de Balzac | Die Frau von dreißig Jahren (Roman) | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 232 Seiten

de Balzac Die Frau von dreißig Jahren (Roman)

E-Book, Deutsch, 232 Seiten

ISBN: 978-80-268-1326-2
Verlag: e-artnow
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Dieses eBook: 'Die Frau von dreißig Jahren (Roman)' ist mit einem detaillierten und dynamischen Inhaltsverzeichnis versehen und wurde sorgfältig korrekturgelesen. Honoré de Balzac (1799/1850) war ein französischer Schriftsteller. Sein Hauptwerk ist der rund 88 Titel umfassende, aber unvollendete Romanzyklus La Comédie humaine (dt.: Die menschliche Komödie), dessen Romane und Erzählungen ein Gesamtbild der Gesellschaft im Frankreich seiner Zeit zu zeichnen versuchen. Inhalt: 1. Der erste Irrtum 2. Unbekannte Leiden 3. Mit dreißig Jahren 4. Der Finger Gottes 5. Die zwei Begegnungen 6. Das Alter einer schuldigen Mutter
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2. Unbekannte Leiden
Inhaltsverzeichnis

Zwischen dem kleinen Flusse Loing und der Seine erstreckt sich eine weite Ebene, an die der Wald von Fontainebleau und die Städte Moret, Nemours und Montereau grenzen. In diesem öden Land erheben sich nur vereinzelte Hügel; hier und dort zwischen den Feldern kleine Wäldchen, die dem Wild Zuflucht bieten; sonst, soweit das Auge blickt, endlose graue oder gelbliche Flächen, wie sie den Landschaften der Sologne, der Beauce und des Berri eigen sind. Mitten in dieser Ebene gewahrt der Reisende zwischen Moret und Montereau ein altes Schloß, das Saint-Lange heißt, dessen Umgebung es weder an Größe noch an Majestät fehlt. Da sind prächtige Ulmenalleen, Gräben, lange Wälle, ausgedehnte Gärten und die stattlichen Herrenhäuser, die nur dank der Steuererpressung, den Pachtgeldern, den behördlich genehmigten Erpressungen oder den großen aristokratischen Vermögen erbaut werden konnten, die heutzutage vom Hammer des Code civil zerschlagen worden sind. Wenn ein Künstler oder irgendein Träumer sich auf die Wege mit den tiefen Räderspuren oder die Äcker mit dem schweren Lehmboden, die den Zugang zu diesem Herrschaftssitz zu verteidigen scheinen, verirrte, dann fragt er sich, welche Laune wohl dieses romantische Schloß in diese Weizensteppe, in diese Wüste aus Kreide, Mergel und Sand verschlagen hat, wo der Frohsinn stirbt und die Traurigkeit unfehlbar geboren wird, wo die Seele mehr und mehr von einer lautlosen Einsamkeit, einem eintönigen Horizont und düsteren Schönheiten gepeinigt werden muß, die freilich Leiden, die keinen Trost verlangen, willkommen sein müssen. Eine junge Frau, die in Paris durch ihre Anmut, ihre Schönheit, ihren Geist berühmt war und deren gesellschaftliche Stellung, deren Vermögen dieser Berühmtheit entsprachen, bezog zum großen Erstaunen des kleinen Dorfes, das etwa eine Meile von Saint-Lange entfernt lag, gegen Ende des Jahres 1821 das Schloß. Die Pächter und Bauern hatten seit Menschengedenken keine Herrschaft mehr im Schloß gesehen. Obgleich der Besitz ansehnliche Erträge brachte, war er seit langem einem Verwalter anvertraut und in der Obhut ehemaliger Diener. So erregte die Reise der Marquise eine gewisse Aufregung in der Gegend. Mehrere Personen standen gruppenweise am Ende des Dorfes vor einem elenden Wirtshaus, das an der Kreuzung der Straßen von Nemours und Moret lag, um die Kalesche vorbeifahren zu sehen. Sie fuhr ziemlich langsam, denn die Marquise hatte von Paris aus ihre eigenen Pferde benutzt. Auf dem Vordersitz des Wagens hielt die Zofe ein kleines Mädchen, das eher einen verträumten als einen heitern Eindruck machte. Die Mutter lag ausgestreckt im Fond und sah aus wie eine Todkranke, die von den Ärzten aufs Land geschickt wird. Der niedergeschlagene Ausdruck der zarten jungen Frau befriedigte die Dorfpolitiker sehr wenig, die bei der Kunde von ihrer Ankunft in Saint-Lange gehofft hatten, es werde nun in der Gemeinde etwas Abwechslung geben. Doch es war ersichtlich, daß jede Art von Bewegung offenbar dieser in ihren Schmerz versunkenen Frau widerwärtig war. Der Allerschlauste von Saint-Lange erklärte am Abend im Honoratiorenzimmer des Wirtshauses, der traurige Gesichtsausdruck der Marquise lasse darauf schließen, daß sie ruiniert sein müsse. Während der Abwesenheit des Marquis, von dem die Zeitungen berichteten, er soll den Duc d'Angoulême nach Spanien begleiten, wollte sie jedenfalls in Saint-Lange die nötigen Summen zusammenbringen, um die infolge verfehlter Börsenspekulationen entstandenen Fehlbeträge zu begleichen. Der Marquis wäre einer der wildesten Spieler. Vielleicht würde der Besitz in Parzellen verkauft. Dabei könnte man einen guten Wurf tun. Es sollte nur jeder seine Taler zählen, sie aus dem Versteck holen und an all seine Mittel denken, um nicht leer auszugehen, wenn Saint-Lange ausgeschlachtet würde. Diese Aussicht schien so vielversprechend, daß jeder dieser ehrenwerten Männer es kaum abwarten konnte, zu erfahren, ob sie begründet wäre; jeder machte sich an die Leute im Schloß heran, um die Wahrheit herauszubekommen; aber keiner konnte Auskunft über das Unglück geben, das ihre Herrin im Anfang des Winters in ihr altes Schloß in Saint-Lange führte, während sie andere Besitzungen hatte, die durch ihre heitere Lage und die Schönheit ihrer Gärten berühmt waren. Der Bürgermeister ging aufs Schloß, um der Gnädigsten seine Aufwartung zu machen, aber er wurde nicht empfangen. Nach ihm versuchte es der Verwalter, ebenfalls ohne Erfolg. Die Marquise verließ ihr Schlafzimmer nur, um es aufräumen zu lassen, und hielt sich dann in einem kleinen Salon nebenan auf, wo sie speiste, wenn man ›speisen‹ nennen darf, daß sie sich an einen Tisch setzte, die Gerichte, die darauf standen, mit Widerwillen ansah, und nur das wenige zu sich nahm, das nötig war, damit sie nicht verhungerte. Dann begab sie sich sofort wieder in den altertümlichen Lehnstuhl, in dem sie vom Morgen an an dem einzigen Fenster, von dem das Zimmer Licht empfing, saß. Sie sah ihre Tochter nur während der kurzen Augenblicke ihres trübseligen Mahles und schien sie auch da kaum ertragen zu können. Mußte das Leid nicht ungeheuerlich sein, um bei einer so jungen Frau die Muttergefühle zum Schweigen zu bringen? Keiner ihrer Leute hatte Zutritt zu ihr. Ihre Zofe war das einzige Wesen, deren Dienste sie duldete. Sie verlangte absolute Ruhe im Schloß; ihre Tochter mußte in einem entlegenen Teil des Hauses spielen. Es fiel ihr so schwer, das leiseste Geräusch zu ertragen, daß jede menschliche Stimme, selbst die ihres Kindes, ihr eine leidige Störung war. Die Leute in der Gegend beschäftigten sich anfangs viel mit ihren Absonderlichkeiten; dann aber, als die Vermutungen erschöpft waren, dachten weder die Bewohner der kleinen Städte der Umgebung noch die Bauern mehr an die kranke Frau. Die Marquise war also sich selbst überlassen und konnte inmitten des Schweigens, das sie um sich gebreitet hatte, in völliger Lautlosigkeit verharren; sie hatte keine Ursache, dieses mit Teppichen bespannte Gemach zu verlassen, in dem ihre Großmutter gestorben und in das sie jetzt gekommen war, um auch dort sterben zu können, in Ruhe, ohne Zeugen, ohne Belästigung, ohne die falschen Bezeugungen der sich mitleidig gebärdenden Selbstsucht ertragen zu müssen, die in den Städten das Sterben doppelt schwer macht. Diese Frau war sechsundzwanzig Jahre alt. In diesem Alter will ein Gemüt, das noch voll romantischer Illusionen ist, den Tod, wenn er ihm erwünscht ist, schlürfen und auskosten. Aber der Tod verfährt mit jungen Menschen kokett: bald kommt er, bald zieht er sich zurück, bald zeigt er sich, bald verbirgt er sich; seine Langsamkeit ernüchtert sie, und die Ungewißheit, die der jeweils folgende Tag verursacht, schleudert sie schließlich in die Welt zurück. Dort stoßen sie wieder unfehlbar auf das Leid, das unbarmherziger als der Tod ist und sie heimsucht, ohne auf sich warten zu lassen. Auch diese Frau, die nicht mehr weiterleben wollte, sollte in ihrer Einsamkeit die Bitternis dieses Zögerns zu spüren bekommen; sie sollte hier in einem seelischen Todeskampf, dem der Tod kein Ende machen würde, in einer furchtbaren Lehrzeit den Egoismus erlernen, der die Unschuld ihres Herzens vernichtete und es für die Welt herrichtete. Diese grausame und traurige Lehre ist immer die Frucht unserer ersten Schmerzen. Die Marquise litt in der Tat vielleicht zum ersten und einzigen Mal in ihrem Leben. Ist es nicht fürwahr ein Irrtum, wenn man meint, die Gefühle könnten noch einmal wiederkehren? Existieren sie nicht immer, wenn sie erst einmal aufgetaucht sind, auf dem Grunde des Herzens? Dort kommen sie zur Ruhe und werden wieder wach gerüttelt, je nach den Wechselfällen des Lebens; aber sie bleiben dort, und ihr Dasein verändert notwendigerweise die Seele. Demzufolge hätte also jedes Gefühl nur einen einzigen großen Tag, den mehr oder weniger langen Tag seines ersten Sturmes. Auch der Schmerz, das beharrlichste unserer Gefühle, wäre demnach nur bei seinem ersten Ansturm wirklich lebendig, und seine späteren Angriffe wären immer schwächer, entweder, weil wir uns an seine Anfälle gewöhnt hätten, oder auf Grund eines Gesetzes unserer Natur: um am Leben zu bleiben, stellt sie dieser Kraft der Zerstörung eine gleich starke Kraft der Trägheit entgegen, die in den Berechnungen des Egoismus gefunden wird. Aber welchem unter allen Leiden gebührt dieser Name Schmerz? Der Verlust der Eltern ist ein Kummer, auf den die Natur die Menschen vorbereitet hat; körperliche Qualen sind vorübergehend und greifen die Seele nicht an; und wenn sie nicht weichen, sind sie keine Qualen mehr, sondern der Tod. Wenn eine junge Frau ein Neugeborenes verliert, schenkt ihr die eheliche Liebe bald einen Ersatz. Auch diese Betrübnis ist vorübergehend. Kurz, diese Anfechtungen und viele andere ähnlicher Art sind gewissermaßen Schläge, Wunden; aber keine greift das Leben in seiner Wurzel an, und sie müssen ungewöhnlich heftig aufeinander folgen, um das Gefühl zu töten, das in uns nach Glück schreit. Der große, der wahre Schmerz muß also ein Leid sein, das so mörderisch ist, daß es Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zugleich auslöscht, kein Stückchen Leben heil läßt, den Gedanken für immer die Natürlichkeit raubt, sich unvertilgbar auf die Lippen, auf die Stirne schreibt, der Freude die Flügel bricht oder lahmt und der Seele einen grundlegenden Ekel an allen Dingen in der Welt einflößt. Weiterhin muß dieses Leid noch, um so ungeheuer zu sein, um so auf Seele und Leib zu lasten, sich in einem Augenblick des Lebens einstellen, wo alle Kräfte der Seele und des Körpers jung sind, und so ein Herz in seiner ganzen Lebensfülle zerschmettern. Dann schlägt es eine tiefe Wunde, die Qual...


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