E-Book, Deutsch, 966 Seiten
Dath Skyrmionen
1. Auflage 2025
ISBN: 978-3-7518-1030-2
Verlag: Matthes & Seitz Berlin
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Oder: A Fucking Army
E-Book, Deutsch, 966 Seiten
ISBN: 978-3-7518-1030-2
Verlag: Matthes & Seitz Berlin
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
I. Der Kindheit entkommen
1. Bunker unterm Sand
Unique, terrible – and in the sky, uncanny brilliance Substituting for the humanizing sun. louise glück: The End of the World (1985) While in DisCoCat all meanings are fixed as states (i. e. have no input), in DisCoCirc word meanings correspond to a type, or system, and the states of this system can evolve. Sentences are gates within a circuit which update the variable meanings of those words. bob coecke: The Mathematics of Text Structure (2019) Je kleiner die Vögel sind, desto schneller rennen sie über den Sand, dann ins Wasser und wieder raus. Beine sind Nadeln, Kleidchen Laub. Hallo, kleine Vögel! Euer Himmel wartet. Der Nordpol auch. Aber ihr müsst noch rennen, wieso? Renate weiß es nicht. Sie ist neun Jahre alt, dann elf, dann dreizehn, dann vierzehn. Und die Vögel werden immer mehr. Das Kind liebt diese Vögel, die junge Frau auch. Genauso liebt sie den Himmel, den Sand, am meisten den Wind, der in der Nacht von oben kommt, von den Sternen, im Sommer als Kühlung, im frühen Herbst atemwarm, Geruch von Vertrauen und Traum. Als Kind lebt Renate an einem Ort, an dem von Gesetzes wegen keine Menschen leben sollen: Sand, Salzmarsch mit dem grünsten Gras der Welt, langes Wellenfrontenrauschen von Nord nach Süd. Das mächtige Geräusch kommt vom Wrightsville Beach her, mit seinen beiden selbst im Spätsommer noch von Touristen überlaufenen Piers. Es will nach Carolina Beach, mit seinem nahezu naturbelassenen Nordstrand-Park, oberhalb der Marina Street. Dazwischen liegt das Unbetretbare, das Renate manchmal betreten darf, wenigstens in der Nacht, mit den sicheren Großen. Unbetretbar? Nein, es gibt ein bisschen Tourismus hier, per Boot, kompakte Familienshuttles für Ausflüge. Aber das muss immer umständlich angemeldet werden. Minikreuzfahrten führen an der Insel entlang, »cocktail cruises«, »island hops« und ähnlicher Blödsinn. Man kann sich sogar ein privates Dinner organisieren lassen, am Strand, und mit dem Paddelboot durch die Marsch dümpeln. Nach Sonnenuntergang müssen die Leute weg sein. Nicht so Renate, nicht so die sicheren Großen, die sich tagsüber in den glatt ausbetonierten Höhlen verbergen. Sandland, Landsand deckt diese Höhlen ab, breitet sich nach Süden und nach Norden aus als Schleppe für größte Sommer. Manchmal bleibt Renate mit den sicheren Großen hier bis in den frühen September, in den beginnenden Herbst, bleibt unterm Sandland und geht nur in der Nacht nach oben. Am Tag bewohnt sie das in den Schacht gefaltete Haus. Der Vater zeigt es ihr beim ersten Besuch geduldig, morgens um 5, im schwach ersten Licht. Er sagt: »Fenster kennst du. Normalerweise sind die vorne und an der Seite bei Häusern, aber hier ist das einzige Fenster oben, und meistens bedeckt. Und aus besonderem Glas. Ein Trick.« Das alles sagt er auf Deutsch. Sie weiß, dass das Deutsch ist, weil es andere Sprachen gibt, die sie schon kennt. Renate kann Französisch, weil die Frau aus Lausanne ihr das beigebracht hat. Sie mag diese Frau, ihre schlanke Gestalt, die dunkle Haut, die Haltung. Französisch, das ist: mit dieser Frau am Frühstückstisch sitzen, Witze machen, lachen. In den verschiedenen Ländern, in denen Renate lebt, sitzt die Frau mit ihr und einigen sicheren Großen an immer wieder anderen Frühstückstischen. Bis zum ersten Besuch im und unterm Sandland hat Renate in den Sommern oft auf einem Felsen gewohnt, steil, überm grünen Meer, weit östlich und ein bisschen südlich von dem Ort, wo keine Menschen sein sollten, und im Winter lebte sie bis dahin meistens auf einem richtigen Berg mit Schnee, das hieß »Graubünden« da. Wohnen bedeutete immer: sich aufhalten in Häusern mit Fenstern vorn und auf der Seite. Schweiz. Heißt das so? Der Winter? Die sicheren Großen sagen es. In der Schweiz spricht man Deutsch, aber nicht nur. Man spricht da, sofern man denn Deutsch spricht, außerdem anders Deutsch als die Deutschen in Deutschland. Ihr Vater hat Renate richtige Deutsche aus Deutschland vorgestellt. Das Kind dagegen »kommt aus der Schweiz«, so weiß es das selbst. Was heißt das? Renate denkt nicht, wie alle denken, wenn sie darüber nachdenkt, was etwas heißt. Dass Renate aus der Schweiz kommt, heißt für sie, dass es eine kühle Zeit gibt, die so lange her ist, dass ihre Erinnerungen nicht hinkommen, so wie die Hand, wenn der Arm zu kurz ist, nicht ins oberste Regal greifen kann, eine kühle Zeit, die nichts als Schweiz war. In dieser Zeit, die länger her ist als alles sonst Erinnerbare, ist sie immer in der Schweiz, so wie jetzt nur noch manchmal. Das bedeutet »aus der Schweiz kommen«. Manches kommt nicht aus der Schweiz, weil es da bleiben muss. Einige Alpen zum Beispiel. Eine Sorte Vögel oben, draußen, am langen Strand hier in North Carolina, eine Art unter den kleineren, den zahllosen Vögeln, unter den Sternen, die noch viel mehr sind hier, heißt nach den Alpen, die es in der Schweiz gibt: Alpenstrandläufer. Die Federn, die so einer oben am Hals und auf den Flügeln hat, sind nicht hellbraun und nicht dunkelbraun. Sie sind, entscheidet Renate, sofabraun, und dabei denkt sie an das große Möbelstück, auf dem man unten im Erdhaus, im Sandtunnelhaus, am Ende der Wendeltreppe so gut fernsehen kann. Da gibt es nichts, was gerade irgendwo tatsächlich im gesendeten oder per Kabel verschickten Fernsehen kommt, sondern nur Filme, die im Schrank stehen, wenn gerade niemand sie anschaut. Erst sind das Videokassetten, dann, als Renate etwas älter wird, sind es DVDs, dann sind es Blu-ray-Discs. Dann wäre es Streaming geworden, aber zu der Zeit kommt sie schon nicht mehr her. Ob Streaming in dem Schacht überhaupt je stattfindet? Einmal danach gefragt, ist sie sich später, als Erwachsene, nicht sicher, denn es hieße, dass die Rechner unten in der Streamingzeit mit weitläufigen Netzen verbunden gewesen wären. Das war doch sicher nicht erlaubt, man darf ja nicht vergessen, wozu das Ganze überhaupt da war, oder ist, denkt sie, diese Räume, und dann gerät sie ins Schwimmen: Waren und sind das überhaupt Räume dort unten, oder nicht einfach kurze Zwischenstücke von langen Tunnels? Jeder Raum, na gut, hat mehrere Durchgänge, mehrere schwere Eisentüren, einige sind dauerhaft verschlossen. Renate erfährt bereits als Kind: Hier wurde lange im Geheimen gebaut. Der Teil des alleruntersten Bereichs, in dem man ein bisschen wohnen kann, ist ein Knotenpunkt in der Mitte eines Gewirrs von schier endlosen Gängen. Die sicheren Großen reden oft davon, mit vielen seltsamen deutschen Wörtern. Es sind nämlich Deutsche, die das alles für Renates Vater gebaut haben, Ingenieurinnen und Ingenieure, Bauleute, Fachkräfte aller Art aus der Bundesrepublik Deutschland. Deshalb geht es in den entsprechenden Unterhaltungen dann auf gut Deutsch um »Porenrauminjektionen« auf »Zement-Betonit-Basis«, die dazu da sind, »Bodenentzüge beziehungsweise Verbrüche« zu vermeiden, oder man redet über »Brandschutzbeton«, dem man »Polypropylenfasern« beigefügt hat, und über die »Aufschüttung« von Schotter, immer wieder auch über den Sand oben, über Abdichtung, Drainage, über Gutachten, Beratung, Prüfungen. Einmal sind patzige Leute da, die etwas messen sollen, in den »druckdichten Röhren« mit »minimal elf Metern und maximal fünfundzwanzig Metern Überdeckung«. Die Rede ist von »Spannung«, vom »Grundwasserspiegel«, man sorgt sich um alte Versiegelungen mit Spritzbeton. »Kernbohrungen« werden schließlich gemacht. Es ist alles sehr interessant, als Sprachmusik, Renate will es inhaltlich aber gar nicht allzu genau wissen, es klingt halt wie auf dem Bildschirm, in einem Film, wie die Technik für ein Raumschiff oder eine Zeitmaschine, abstrakt faszinierend, eine Welt des Wissens und Könnens, der Kenntnisse und der Fertigkeiten, für die, meint Renate, noch genug Zeit ist, wenn sie mal selbst groß sein muss oder darf. Fachsprachen, denkt Renate, sind Kisten, Kasten und Kästen voll eigener Ausdrücke für je einen sehr genau ausgemessenen Gesichtskreis. Die Fachsprache für den Gesichtskreis »Wir kommen aus der Schweiz« zum Beispiel, mit dem sich Renates Vater manchmal befassen muss, nennt sich »Schwyzerdütsch«. Sie soll nicht »sürmle«, sagt der Vater zum Beispiel, wenn er beim Abendessen mit ihr am langen weißen Tisch sitzt und sie leise Laute von sich gibt, unbewusst manchmal. Dann muss sie über das Wort lachen, mit dem er das benennt. Dann freuen sich beide. Und wenn der junge Helfer Evariste mit der Frau aus...