E-Book, Deutsch, 192 Seiten
Reihe: zur Einführung
Därmann Theorien der Gabe zur Einführung
1. Auflage 2017
ISBN: 978-3-96060-030-5
Verlag: Junius Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 192 Seiten
Reihe: zur Einführung
ISBN: 978-3-96060-030-5
Verlag: Junius Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Was hat es mit dem Schenken auf sich? Woher kommt die Verpflichtung, die Gabe - zumindest mit einem Dank - zu erwidern? Woran rührt die Reserve, Geschenke wie bloße Dinge oder Waren zu behandeln? Und warum müssen Gaben überflüssig und unnötig sein? Der Essay über die Gabe von Marcel Mauss gehört zu den prägenden Klassikern der Soziologie und hat einen der wichtigsten Traditionsstränge der französischen Theoriebildung begründet. In dieser Einführung zeigt Iris Därmann, dass Mauss eine Ordinary Culture Theory entwirft, die das Entstehen von Sozialität neu denkt und sich als Alternative zur klassischen politischen Philosophie anbietet. Zugleich rekonstruiert der Band die dichte Rezeptionsgeschichte des Mauss'schen Denkens, für die Namen wie Georges Batailles, Claude Lévi-Strauss, Jacques Derrida und Michel Serres stehen.
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III. Georges Bataille: Opfergewalt, Potlatch und exzessive Verausgabung
»Die Zerstörung beunruhigt zutiefst und reinigt so die Souveränität selbst.«32 Batailles Theorie der Verausgabung und sein Konzept der allgemeinen Ökonomie gehen erklärtermaßen auf Marcel Mauss’ »meisterhaften« Essay über die Gabe und dessen Analyse des nordwestamerikanischen Potlatch zurück (VT 99f.). Im Potlatch will Bataille jedoch nicht das Gefüge der kulturellen Praktiken des Gebens, Nehmens und Erwiderns wiederfinden, nicht einmal in erster Linie die fremdkulturelle Ausgestaltung eines ostentativen Konsums und einer »archaischen Luxusindustrie« (VT 109), die, wie noch Mauss hoffte, für den europäischen Kapitalismus beispielhaft werden könnte. Was Bataille im Potlatch vor allem anzutreffen hofft, folgt der Spur einer Faszination durch die Grausamkeit des blutigen Opfers, das für immer einer untergegangenen Welt und Gemeinschaft anzugehören scheint. Bataille weiß, dass der Schrecken des Opfers für die heutige Welt unwiederbringlich verloren ist, nicht ohne sich unaufhörlich nach der Souveränität gewalttätiger Opferhandlungen zu sehnen und mimetische Ersatzformen der Zerstörung heraufzubeschwören, die, wie Die Kunst, Ausübung von Grausamkeit,33 der irreduziblen Trennung der Menschen und aller übrigen Lebewesen in der unblutigen Simulation des Todes für die Dauer eines intimen Augenblicks ein Ende bereiten könnten:34 Bataille weiß, dass er die Menschenopfer der Azteken und der antiken Welt, selbst das blutige Voudou-Opfer und die zeitgenössische chinesische Folter der hundert Teile als explosive Praktiken souveräner Verausgabung aufgrund ihrer radikalen Unzugänglichkeit und Fremdheit verloren geben muss. Er weiß, dass er die Opfer wegen ihrer äußersten Gewalttätigkeit preisgeben und verurteilen, den nostalgischen »Ruf nach ihrer Wiederkehr« und das sadistische Begehren nach Einswerdung im Schrecken der Massaker zum Schweigen bringen muss. Doch trotz dieser Unmöglichkeit, das Opfer – heute – zu rechtfertigen und wieder zu beleben, bleibt Bataille im Widerstand gegen die Instrumentalität und die utilitaristische Ordnung der Dinge auf das Opfer gespannt – auf das interesselose Selbstopfer, die rückkehrlose Vernichtung der Objekte und die mimetische Darstellung der Opfergewalt; will es ihm weder in Der verfemte Teil noch in Der Begriff der Verausgabung noch auch anderswo gelingen, das Opfer zu opfern. So spinnt er ein Band der Kontinuität zwischen den alten, gewalttätigen Opfern und den unproduktiven Verausgabungen der Gegenwart – Potlatch, Luxus, Erotik, Künste,35 Rausch –, um mit ihnen die verblichenen und verwüsteten Zeichen einer religiösen Erfahrung ohne Religion erneut heillos zum Strahlen zu bringen: »das Opfer […] ist die religiöse Erfahrung par excellence«.36 Was Bataille im Essay über die Gabe sucht, ist daher der reine Verlust und die Zerstörung der Reichtümer, jenes Ideal eines ruinösen Potlatch also, »der nicht erwidert werden kann« (VT 102). Genauer: Er sucht alles das, was den Potlatch – in seinen Augen – zu einer »komplementären Form« der Institution des Opfers macht (VT 108). Dabei handelt es sich um ein Opfer, das es in der von Bataille erfundenen Gestalt zweifellos niemals gegeben hat. Seine antiethnografische Interpretation und Kritik des Potlatch, seine Verschwendungs- und Ökonomietheorie stehen damit nicht nur quer zur Gaben- und Opfertheorie von Mauss; sie bleiben auch in einem spezifischen Opferdispositiv befangen, das es zunächst einmal in seiner eigentümlichen metaphysisch-christlichen Fassung zu konturieren gilt, bevor der Potlatch in seiner kolonialen Transformation und Batailles spezifische Lesart des Potlatch skizziert sowie schließlich die Frage nach den möglichen kulturtheoretischen Implikationen seines Konzepts der allgemeinen Ökonomie aufgeworfen werden kann. 1. Das Opfer, Ausübung von Grausamkeit
Bataille will Blut sehen. Überall, nicht nur in den unzugänglichen Winkeln, sondern selbst in den offensichtlichen Passagen seiner Schriften findet sich eine verstörende Verherrlichung von Gewalt, kaum gebändigt durch den zweideutigen Schrecken, den sie selbst ihm einflößt. In Die Tränen des Eros macht Bataille seine Leser zu Zeugen dieser äußersten Anziehungskraft, die die Kultur der Gewalt auf ihn ausübt. Er präsentiert dort die Fotografie des am 25. März 1905 durch den chinesischen Kaiser zum langsamen Tod durch Zerstückelung Verurteilten Fu-Tschu-Li, dem im Augenblick der vollstreckten Folter die Haare zu Berge stehen und der mit verdrehten Augen blicklos in den Himmel schaut: »Dieses Bild hat in meinem Leben eine ausschlaggebende Rolle gespielt: Dokument eines zugleich ekstatischen (?) und unerträglichen Schmerzes, ist es mir nicht mehr aus dem Sinn gekommen. Ich denke, daß Sade, der von einer solchen Folter träumte, aber keine Gelegenheit hatte, an einer wirklichen teilzunehmen, großen Gewinn aus der Abbildung gezogen hätte.«37 Die Differenz oder der Bruch zwischen wirklicher und mimetisch abgebildeter Foltergewalt fällt, zumindest für den Betrachter, kaum ins Gewicht, sofern sie nur ein Grauen zu erregen vermag, das, jedenfalls bei Bataille selbst, im »Gewinn« der Ekstase mündet (was den Gefolterten angeht, so ist sich Bataille, wie das Fragezeichen signalisiert, im Hinblick auf die Ekstase nicht ganz sicher). Das operative Bild der Folter wirkt, indem es sich an die Stelle der realen Folter setzt, indem es die Folter im Betrachter auf dem Wege mimetischer Identifizierung weiterwirken und ihn so auf unblutige Weise an einer Welt des Grauens partizipieren lässt, von der er sonst ausgeschlossen bliebe. Paradoxerweise ermöglicht die mimetische Identifizierung mit dem bloßen Bild – sei es nun die »Malerei des Schreckens«38 oder aber eine Fotografie der Folter – eine wirkliche Teilhabe an der Opfergewalt: »Diese Gewalt – und ich kann mir noch heute keine irrsinnigere, grauenhaftere Gewalt vorstellen – erschütterte mich dermaßen, daß ich eine Ekstase erlebte.«39 Bataille kostet und stellt sein ambigues Erlebnis freilich nicht nur literarisch aus, sondern zieht daraus auch weitreichende Schlüsse, wenn er im Folgenden die religiöse Ekstase in einem »schrecklichen Einverständnis«40 mit der sadistischen Erotik kurzschließt, alsdann eine Identität zwischen dem Grauenerregenden und der Religion, dem Uneingestehbarsten und dem Erhabensten schlechthin, behauptet und schließlich die Religion durchgängig auf das Opfer gegründet sieht. Und nun gar die Wahrheit der Erotik – sie erschließe sich nur in der mit der Opfergewalt einhergehenden religiösen Erotik.41 Welche (vermeintliche) Wahrheit aber exponiert die Gewalt des religiösen Opfers? In seiner zwischen März und Mai 1948 geschriebenen und posthum publizierten Theorie der Religion zieht Bataille eine Trennungslinie zwischen Töten und Opfern: »Opfern heißt nicht töten, sondern preisgeben und geben«, um diese Linie jedoch sogleich wieder zu verwischen und dem gewalttätigen Opfer eine ungleich stärkere Illustrationskraft als der Opfergabe zuzugestehen: »Das Töten stellt nur einen tieferen Sinn klar heraus.« (ThdR 43) Einige Jahre zuvor, in Der Verfemte Teil, lässt Batailles Entschlossenheit, der Gewalt ihren opferrituellen Lauf zu lassen, an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig: »Das Opfer ist die Glut, in der die Intimität derer, die das System der gemeinsamen Werke bilden, sich wiederfindet. Die Gewalt ist sein Prinzip.« (VT 90)42 Das gewalttätige Opfer, wie Bataille es erfindet, ist dazu bestimmt, sich »auf der Höhe des Schlimmsten« in seinen zeitgenössischen Supplementen auf unblutige Weise zu wiederholen.43 Es stellt eine reservelose Rückgabe der in der profanen Welt vernutzten und dienstbar gemachten Dinge an die heilige Sphäre dar. Was den Übergang der nützlichen und auf ihre bloße Servilität reduzierten Dinge in die Welt des Heiligen sichert, ist ihre »gewaltsame Verzehrung«, die sie selbst noch ihrer Dinglichkeit entreißt (VT 90). »Der genaue Sinn des Opfers ist, das zu opfern, was zu etwas dient« (ThdR 44); Pflanzen und Tiere ebenso wie Könige, Kinder, Fremde oder Sklaven (VT 91), die in der profanen Welt des Nutzens und der Produktion unterschiedslos zu servilen Dingen herabgewürdigt werden und dabei selbst noch denjenigen, der sich ihrer schadlos bedient, zum Ding oder zur Ware degradieren: Denn »niemand kann«, so dialektisiert Bataille die Beziehung von Herr und Knecht, »sein anderes Selbst, das der Sklave ja ist, zu einem Ding machen […], ohne sich selbst die Grenzen eines Dinges zu geben« (VT 86). Die Dinge und verdinglichten Lebewesen können nur dadurch der utilitaristischen Ordnung (der Arbeit, Werke, Werkzeuge,...