein? Reich wie du bist.« Scrooge, dem spontan keine bessere Antwort einfiel, sagte nur wieder: »Pah!«, und schickte ein »Humbug« hinterher. »Sei nicht so böse, Onkel!«, sagte der Neffe. »Was sollte ich sonst sein«, entgegnete der Onkel, »wenn ich in einer Welt voller Narren lebe? Frohe Weihnachten! Hinaus damit! Frohe Weihnachten! Was ist die Weihnachtszeit für dich anderes als eine Zeit, in der du Rechnungen bezahlen musst, ohne Geld zu haben? Eine Zeit, in der du ein Jahr älter, aber keine Stunde reicher geworden bist? Eine Zeit, in der du die Bücher abschließt und feststellst, dass ein Dutzend Monate lang jeder Posten gegen [14]dich spricht? Wenn es nach meinem Willen ginge«, sagte Scrooge entrüstet, »sollte jeder Idiot, der mit ›Frohe Weihnachten‹ auf den Lippen herumläuft, mit seinem eigenen Plumpudding* gekocht und mit einem Stechpalmenstock im Herzen begraben werden. Jawohl!« »Onkel!«, flehte der Neffe. »Neffe!«, entgegnete der Onkel streng. »Feiere du Weihnachten auf deine Weise, und lass es mich auf meine Weise feiern.« »Feiern!«, wiederholte Scrooges Neffe. »Aber du feierst es doch gar nicht.« »Dann erlaube mir, dass ich nichts damit zu tun haben will«, sagte Scrooge. »Möge es dir viel Gutes bringen! Bisher hat es dir nicht viel Gutes gebracht!« »Es gibt viele Dinge, die mir Gutes hätten bringen können und von denen ich doch nicht profitiert habe«, erwiderte der Neffe. »Darunter auch Weihnachten. Aber ich bin sicher, dass ich die Weihnachtszeit, wenn sie dann kam – abgesehen von der Verehrung, die ihrem heiligen Namen und Ursprung gebührt; falls man von etwas, das so dazugehört, überhaupt absehen kann –, dass ich sie immer als eine gute Zeit empfunden habe: als eine Zeit der Güte, der Vergebung, der Barmherzigkeit, der Freundlichkeit; als die einzige Zeit im langen Jahreskalender, die ich kenne, in der Männer und Frauen in gegenseitigem Einvernehmen weit ihre verschlossenen Herzen öffnen und an Menschen, die unter ihnen stehen, so zu denken scheinen, als wären diese tatsächlich Gefährten auf dem Weg zum Grab und nicht eine andere Gattung, unterwegs...


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