E-Book, Deutsch, 192 Seiten
ISBN: 978-3-446-26143-3
Verlag: Carl Hanser
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
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Gedächtnistheater.
Die inszenierte Erinnerung
Ende letzten Sommers veranstaltete ich mit Freund*innen einen Filmabend auf einem Flachdach im Südosten Berlins. Popcorn in der einen, Bier in der anderen Hand, saßen wir auf der Dachpappe und schauten den Film I Am Not Your Negro1 über den US-amerikanischen Denker und Aktivisten James Baldwin. In den letzten Jahren habe ich Baldwin schätzen gelernt, trotz der merkwürdigen Dinge, die er über Juden gesagt hat. Mich beeindruckt, wie es ihm gelingt, in größter Ruhe Sachverhalte auf den Punkt zu bringen, deren Konsequenzen einem dann unerwartet den Nacken klatschen. Zum Beispiel folgendes Zitat: »Geschichte ist nicht die Vergangenheit. Sie ist die Gegenwart. Wir tragen unsere Geschichte mit uns. Wir sind unsere Geschichte.«2 Mir fällt eine deutsche Entsprechung dieser Passage ein, nämlich der Eröffnungssatz des Buches Kindheitsmuster von Christa Wolf: »Das Vergangene ist nicht tot; es ist nicht einmal vergangen. Wir trennen es von uns ab und stellen uns fremd.«3 Beide Autor*innen unterstreichen die zentrale Rolle, die Geschichte für uns spielt. Beide behaupten, dass die Vergangenheit auch dann in der Gegenwart fortwirkt, wenn wir das nicht wahrhaben wollen. Und beide warnen vor den Konsequenzen, die eine Verweigerung dieser Einsicht für uns hat. Ich halte also fest, dachte ich, während ich eine neue Flasche Bier öffnete, dass ich mich in meinem Buch zuerst mit der deutsch-jüdischen Geschichte befassen werde. Dann stieß ich mit den anderen an. Als ich am nächsten Mittag mit dem zweiten Liter Kaffee vor meinem Laptop saß, fingen die Probleme natürlich erst so richtig an. Denn die Erinnerung, nun ja, die Erinnerung ist die Achillesferse Nachkriegsdeutschlands. Zum 40. Jahrestag des Kriegsendes in Europa hielt Bundespräsident Richard von Weizsäcker am 8. Mai 1985 im Bundestag eine Rede, die als zentrales Dokument einer neuen deutschen Perspektive auf den Zweiten Weltkrieg gilt. Und tatsächlich muss man der Rede zugutehalten, dass sie auf einer Auseinandersetzung der deutschen Gesellschaft und der deutschen Politik mit dem Nationalsozialismus besteht. Das war neu damals. Zugleich aber beeindruckte der Bundespräsident die anwesenden Parlamentarier mit der Behauptung, der 8. Mai sei für die Deutschen ein Tag gewesen, an dem man »von dem menschenverachtenden System der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft«4 befreit worden sei. Diese Aussage ist so offensichtlich unwahr, dass ich mich immer wieder frage, was Weizsäcker motivierte, so etwas zu sagen. Denn die Mehrheit der Deutschen wurde am 8. Mai 1945 natürlich nicht befreit. Sie wurde endgültig besiegt, nachdem sie bis zum bitteren Ende und weit darüber hinaus die Naziherrschaft unterstützt hatte. Der Nationalsozialismus ist nun einmal eine echte Volksbewegung gewesen. Als Rechtswissenschaftler und Historiker wusste Weizsäcker, was er da sagte, und offensichtlich ging es ihm nicht um die Beschreibung der historischen Fakten, sondern um eine neue Form von Erinnerung an die nationalsozialistischen Verbrechen. Das machte er im weiteren Verlauf seiner Rede deutlich. Nach der Aufzählung einer Reihe von Opfergruppen nationalsozialistischer Verbrechen kam er da nämlich auch auf die Juden zu sprechen. Und ihnen hatte er in seiner Rede die Rolle einer Modellgruppe nationalsozialistischer Verbrechen mit ganz besonderer Funktion zugedacht. Passend zitierte er nicht etwa aus der christlichen Überlieferung, sondern kurioserweise einen Ausspruch des chassidischen Legendenrabbis Baal Schem Tov: »Das Vergessenwollen verlängert das Exil, und das Geheimnis der Erlösung heißt Erinnerung.«5 Das war eine ziemlich fette Rübe, die Weizsäcker den Abgeordneten da vor die Nase hielt: Erinnert ihr Deutschen euch an die Judenvernichtung, und ihr werdet nicht nur Vergebung finden, sondern Erlösung. Diente der Verweis auf den Baal Schem Tov dabei als eine Art Koscher-Stempel, der lebende oder tote Juden und Jüdinnen als Kronzeugen für die Forderung nach Erinnerung bemühte? Die Antwort hängt davon ab, wie es in der Rede weiterging. Und da argumentierte Weizsäcker, dass man den Juden gegenüber eine besondere Verpflichtung habe, denn: Die Erinnerung ist die Erfahrung vom Wirken Gottes in der Geschichte. Sie ist die Quelle des Glaubens an die Erlösung. Diese Erfahrung schafft Hoffnung, sie schafft Glauben an Erlösung, an Wiedervereinigung des Getrennten, an Versöhnung. Wer sie vergißt, verliert den Glauben.6 Wir reden hier immer noch über das Ereignis, das die einen als Brandopfer, griechisch Holocaust, bezeichnen und das Juden und Jüdinnen Shoah nennen, was Katastrophe heißt. Richtig? Nun weiß ich nicht genau, wie es anderen geht, aber für mich ist die Shoah beileibe kein gutes Beispiel für die »Erfahrung vom Wirken Gottes« — und auch keine »Quelle des Glaubens an Erlösung«, eher umgekehrt: Die Shoah ist der Punkt, an dem für mich der Glaube an Gott fragwürdig wird. Aber darum ging es Weizsäcker gar nicht, er wollte auf etwas anderes hinaus. So fuhr er fort: Würden wir unsererseits vergessen wollen, was geschehen ist, anstatt uns zu erinnern, dann wäre dies nicht nur unmenschlich. Sondern wir würden damit dem Glauben der überlebenden Juden zu nahe treten, und wir würden den Ansatz zur Versöhnung zerstören.7 Aha, so ist das also. Die deutsche Erinnerungskultur ist ein Akt der Demut, dazu angetan, dem Glauben der Juden nicht zu nahe zu treten. Die Judenvernichtung ist also eine Glaubensfrage? — Ich dachte immer, sie wäre etablierter Fakt. Nur gut, dass das Geheimnis der jüdischen Erlösung zufällig ebenfalls Erinnerung heißt, da können die Deutschen gleich zwei Dinge in einem Abwasch erledigen: Vergebung und Erlösung. Als hätte Weizsäcker den anwesenden Parlamentariern noch einmal erklären müssen, warum die Erinnerung an den Nationalsozialismus eigentlich wichtig ist, unterstrich er in seiner Rede, dass man sich den Juden zuliebe erinnern solle. Das Ganze erinnert mich an folgenden jüdischen Witz: Was ist Chuzpe? Chuzpe ist, wenn jemand seinen Vater und seine Mutter umbringt und dann vor Gericht um mildernde Umstände bittet, weil er so ein armes Waisenkind ist. Den Verweis auf die »jüdische Tradition« als Argument für ein deutsches Erinnerungsgebot finde ich deplatziert. Weizsäcker ging es nämlich gar nicht um die Juden. Stattdessen wollte er Deutschland ein neues Selbstbild verkaufen, das die Erinnerung an den verlorenen Krieg positiv konnotierte. Darum beschrieb er den 8. Mai 1945 als Befreiung und nicht als die krachende Niederlage, als die ihn die meisten Deutschen erlebt haben. Das erklärt auch, warum er eine jüdische Tradition herbeizitierte, womit die Erinnerung der Täter*innengemeinschaft an den Holocaust schon fast ein bisschen sexy wirkte: Befreiung durch die Alliierten und Erlösung durch die jüdischen Opfer, das ist doch besser als die eine Hand am Gashahn und Nazis bis zum Schluss. Mit seiner Rede wollte Weizsäcker der deutschen Gesellschaft die Erinnerung an ihre eigenen Verbrechen schmackhaft machen. Und die Deutschen bissen an. Und zwar so genüsslich, dass das wiedervereinigte Land sich wenige Jahrzehnte später mit vor Stolz geschwellter Brust als Erinnerungsweltmeister inszenierte. Weizsäckers Rede ist ein Meilenstein der deutschen Entdeckung der vernichteten Juden für das eigene Selbstbild. Diese Entdeckung der Vergangenheitsbewältigung hatte gravierende Folgen für die lebenden Juden und Jüdinnen in Deutschland, die sich fortan im Zentrum einer deutschen Selbstinszenierung wiederfanden. Der jüdische Soziologe Y. Michal Bodemann widmete dieser Inszenierung 1996 die bereits erwähnte Untersuchung Gedächtnistheater. Die jüdische Gemeinschaft und ihre deutsche Erfindung8, wobei er zentrale Gedanken bereits 1991 in einem Aufsatz für die Zeitschrift Babylon vorweggenommen hatte9. In dem Aufsatz beschrieb Bodemann, wie sich in den Achtzigerjahren in der westdeutschen Gedenkkultur eine Form der Erinnerung durchgesetzt habe, in deren Folge »Auschwitz und die Kristallnacht zum gemeinsam durchlittenen, romantisiert verklärten Horror [geworden seien]: von Juden und guten Deutschen gegen die bösen gesellschaftlichen Mächte«.10 Aber bereits Ende der Siebzigerjahre hatte der deutsche Staat zunehmend jüdische Gedenkfeierlichkeiten unterstützt....