Kurzgeschichten-Anthologien
E-Book, Deutsch, 172 Seiten
ISBN: 978-3-7534-3253-3
Verlag: BoD - Books on Demand
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Autoren/Hrsg.
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Abbruch Umbruch Aufbruch
Christa Dannenberg
Sie ist bereits Ende 50 und fragt sich: War mein Leben schon oder kommt noch was? Ein glückliches Leben hat sie nicht gelernt, ein unglückliches will sie nicht mehr. Vielleicht ist jetzt die Zeit reif, eigene Bedürfnisse zu erspüren, endlich den eigenen inneren Gesetzen zu gehorchen. Sie kannte sich bisher nur als Erfüllungsgehilfin ihres Umfelds, sei es im Büro oder in ihren beiden trostlosen Ehen, dafür gab es weder Dank noch Anerkennung, vertraute Defizite aus der Kindheit. Abbruch. Nun dieser unbekannte Zustand, nur sich selbst genug sein, ohne feste Struktur, ohne Druck, kein Streit, vor allem keine Liebe – niemals? Sie empfindet nur noch ein Vakuum, ein unfreiwilliger Kokon! Der Tag wird unendlich lang, beinahe feindselig und das Leben verkürzt sich jeden Tag. Die Zeit interessiert sich nicht für mich, grübelt sie, die Zeit macht nur alt. Sie denkt zurück an all ihre verlorenen Jahre, ein an ihren Neigungen vorbeigehendender Beruf, an die zweimal zehn Jahre in jeweils einer vernunftgesteuerten Ehe, alles beschlossen und geschlossen durch anerzogenen Pragmatismus kombiniert mit Existenzangst, stete Begleiter ihrer Kindheit. Nur über den Weg der Krankheit gelingt ihr der Durchbruch in die innere und äußere Freiheit. Freiheit verpflichtet, Erkenntnisse auch. Aufbruch! Sprießende, unbekannte, neue Kräfte sammeln sich, sie ist verwundert. Soll sie einmal Verrücktes wagen, einen Resetknopf drücken, ihren Computer erforschen? Ungeahnte Möglichkeiten. Umbruch. Sie meldet sich mutig bei einer Datingplatform an. Viel muss man hier preis geben, von sich und seinem Inneren, eine Art Präsentierteller, Druck stellt sich ein und das Schlimmste: Es muss ein passables Foto her. Ein neuralgischer Punkt – sie ließ sich schon als Kind nur unter Zwang fotografieren, lächelte nie. Sie war es nicht – auf keinem Bild. Endlich ist ihr Profil erstellt, sehr unsicher noch, sendet sie es nun in eine unberechenbare Welt. Vorsichtig prüfend, öffnet sie am nächsten Tag ihr Postfach. Sie traut ihren Augen nicht, nicht ihrem Verstand, nicht ihrem Gefühl, sie ist verwirrt. Jede Menge Zuschriften von Interessenten, alles ansehnliche Männer, bitten um Kontaktaufnahme. Sie liest und forscht in den Profilen Altersangaben, angedeutete Wünsche und Hoffnungen, Fotos, sympathische Kandidaten Sie glaubt sich in einem Abenteuerland, da knallt ein neues Profil auf den Bildschirm, beinahe aufdringlich, bebend staunt sie: ein atemberaubendes Männerbild – ein Bild von Mann – ein Filmstargesicht – zu schön für ein banales Leben, denkt sie. Fiebernd liest sie seinen englischen Text, da ist schon der kleine Haken sinniert sie, er ist in Florida wohnhaft, möchte aber eine deutsche Frau und zwar sie, sie sei es, die eine von der er angeblich immer geträumt hat. Moment – beruhigt sie sich – sie ist also seine Traumfrau? Ja, ihr Foto hätte ihn sofort gefangen genommen, filtert sie aus dem langen Text heraus. Sie fühlt sich auch gefangen und befangen, in ihrem Inneren scheinen sich alle Organe zu verschieben, sie fühlt sich schwindelig und gleichzeitig in einem Glückstaumel. Er will mehr, alles, über sie wissen, sie soll für diese Infos einen sogenannten Messenger außerhalb der Datingplatform einrichten, und: ihr Profil sofort löschen, um andere Kandidaten auszuschließen. Dieser Mann weiß was er will, fasziniert von diesem männlichen Verhalten, erkundigt sie sich nach einer unruhigen Nacht bei ihrem computererfahrenen Nachbarn über die Einrichtung eines Messengers. So geht sie neue Wege des Kennenlernens . Er ist Geschäftsmann für elektronische Geräte, international tätig, weltoffen, deshalb möchte er auch andere Kulturen und Länder kennenlernen, sportlich, er habe gute Manieren, erfährt sie. Auch sie teilt alle Details ihrer Situation mit. Gefühlvoll, mit guten Wünschen für den Tag und die Nacht verabschiedet er sich. So geht es die nächsten Tage weiter, sie formulieren schon Zukunftsvisionen, voll Liebe und Erfüllung und dazu der Sonnenschein in Florida. Auch intime Fragen, wie lang man schon ohne Partner sei, Wünsche, Hoffnungen werden ausgetauscht. Liebesgrüße am Morgen, Gute Nachtwünsche und sensible Worte begleiten sie in den Schlaf. Ihr Glückskarussell dreht sich. sie schläft nicht, ihr Kreislauf läuft im Kreis, sie schwebt, blüht, verglüht. Sie legitimiert sich vor sich selbst, sie habe nach all den Entbehrungen und Härten das Recht auf einen inneren Lichtschacht. So tauschen sie weiter ähnliche, beglückende Empfindungen aus, bewegen sich ihren beiderseitigen Traumvorstellungen entgegen. Sie fragt sich in den Nächten, wie es sein kann, sich an einen eigentlich Unbekannten so zu verlieren, so zu vertrauen. Ein Foto, schöne ergreifende Texte, überbordend. Nie Gelesenes, nie Erlebtes, nur Ersehntes-nun alles auf einmal. Ein Rauschzustand, Worte die streicheln, sie hat kein Zeitgefühl, auch kein Bedürfnis sich ihrer Umwelt mitzuteilen. Nur schreiben an ihn, sie wird poetisch, was ihr erstaunlicherweise leicht in englischer Sprache fällt, das Wörterbuch stets in ihrer Nähe, längst ein enges Bündnis. Der Wunsch, seine Stimme zu hören, wird stark, sie hat genaue Vorstellungen wie sie sein wird: sanft, zärtlich, männlich, passend zum ausgedruckten Foto, sie spürt Wärme – überall! Sie teilt ihm ihre Telefonnummer mit. Und mitten in der Nacht schrillt ihr Telefon, zitternd hebt sie ab: Ein kratziges, beinahe aggressives „Hello“ im seltsam unbeholfenen Englisch, amerikanisches Englisch? Nein, kein amerikanisches, notiert sie im Hinterkopf. Während die seltsame Stimme enttäuschend Belangloses fragt, läuft parallel der Vergleich zwischen Foto und Stimme, wie geht das zusammen? Das Foto ist Gold, die Stimme Blech. Holprig, und unkonzentriert läuft der dünne Gesprächsfaden weiter, während in ihr unheilvolle Ahnungen aufsteigen. So endet das sprachliche Intermezzo, sie schläft nicht, Wachsamkeit dominiert sie. Ein neuer Morgen, fast furchtsam schaut sie in ihren PC. Die bereits vertrauten, verwöhnenden Zeilen begrüßen sie, auch lobt er ihre sexy-Stimme, sie erwähnt die seinige nicht, immer noch hoffend, sie sei im Irrtum ihrer inneren Warnung. Sie will und muß weiter vertrauen! Sie wird belohnt! Er will sie dringend in Deutschland besuchen, er will ihr Umfeld kennen lernen, er will zu ihr. Zuvor läßt er sie wissen, müsse er noch einen wichtigen Deal in Westafrika abwickeln, Vom hohen Gewinn ist die Rede, die Ware wäre bereits auf dem Seeweg, dann müsse er persönlich vor Ort sein, um das Geld wegen der Korruptionsgefahr im Lande zu sichern. Mit diesem Gewinn könnten sie dann Luxustage in Paris verbringen und mehrere Wochen in ihrer Heimat bleiben. Sie steht in Flammen, welch ein Entgegenkommen! Zwei Tage muss sie nun ohne seinen Kontakt auskommen, da er die Geschäftsreise und die Abwicklung durchführen muß. Natürlich hat sie volles Verständnis für seine Situation, sie wird ja um so mehr belohnt. Mit diesen Gedanken an ihn und Afrika umhüllt sie ein leichter Schlaf, der jäh durch einen Anruf unterbrochen wird. Schon im Moment des Abhebens stößt ihr ein wildes „I need you – Help!“ entgegen, fordernd, unhöflich, sie solle weitere Erklärungen im Messenger lesen. Ende des Gesprächs. Völlig geschockt, verwirrt, angstbebend, Böses ahnendes startet sie den PC. Eine schlimme Nachricht, voller Konfusion, er werde genötigt, erpresst von afrikanischen Zollbehörden. Er muß hohe, unvorhersehbare Summen zur Freigabe seiner Ware zahlen. Diese Summe habe er nicht bei sich, der Besuch in Deutschland sei somit auch gefährdet. Sie, nur sie, kann ihn retten, liest sie, er benötigt dringend 5000 Euro, per Blitzüberweisung, sie könne jetzt ihre Liebe beweisen, selbstverständlich bekäme sie das Geld sofort zurück. In ihrem Leben stets hilfsbereit, denkt sie fieberhaft über eine Lösung nach. Sie selbst hat sich noch nie Geld leihen müssen. Diese Ausnahme würde sie nur für ihn machen, aber es gibt niemanden, der helfen könnte. Sie schreibt ihm flatternd, sie könne keine finanzielle Hilfe leisten, will ihn trösten, verspricht nach Möglichkeiten zu suchen. In dieser NACHT antwortet er nicht mehr. Ihr Herz scheint mit Stacheldraht umwickelt zu sein, so groß ist der Schmerz, sie fällt in einen komaähnlichen Schlaf. Am nächsten Morgen aber warten wieder versöhnliche Zeilen auf sie, er entschuldigt sich, sie solle doch nochmal über Hilfe nachdenken. Er würde wieder anrufen. Vor...