Zwei Schwestern. Sieben Therapiestunden. Ein Problem. / Roman
E-Book, Deutsch, 416 Seiten
ISBN: 978-3-446-28374-9
Verlag: hanserblau in Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Als die 33-jährige Mickey die Nachricht vom Tod ihres Vaters erhält, ist sie nicht sonderlich getroffen. Sie ist ohne ihn aufgewachsen, zeit ihres Lebens ist er ein Fremder geblieben. Umso überraschender, dass er ihr ein Vermögen hinterlassen hat. Der kuriose Haken dabei: Mickey muss sieben Therapiesitzungen absolvieren, bevor das Erbe freigegeben wird. Und so schlägt sie bei der Therapeutin Arlo auf, nicht ahnend, dass sie ihrer eigenen Halbschwester gegenübersitzt. Auch Arlo weiß nicht, wer sich hinter der neuen Patientin verbirgt, und schon bald befinden sich die beiden auf einem Kollisionskurs, der sie entweder zerstören oder retten wird.
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2 ARLO
»Was soll ich mit seinen Schuhen machen? Die liegen hier bergeweise rum. Anzugschuhe und Sandalen und Jagdstiefel. Die Jagdstiefel! Davon hatte er bestimmt zehn Paar. Und Loafers auch, du weißt schon, die mit den kleinen Bommeln dran … Hat in seinem ganzen Leben nie was weggeworfen, der Mann.« Ihre Mutter drehte die Benachrichtigungskarte für die Beerdigung zweimal um, als hätte sie das Ding nicht schon achtmal gelesen. Beim dritten Umdrehen glitt ihr die Karte aus den Fingern und segelte auf den Marmorboden. Sie trug so lange Gelnägel, dass ihre Hände quasi nutzlos waren. »Ach, Scheiße.« Arlo starrte das winzige Foto ihres Vaters an, das jetzt über Kopf auf dem Boden lag. Sie konnte das Gefühl nicht abschütteln, dass sie ihn enttäuscht hatte, sogar jetzt, nachdem sie vierzigtausend Dollar für die Beerdigung hingeblättert hatten. Dieser Empfang war völlig verkehrt. Es war es zu kalt hier drinnen, zu hallend. Es gab keine Sitzgelegenheiten. Und die Musik — oh Gott, diese Musik! »Läuft da gerade ABBA?« Ihre Mutter verrenkte sich in ihrem Bleistiftrock, um die heruntergefallene Karte wieder aufzuheben, und nahm beim Aufstehen einen Schluck Riesling, wobei sie einen weiteren kirschroten Abdruck am Rand des Glases hinterließ. Die Leute starrten, aber das taten sie schon den ganzen Tag. »Akzeptiert die Kleiderspende eigentlich auch Anzugschuhe aus den Achtzigern?« »Vielleicht?«, sagte Arlo, deren Ohren klingelten von dem ganzen gefühlsduseligen, klimpernden, discomäßigen Eurotrash. Ihr Vater hätte so was nie gehört. Er war eher zu haben für Jazz, Roots, Soul. Raue Stimmen, aufwühlende Balladen. Gefühl! Er war ein Mann mit ganz viel Gefühl. »Was ist mit den Diabetikern?«, fragte ihre Mutter. Und Zärtlichkeit. Niemand hatte so ein gutes Herz gehabt wie er. Er hatte keine Ballettaufführung verpasst, keine Aufführung des Schultheaters und kein Fußballspiel. Er hatte bei Arlos Hochzeit geweint. Er hatte sich ein Ich hab’s dir doch gleich gesagt verkniffen, als sie zehn Monate später die Scheidung einreichte. Ihr Vater war immer für sie da gewesen, sogar am Tiefpunkt seiner Krankheit, und auch, als Anfang des Jahres Die Sache passierte und sie ihren Job verloren hatte. Sieben Meter entfernt stand Arlos Ex-Chefin an einem ansonsten leeren Cocktailtisch mit einem Glas Rotwein und sah so ruhig und gefasst aus wie immer. Arlo wurde nicht schlau draus, ob Punams Anwesenheit eine berührende Geste war oder einfach nur ein Arschlochmove. »Charlotte? Hörst du mir überhaupt zu?« »Nein. Ja. Was?« Arlo öffnete Shazam auf ihrem Handy. »Wer hat denn bitte so viele Schuhe? So viele hab ja nicht mal ich. Und ich bin wirklich schuhverrückt.« Ihre Mutter rückte den schwarzen, mit Federn verzierten Fascinator zurecht (der mindestens fünfzehn Zentimeter hoch war), den sie sich extra für diesen Anlass gekauft hatte. »Das ist doch alles völlig lächerlich.« Arlo schäumte. »Es ist wirklich ABBA.« »Vielleicht behalte ich die Schuhe einfach.« »Warum spielen die das jetzt?« »Wäre das denn so seltsam?« »Was soll das denn, ist das hier etwa eine Feier zum Fünfzigsten? Ich klär das.« Arlo drängte sich durch die Menge. Sie rannte ein paar Schritte, ging ein paar Schritte. Rannte, ging. Rannte, ging. Schlängelte sich zwischen auf Staffeleien gehängten Kränzen und Bedienungen mit Tabletts voller Kaviartartelettes hindurch. Sprang über ein heruntergefallenes Anzugjackett. Stützte ihre Ellbogen auf den Tresen. »Entschuldigen Sie.« Der Barkeeper polierte gerade eine Champagnerflöte mit einer Leinenserviette. Bögen von weißem Licht blitzten auf dem Glas auf und setzten sich unter Arlos Augenlidern fest wie Sandkörner. »Könnten Sie bitte die Musik wechseln? Mein Vater konnte ABBA nicht ausstehen. Auf den Tod nicht.« Der Barkeeper polierte weiter sein Glas, ohne die Musik zu wechseln. Unter der Bar summte und gurgelte eine kleine Geschirrspülmaschine. »Tut mir leid«, fuhr Arlo fort. »Es ist nur … es hätte ihm wirklich überhaupt nicht gefallen.« Stoisch versetzte der Barkeeper seiner Champagnerflöte einen letzten Tupfer, stellte sie ab und drehte sich um zu einem silbernen MacBook, das aufgeklappt auf dem Tresen hinter der Bar stand. »Danke«, sagte Arlo zu seinem Rücken. Sie verschränkte die Hände, mit denen sie in den letzten Monaten so oft ihrem Vater die Stirn abgetupft, ihm die Kissen aufgeschüttelt und ihm die Lippen mit einem kleinen rosa Schwamm befeuchtet hatte. Jetzt waren ihre Hände leer. Sie wusste nicht, was sie mit ihnen tun sollte. Noch wusste sie, was sie tun sollte, wie sie stehen sollte oder was für einen Gesichtsausdruck sie aufsetzen sollte. Sie stellte sich vor, wie ein Mensch aussah, dessen Vaters perlweiße Urne nicht auf einem Sockel vorne in dem Zimmer stand, und sie versuchte auszusehen wie so ein Mensch: lässig, reif, gefasst. Ihr halber Vater war dort, ein Staubhaufen in einem Steingefäß, und die andere Hälfte lag fünf Autominuten von hier in der Erde. Es hatte große Diskussionen über die Aufteilung gegeben — wie viel vergraben und wie viel aufbewahrt werden sollte. Und noch mehr Diskussionen hatte es über die Auswahl des Grabsteins gegeben. Sie hatten sich zum Schluss auf einen senkrechten Stein geeinigt, aus Marmor mit Bronze-Akzenten und Gravur, der in einer zweiten Zeremonie in sechs Wochen enthüllt werden sollte. Und nein, das war nicht übetrieben. Der ABBA-Song wurde unterbrochen. Eine Ballade von Ed Sheeran nahm seinen Platz ein. Und das war irgendwie … noch schlimmer? »Sind Sie Charlotte?« Ein Mann erschien neben Arlo. Um die fünfzig, mit einer breiten Stirn, einem Bolo Tie und einer Andeutung von silbernen Schläfen. Wahrscheinlich ein Kollege ihres Vaters. »Ja«, sagte sie. »Aber ich werde Arlo genannt.« »Das ist ja ein süßer Spitzname.« Arlo wollte etwas Spitzes erwidern, ließ es dann aber bleiben. Weil sie ein lässiger, reifer, gefasster Mensch war. »Hat sich mein Dad ausgedacht.« »Ah. Natürlich.« Der Mann wirkte verlegen. Arlo war zufrieden. »Ich bin Tom Samson, der Anwalt Ihres Vaters.« »Freut mich.« Arlo wandte ihre Aufmerksamkeit wieder dem Barkeeper zu, der gerade angefangen hatte, einen halb gefrorenen grünen Cocktail zu mixen. Sie versuchte, das Rasseln des Mixers mit ihrer Stimme zu übertönen. »Entschuldigen Sie. Entschuldigen Sie.« Samson legte seine Hand auf Arlos Ellenbogen. »Ich weiß, dass Sie und Ihre Mutter nicht gleich in die rechtlichen Dinge einsteigen wollen.« »Genau«, sagte Arlo, die auf den geschmacklosen, juwelenbesetzten Siegelring an Samsons kleinem Finger starrte. »So ist es.« »Aber wir drei sollten uns zusammensetzen. Möglichst bald.« Endlich fing Arlo den Blick des Barkeepers ein. »Entschuldigen Sie. Das ist irgendwie … auch nicht das Richtige. Haben Sie nicht vielleicht irgendwas Jazziges?« Der Barkeeper deutete auf den Laptop. »Wollen Sie selbst mal schauen?« Arlo biss sich auf die Innenseite der Wange. Sie verhielt sich herrisch und seltsam, oder? Aber es war ja nicht ihre Schuld. Schuld war dieser Tag und ihre leeren Hände und dieser blöde, nervige Anwalt, der sie immer noch anfasste. »Oh nein. Es ist Ihr … Sie sollten aussuchen … Aber vielleicht Ella Fitzgerald, wenn Sie so was haben?« Der Barkeeper drehte ihr wieder den Rücken zu. »Wissen Sie, wir müssen da ein paar Dinge glätten«, fuhr Samson fort. »Bei dem Testament. Wobei ›glätten‹ vielleicht nicht der richtige Ausdruck ist. Es ist ein bisschen kompliziert.« Arlo gab ein unverbindliches Geräusch von sich. Warum redete dieser Kerl immer noch? Hatte er Schwierigkeiten, soziale Interaktionen zu lesen? Oder war er einfach nur total von sich eingenommen? Und versteckte tief sitzende Gefühle der Unzulänglichkeit hinter einer Maske der Arroganz? An jedem anderen Tag hätten solche Fragen sie interessiert. »Ich will unbedingt vermeiden, dass Sie überrascht werden.« Arlo brachte ihn zum Schweigen. »Bewitched, Bothered, and Bewildered« tönte aus dem ...