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E-Book

E-Book, Deutsch, 108 Seiten

Dath Stehsatz

Eine Schreiblehre
1. Auflage 2020
ISBN: 978-3-8353-4542-3
Verlag: Wallstein
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Eine Schreiblehre

E-Book, Deutsch, 108 Seiten

ISBN: 978-3-8353-4542-3
Verlag: Wallstein
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Literarische Texte stehen anders zum Publikum als alle anderen Textsorten, nicht nur in moralischer Hinsicht. Das ist ihr Reichtum, ihr Risiko und ihr Fluch.

Wer sein Publikum schneller gefunden hat als den eigenen Literaturbegriff, muss sich von diesem Publikum beim Schreiben zunächst emanzipieren. Sonst läuft er Gefahr, einfach immer wieder das zu schreiben, was das Publikum kennt, schätzt und bestätigt wissen will. Dietmar Dath arbeitet seit mehr als dreißig Jahren an dieser Emanzipation und hat dabei eine Art zu lesen und zu schreiben gelernt, die sich im etablierten Literaturwesen sonst nirgends findet. 'Kein guter Mensch, aber ein gutes Beispiel': 'Stehsatz' versteht sich als Rechenschaftsbericht, Lektüre von Vorbildern und Polemik gegen Verkürzungen des Literarischen in Praxis wie Theorie. Er ist die erweiterte und überarbeitete Version eines Klärungsversuchs in persönlicher und allgemein literarischer Sache, den der Autor im Januar 2020 in Göttingen als Lichtenberg-Poetikvorlesung unternommen hat.

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II. Ansatz
I don’t have talent, I have tenacity.
Henry Rollins Ich bin also endlich beim Titel dieser Veranstaltung angekommen: »Stehsatz«. Das Wort gehört für mich zur Arbeit bei der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Die war, blieb und bleibt meiner Literatur und meinem Weltsinn durchaus gefährlich. Denn zwar fand ich sie mit Anfang dreißig, nach ein bisschen Leben und »getarnter Arbeitslosigkeit« (Walter Dath, mein Vater, sehr richtig) und ohne langen Aufenthalt an der Uni, aber die Warnung von Rainald Goetz galt und gilt, dass man sich in Acht nehmen muss, wenn man zu denen gehört, die mit Mitte zwanzig, ohne irgendwas erlebt zu haben außer Uni, in irgend so eine prominente Redaktion eintreten. Da aufwachsen, versauern und verblöden. Plötzlich ist man ein irreversibel erwachsener Mensch und hat doch noch NIE für irgendwas Eigenes wirklich riskant Verantwortung übernehmen müssen. Dadurch entstehen Schäden am Geist, für den Schreibenden Zerstörungen mitten im Herz der Produktivkraft seiner Existenz. Gebrochene, Kaputte, Entkernte: Feuilleton als Beruf, das macht sie alle fertig.[11] Seit zwanzig Jahren benutze ich bei der Frankfurter Allgemeinen Zeitung ein digitales Redaktionssystem namens HERMES. Darin gibt’s ein Verzeichnis für Artikel, die zwar mehr oder weniger fertig, aber noch von niemandem redigiert, geschweige nach den Regeln der Orthographie und der Grammatik korrigiert worden sind. Dieses Verzeichnis heißt FEUI, eine Abkürzung für »Feuilleton«. Wir, die Redaktion, stellen unsere Texte dort ein, wenn sie sich der Vollendung nähern, und können mit verschiedenen Farbmarkierungen den Zustand des Artikels anzeigen sowie den Zugriff darauf beschränken. Wenn wir ihn »grau stellen«, kommt niemand ran außer uns selbst und Leuten mit gewissen technischen Privilegien. Ein anderes Verzeichnis heißt STEFART. Das Kürzel bedeutet: »Stehsatz fertige Artikel«. Was in diesem Verzeichnis steht, kann und soll man drucken, am besten rasch, bevor es veraltet. HERMES ordnet nicht endgültig. Man kann einen Text aus dem STEFART wieder ins FEUI zurückstellen, wenn er geändert, ergänzt, gekürzt werden soll. Das System ist außerdem überlagert von anderen Textverarbeitungsordnungen, solchen des Layouts oder der Online-Publikation etwa. Demnächst soll es ersetzt werden, aber in meinem Kopf wird’s weiterleben, denn meine Schreiblehre sucht Ordnungen für Literatur, die denen im Arbeitsprozess bei der Zeitung ähneln, indem sie Geschriebenes per Überlagerung mehrerer Verarbeitungsvorgänge ordnen. In so einer Ordnung bleiben Texte zwischen verschiedenen Optionen in Bewegung, die von unterschiedlichen Zugriffsberechtigungen und Veränderungsgelegenheiten bestimmt sind. Innerhalb der bekannten Poetik(en) wie Poetologie(n) und im Verhältnis dieser beiden zueinander herrscht seit Anbruch der Moderne ein zäher Streit darüber, ob die Frage »was will die Dichterin uns damit sagen?« fürs Literaturverständnis lebenswichtig sei oder, im Gegenteil, die unwichtigste (vom New Criticism bis zum Dekonstruktivismus war Letzteres die steile literaturtheoretische These des zwanzigsten Jahrhunderts). Beide Ansätze sind unterkomplex, weil sie von einer fiktiven höheren Warte aus über die Konstellation zwischen einerseits Autorschaft durch Leserschaft und andererseits Leserschaft durch Autorschaft verfügen wollen, statt sich den verwischenden wie den schärfenden Effekten der Filterüberlagerungen auszusetzen, die in diesen Konstitutionsprozessen statthaben.   Subjektiv? Objektiv? Fakten? Darstellungen? Haltungen? Eine Art Journalismus steckt in jeder Literatur, weil Haltungen, von denen Literatur handelt, sich auf Reales beziehen, das mit ihnen gemeinsam dargestellt werden muss, wenn man sie lesbar darstellen will. Umgekehrt aber steckt nicht in jedem Journalismus eine Art Literatur. Aufeinander bezogen, einander im Weg, einander hilfreich sind Literatur und Journalismus, seit es einen bürgerlichen Literaturmarkt gibt, auf epochenprägender Kunsthöhe ab Dickens und Balzac. Autorschaft kann, wie diese beiden zeigen, mitten in der Meinungsindustrie blühen. Selbst im Kino, im Fernsehen, im Streaming hat sie ihr Auskommen gefunden. Bald aber könnte Schluss damit sein und der Witz Wahrheit werden, der in einer Folge der Comedyshow »30 Rock« auf einem Filmplakat zu einem »Transformers«-Blockbuster zu lesen ist. Da steht:   WRITTEN BY NO ONE.   Sie wissen, was das heißt. Sie haben Filme und Serien gesehen, die kein Mensch geschrieben hat, sondern ein Gremium. Sie haben Bücher gelesen, die kein Mensch geschrieben haben kann, nur ein Programm, das die Interessen der »Zielgruppe« kennt. Wer nicht wehrlos zusehen mag, wie Autorschaft von derlei Medienpraxis gründlicher getilgt wird, als jede theoretische Rede von ihrem Tod sie je beschädigen könnte, wird aufhören müssen, sie als ein Ding zu sehen, das am Schreiben hängt wie der Henkel an der Tasse. Lektüre sollte lernen, Autorschaft und Leserschaft als ein Handeln unter Regeln zu verstehen, selbstgewählten wie entfremdeten. Seit ich am Rand des Literaturbetriebs ein bisschen mitmachen darf, hat mir die Szene eine zweiwertige Typenlehre aufgedrängt: Die eine Sorte Mensch will Schriftstellerin oder Schriftsteller sein und muss dann halt schreiben, oft ungern; die andere will schreiben, und muss dann halt Schriftstellerin oder Schriftsteller sein, oft widerstrebend – böse Texte, gute Menschen und umgekehrt kommen dabei heraus. Wird der Referent jetzt moralisch? Erklärt er endlich, warum er sagt, er sei kein guter Mensch, aber ein gutes Beispiel? Nein, immer noch nicht – erst müssen ein paar weitere Begriffe geklärt werden. Ein guter Mensch, um damit anzufangen, ist auch dann gut, wenn das niemand mitkriegt. Alles andere wäre Heuchelei. Moralische Integrität darf man daher als radikale Privatsache betrachten, was keineswegs heißt, dass sie der Umgebung nicht zum Segen ausschlagen kann. Literatur hingegen braucht und schafft Publikum. Selbst das literarisch gearbeitete Tagebuch hat eine Minimalöffentlichkeit; sie fällt zusammen mit dem schreibenden Bewusstsein. Ist aber mit der Unterscheidung zwischen Moral und Literatur entlang der Grenzlinie der Öffentlichkeitsvoraussetzung schon geklärt, wie Fragen der Moral zu Literaturfragen stehen? Allenfalls beschreibend. Ich kläre das als Regelgläubiger lieber normativ; also gibt es eine   VIERTE REGEL BEIM LITERARISCHEN SCHREIBEN,   die ich beherzigen will. Sie lautet:   Du darfst bei der literarischen Arbeit von Moral ausgehen, aber nicht auf sie hinauswollen.   Moralisches ist nicht zu deuten, sondern zu befolgen. Es will nicht begründet werden, sonst ist es soziale Zwecktechnik, nicht Moral. Etwas, das man nicht deuten, nicht hierhin und dorthin drehen kann, weil es seinen Sinn in sich selbst trägt, ist als Literaturzweck ungeeignet, denn Deutung ist die Art, wie nicht nur Leserschaft, sondern auch Autorschaft Literaturzwecke entdeckt und miterzeugt. Diesmal kein Textbeispiel, sondern eine Anekdote dazu: Peter Hacks, André Müller Senior und die Schauspielerin Anja Gregorek saßen einmal zusammen und unterhielten sich über Politik. Frau Gregorek wollte der bei diesem Thema unvermeidlichen Auseinandersetzung um divergierende Meinungen die Schärfe nehmen und bot sich als Vorbild der Mäßigung an: Sie erklärte, sie könne sich zwar irren, sei aber doch ein Mensch, der stets das Gute wolle und nie das Böse. Sofort schritt Hacks ein: »Aber ich bitte dich, zähle uns nicht dazu!« Er meinte sich und Müller, zwei Schreiber, im Gegensatz zur Schauspielerin. Schreiberinnen und Schreiber nämlich schreiben, was man deuten kann. Die Schauspielerin hingegen deutet gewohnheitsmäßig, was jemand geschrieben hat. Sie kann Richtung Moral arbeiten, gut für sie. Wer dreht aber an welcher Schraube der Behauptung und Deutung, in welcher Richtung? Wird sie festgezogen oder gelockert? So geht Literatur: ein Spiel mit hohen Einsätzen, auch moralischen. Der Ernst der Moral will von Spielen naturgemäß Abstand halten. Soll er. Meine vierte Regel, von der Anekdote bebildert, sagt, zum allgemeineren Zweck-Mittel-Prinzip erweitert: Vermeide beim Schreiben nicht allein den Blick aufs Publikum als Publikum (statt als Stoff-, Themen- oder Formanregung), sondern überhaupt den Blick auf einen außerliterarischen Kunstzweck (again, konsequent durchhalten kann das niemand: Wenn man etwa von Verkauf oder Verleih der schreibenden Kunst lebt, wird der Kunstzweck der Marktgängigkeit vom ersten...


Dath, Dietmar
Dietmar Dath geb. 1970, ist Schriftsteller und Übersetzer. Von 1998 bis 2000 war er Chefredakteur des Magazins für Popkultur »Spex«, seit 2000 ist er Redakteur im Feuilleton der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, dort seit 2011 als Filmkritiker.
Außerdem ist er Romancier (»Die Abschaffung der Arten«, 2008), Dramatiker (»Die nötige Folter«, 2019) und Science-Fiction-Historiker (»Niegeschichte«, 2019).
Preise u.a.: Günther-Anders-Preis für kritisches Denken 2018, Kurd-Laßwitz-Preis 2013 für »Pulsarnacht«, Kurd-Laßwitz-Preis 2009 für »Die Abschaffung der Arten«.



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