deWitt Der Diener, die Dame, das Dorf und die Diebe
1. Auflage 2016
ISBN: 978-3-641-18364-6
Verlag: Manhattan
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 352 Seiten
ISBN: 978-3-641-18364-6
Verlag: Manhattan
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Eine überragende rabenschwarze
Sittenkomödie.
Lucy Minor aus dem idyllischen Dorf Bury ist ein blasser, schwächlicher Junge. Er hat weder Freunde noch Pläne - dafür allerdings das Talent zu lügen und neuerdings ein Stellenangebot: für den Posten als Unteroberhaushofmeister auf dem Schloss des Barons Von Aux. Dort lernt Lucy allerlei skurrile Persönlichkeiten kennen und verliebt sich unsterblich in die schöne Klara. Einer allerdings bleibt im Verborgenen: der Baron Von Aux. Ebenso rätselhaft wie dessen Abwesenheit ist das Verschwinden von Lucys Vorgänger Broom. Was hat es mit dem Fehlen der beiden auf sich? Und wird Lucy das Herz von Klara erobern und sich gegen seinen Nebenbuhler Adolphus durchsetzen können?
Patrick deWitt wurde 1975 auf Vancouver Island in Kanada geboren. Er lebte unter anderem in Kalifornien, Washington und Oregon. Nach 'Ablutions: Notes for a Novel' ist 'Die Sisters Brothers' sein zweiter Roman. Er war für den Man Booker Prize, den Giller Prize sowie den Walter Scott Prize nominiert, wurde mit dem Rogers Writers' Trust Fiction Prize, dem Ken Kesey Award, dem Governor General's Award for English Language Fiction und der Stephen Leacock Memorial Medal for Humour ausgezeichnet und von Publishers Weekly, der Washington Post sowie der Canadian Booksellers Association zu den besten Romanen des Jahres gezählt. Patrick deWitt lebt heute mit seiner Frau und seinem Sohn in Portland, Oregon.
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Lucien Minors Mutter hatte nicht geweint, war den Tränen nicht einmal nah gewesen, als er Abschied nahm. Den ganzen Tag über hatte er einen Kloß im Hals gehabt und jede seiner Bewegungen mit Bedacht getan, als könnten sich bei allzu hektischer Tätigkeit unerwünschte Emotionen Bahn brechen. Frühstück und Mittag hatten sie gemeinsam eingenommen, ohne auch nur ein Wort zu wechseln, und nun wurde es für ihn Zeit, doch konnte er sich nicht von seinem Bett aufraffen, auf dem er lag, voll bekleidet mit Mantel und Stiefeln, die Schaffellmütze tief in die Stirn gezogen. Lucien war siebzehn Jahre alt, und seit er denken konnte, war das hier seine Kammer gewesen. Alles, was er sehen und berühren konnte, weckte verstörende Erinnerungen an seine Kindheit. Als er hörte, wie sich seine Mutter unten in der Küche unbeantwortbare Fragen stellte, drohte die Trauer ihn zu überwältigen. Auf dem Boden neben dem Bett wartete geduldig sein Handkoffer. Schwungvoll erhob er sich von der Matratze und stampfte dreimal mit den Füßen: wumm, wumm, wumm! Dann packte er den Handkoffer am ledernen Griff, stieg die Treppe hinunter und trat zur Tür hinaus, wo er vor den Stufen der heimeligen Kate stehen blieb, um nach seiner Mutter zu rufen. Diese erschien in der Tür, blinzelte verkniffen und klopfte sich den Mehlstaub von den Händen. »Ist es an der Zeit?«, fragte sie. Als er nickte, sagte sie: »Na, dann komm mal her.« Er stieg die fünf knarrenden Stufen zu ihr hinauf. Sie drückte ihm einen Kuss auf die Wange, dann schweifte ihr Blick über die Wiese zu den sich türmenden Sturmwolken hinter den Bergen, von denen das Dorf umgeben war. Als sie sich ihm wieder zuwandte, tat sie es mit ausdrucksloser Miene. »Viel Glück, Lucy. Ich hoffe, du wirst diesem Baron zu Diensten sein. Willst du mich wissen lassen, wie es dir ergeht?« »Das will ich.« »Nun denn. Leb wohl.« Sie kehrte in ihre Kate zurück und hielt den Blick gesenkt, als sie die blaue Tür hinter sich schloss. Lucy konnte sich noch gut an jenen Tag erinnern, an dem sein Vater diese Tür gestrichen hatte, zehn Jahre zuvor. Lucy hatte im Schatten eines anämischen Pflaumenbaums gesessen und das undurchschaubare Treiben eines Ameisenhaufens studiert, als sein Vater ihn rief und mit einem Pinsel deutete, dessen Borsten sich zu einem Trichter spreizten: »Eine blaue Tür für einen blauen Jungen.« Während ihm dieser Gedanke kam und er seine Mutter drinnen in der Kate ein lustiges Liedchen summen hörte, legte sich eine drückende Trauer über Lucy. Er sezierte die Sinnlosigkeit dieser Empfindung, denn im Grunde hatte er seinen Eltern nie sonderlich nah gestanden, oder besser gesagt, sie hatten sich nie in der Form um ihn gekümmert, wie er es sich gewünscht hätte, und somit war nie Gelegenheit gewesen, eine enge Bindung herauszubilden. Am Ende schien es ihm, als betrauerte er im Grunde nur den Umstand, dass er nicht viel zu betrauern hatte. Er beschloss zu verweilen – eine seiner liebsten Beschäftigungen. Er setzte sich auf seinen Handkoffer, schlug elegant die Beine über und holte seine neue Pfeife aus der Jackentasche, mit großer Sorgfalt, ganz so wie man ein Küken halten würde. Diese Pfeife hatte er erst am Tag zuvor erworben, und da er noch nie Pfeife geraucht hatte, stopfte er den nach Schokolade und Kastanie duftenden Tabak gewissenhaft hinein. Er riss ein Streichholz an und paffte, paffte. Von duftendem Rauch umhüllt, kam er sich durchaus malerisch vor und wünschte, jemand würde ihn dabei beobachten und diesbezüglich möglicherweise eine Bemerkung fallen lassen. Lucy war spindeldürr und wirkte blass, fast kränklich, und doch hatte er auch etwas Ansehnliches – volle Lippen, schwarze, lange Wimpern, große, blaue Augen. Insgeheim hielt er sich selbst – auf obskure, wenn auch unbestreitbare Weise – für recht schmuck. Er nahm die Haltung eines Mannes ein, der in tiefes Sinnen versunken war, wenngleich sich in seinem Geist in Wahrheit nichts, und zwar gar nichts rührte. Er legte den Pfeifenkopf in seine Hand und drehte das Mundstück von sich weg, bis es zwischen Mittel- und Ringfinger ruhte. Dann deutete er damit hierhin und dorthin, denn so machten es die Pfeife schmauchenden Männer in der Schenke, wenn sie Anweisungen gaben oder sich an einen ortsspezifischen Vorfall erinnerten. Besonders gut gefiel Lucy, dass die Pfeife den Körper ihres Besitzers verlängerte, eine nützliche Bereicherung seiner Person. Lucy freute sich darauf, in Gesellschaft anderer mit dieser Pfeife zu deuten. Er brauchte nur noch Publikum, für das es sich zu deuten lohnte, und etwas, worauf er deuten konnte. Er nahm noch einen Zug, doch da er diesbezüglich ein blutiger Anfänger war, wurde ihm bald schwindlig und schwummerig zumute. Er klopfte die Pfeife gegen seinen Handballen, ließ den pelzigen Klumpen zu Boden fallen wie eine verkohlte Feldmaus und betrachtete den rankenden Schleier von Rauch, der aus dem gerupften Tabak stieg. Mit Blick auf die Kate rekapitulierte Lucy sein bisheriges Leben. Einsam war es gewesen, zumeist, wenn auch nicht sonderlich unglücklich. Sechs Monate zuvor war er an einer Lungenentzündung erkrankt und beinahe daran gestorben. Er dachte an das freundliche Gesicht des Dorfpfarrers Pater Raymond, als dieser ihm in seiner Kammer die letzte Ölung gab. Lucys Vater – ein gottloser Mann – kam von der Feldarbeit heim und fand in seinem Haus einen Pfarrer vor. Zielstrebig packte er den ungebetenen Gast, so wie man eine Katze aus der Kammer befördert. Pater Raymond wunderte sich, derart behandelt zu werden. Er musterte die fremde Hand an seinem Arm und konnte es kaum glauben. »Aber Euer Sohn liegt im Sterben!«, sagte Pater Raymond (Lucy hörte es ganz deutlich). »Und was geht Euch das an? Ich denke, Ihr findet allein raus. Vergesst nicht, die Tür hinter Euch zu schließen.« Lucy lauschte den zögerlich schlurfenden Schritten des Pfarrers. Sobald der Riegel ins Schloss gefallen war, rief sein Vater: »Wer hat den denn reingelassen?« »Ich dachte, es könnte nicht schaden«, rief seine Mutter zurück. »Aber wer hat ihn hierherbestellt?« »Das weiß ich nicht, mein Guter. Er stand plötzlich vor der Tür.« »Er hat Aas gewittert, wie ein Geier«, sagte Lucys Vater und lachte dabei. Des Nachts allein in seiner Kammer machte Lucy Bekanntschaft mit den Empfindungen des Todes. Im Halbschlaf konnte er spüren, wie sein Geist zwischen den beiden Welten wandelte, was ebenso erschreckend wie auf prickelnde Weise angenehm war. Die Turmuhr schlug zwei Uhr, als ein Mann, den Lucy noch nie gesehen hatte, die Kammer betrat. Er war in unförmiges Sackleinen gehüllt, der Bart ordentlich getrimmt und bräunlich schwarz. Die langen Haare waren an der Schläfe gescheitelt, als hätte er sie eben erst mit Bürste und Wasser gekämmt. Die Füße waren nackt und bis zum Knöchel von Dreck verkrustet. Er tappte an Lucys Bett vorbei, um sich auf dem Schaukelstuhl in der Ecke niederzulassen. Lucys Blick folgte ihm durch verklebte, verquollene Augen. Er fürchtete sich nicht sonderlich vor dem Fremden, doch war dessen Anwesenheit auch nicht dazu angetan, ihn zu beruhigen. Nach einer Weile sagte der Mann: »Hallo, Lucien.« »Hallo, Herr«, krächzte Lucy. »Wie geht es dir?« »Ich sterbe.« Der Mann hob einen Finger. »Nun, das hast nicht du zu bestimmen.« Darauf verfiel er in Schweigen und schaukelte eine Weile. Das Schaukeln schien ihm zu gefallen, als machte er es zum ersten Mal und empfände es als ungemein erfüllend. Abrupt jedoch nahm das Schaukeln ein Ende, als wäre ihm ein unangenehmer Gedanke gekommen. Seine Miene wurde ernst, und er fragte: »Was wünschst du dir von deinem Leben, Lucy?« »Nicht zu sterben.« »Davon einmal abgesehen. Falls du überleben solltest – was würdest du dir erhoffen?« Lucys Gedanken flossen träge dahin. Die Frage des Mannes war ihm ein Rätsel. Und doch fiel ihm eine Antwort ein, und sie sprudelte aus seinem Mund, als führten seine Gedanken ein Eigenleben: »Dass irgendwas passiert«, sagte er. Das schien den sackleinenen Mann zu interessieren. »Du bist unzufrieden?« »Ich langweile mich.« Lucy fing ein wenig an zu weinen, nachdem er das gesagt hatte, denn es schien ihm eine wahrlich jämmerliche Äußerung zu sein, und er schämte sich für sein armseliges Leben. Doch war er zu schwach, um lange zu weinen, und als seine Tränen getrocknet waren, starrte er ins Kerzenlicht und sah die Schatten zucken und bis an die fahle, weiße Kante schwappen, wo sich Wand und Decke trafen. Seine Seele löste sich, während der Mann herüberkam, am Bett niederkniete, seinen Mund an Luciens Ohr hielt und tief einatmete. Als er das tat, spürte Lucy, wie die Hitze und das Siechtum seinen Körper verließen. Der Mann hielt die Luft an, ging hinaus und lief den Flur entlang zur Kammer von Luciens Eltern. Im nächsten Augenblick erlitt Lucys Vater einen Hustenkrampf. Als der Morgen graute, hatte Lucy wieder Farbe im Gesicht, wohingegen sein Vater blasser war, die Augen rot gerändert, wo an den Lidern Wimpern sprossen. Als der Abend dämmerte, lag sein Vater krank im Bett, während Lucy erste behutsame Schritte in seiner Kammer wagte. Und als am nächsten Morgen die Sonne aufging, war Lucy bester Dinge, abgesehen von einer gewissen Empfindsamkeit in Muskeln und Gelenken, sein Vater jedoch lag leblos im Bett, der Mund ein blutiges Grinsen, die Hände zu Klauen verkrampft. Die Leichenbestatter kamen, um den Toten abzuholen, und einer von ihnen verlor auf der Treppe den Halt, sodass der Kopf des Vaters hart gegen eine Stufe prallte. Der Schlag war so heftig, dass er ihm ein kleines...