Cross Die Kunst der Täuschung
1. Auflage 2015
ISBN: 978-3-641-15787-6
Verlag: Blanvalet
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Thriller
E-Book, Deutsch, 544 Seiten
ISBN: 978-3-641-15787-6
Verlag: Blanvalet
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
A. J. Cross ist forensische Psychologin und häufig als Gutachterin vor Gericht tätig. Sie studierte und promovierte an der Universität in Birmingham. In ihrer Eigenschaft als forensische Psychologin arbeitete sie in ihrer Heimatstadt u.a. mit Bewährungshelfern der Abteilung für Sexualstraftäter zusammen. A. J. Cross lebt mit ihrem Ehemann in den West Midlands, England.
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1
Im schwindenden Nachmittagslicht machte er lautlos einen Schritt vorwärts und beobachtete, wie die Gestalt den Arm hob und mit zwei aneinandergelegten Fingern auf die glänzend schwarzen Saatkrähen und großschnäbligen Raben jenseits des Wassers zielte. Als ein lautes Peng! ertönte, sah er die Vögel in einem einzigen Schwarm auffliegen und bewegte sich dann weiter – trotz seiner Masse lautlos –, bis er fast den Rücken der hellgrauen Outdoorjacke berühren konnte. Noch ein lautloser Schritt, dann streckte er eine Hand aus und packte den vor ihm Stehenden an der Schulter. »Ha!«
Die Gestalt in der grauen Jacke fuhr herum, wäre beinahe im Schlamm ausgerutscht. »Was soll dieser Scheiß, du fetter Idiot?«
Bradley Harper grinste und zeigte nach vorn. »Sieh mal da oben, Stuey. Schau dir das an!«
Stuey ignorierte seine Aufforderung. Er hatte es gesehen. Er brauchte keinen weiteren Blick auf das ebenerdige Gebäude mit dem tief heruntergezogenen Dach zu werfen, das geduckt zwischen knorrigen Eichen stand. Stattdessen konzentrierte er sich darauf, die schmutzigen Sohlen seiner Sportschuhe an Grasbüscheln abzuwischen. »Die haben hundertfünfzig Eier gekostet, du Schwachkopf.« Er zeigte auf den jungen Baum neben ihm. »Brich ein paar dünne Zweige ab, damit wir eine Falle bauen können.«
Harper sah widerstrebend zu dem Baum hinüber. Er kannte diese Vorliebe seines Freundes für Wildtiere recht gut. Und auch für weniger wilde. Die Lehrer in der Schule wussten noch immer nicht, was mit den drei Meerschweinchen passiert war, die im Laborgebäude der Schule gelebt hatten, aber Harper wusste es: Stuey war ihnen passiert. Harper ließ sich nicht beirren und streckte erneut die Hand aus. »Das ist eines dieser Sommerhäuser. Meine Mom hat mir erzählt, dass hier ein paar große alte Häuser gestanden haben, bevor die Gegend als Naturschutzgebiet ausgewiesen wurde. Ich wette, dass es zu einem davon gehört hat.«
Aber Stuey war bereits unterwegs. Seine unberechenbare Laune hatte sich durch diesen weiteren Hinweis auf das geduckte Gebäude und die plötzlich einsetzenden schweren Regentropfen sprunghaft verschlechtert. »Yeah, und deine Alte ist ’ne fette Schlampe und ihr Kerl ein Fettsack, der vom Klauen lebt!«, rief er über die Schulter zurück.
»Nein, sie … Hey, wo willst du hin?«
»Ich werde wohl kaum hier in Kälte und Regen rumhängen. Wenn du hierbleiben willst, bis es dunkel wird und die Kinderficker zum Spielen rauskommen, kannst du das meinetwegen tun.« Um eine letzte boshafte Bemerkung anzubringen, drehte er sich sogar um. »Vielleicht ist das ja dein Ding.«
Harpers blasses rundes Gesicht lief rot an, während er dem Weggehenden nachsah. »Das ist schon ewig lange her.«
Stuey vergrößerte den Abstand zwischen ihnen weiter. »Soll sich nur einer trauen, sich an mich ranzumachen! Ich schneid ihm die …«
Harper hatte diese Äußerungen oft genug gehört, und während er sie ausblendete, starrte er hinter der teuren Jacke und den Sportschuhen her und beschloss, auf Stueys ausgeprägte Habgier einzugehen. »Denk darüber nach, ja?«, rief er. »Vielleicht finden wir dort drinnen was, das wir …« Ohne Vorwarnung wurde der Regen plötzlich zu einer Sintflut. Harper machte kehrt, zog die Kapuze über sein zerzaustes blondes Haar und trabte zu dem etwas erhöht liegenden kleinen Haus hinüber. Er stapfte die wenigen Stufen zum Eingang hinauf, rüttelte an den beiden Türgriffen und warf sich atemlos herum. »Abgesperrt! Los, komm schon, hilf mir!«
Ob Geräteschuppen oder Sommerhaus, jedenfalls würde der kleine Bau Schutz vor dem Unwetter bieten, und Stuey war schon umgekehrt. Er kam die Stufen heraufgestürmt und warf sich mit geübtem Schulterschwung gegen die Tür. Die Angeln kreischten laut, als die beiden Türflügel erzitterten und dann krachend nachgaben.
Sie traten ein, und Harper, dessen geflüsterte Worte als Atemwolken sichtbar waren, brach das Schweigen als Erster. »Ich find’s klasse, Stu. Vor allem trocken. Keiner weiß, dass wir hier waren, und …«
Stuey schlurfte über den Fußboden, hauchte sich in die Hände. »Hier ist’s scheißkalt, und es gibt nichts zu holen.« Seine Aggressivität wich jäher Listigkeit. Er drehte sich um. »Weißt du, was diese Bude braucht?«
»Nein, was?«
Auf dem glatten Gesicht unter dem modisch geschnittenen dunklen Haar erschien ein Grinsen. »Ein … nettes … warmes … Feuer«, sagte er langsam und nachdrücklich.
Harper musterte seinen Freund mit raschem Blick. Auch er sprach jetzt nachdrücklich langsam. »Lass das, ja? Beruhig dich ein bisschen. Ich weiß, dass …«
»Scheiße, halt die Klappe. Du weißt überhaupt nichts.«
»Okay … okay«, sagte Harper beschwichtigend. Er fuchtelte nervös mit seinen pummeligen Händen herum, während er beobachtete, wie Stuey wieder begann, rastlos herumzutigern. Wahrscheinlich hatte er seine Medizin wieder nicht genommen. »Wir bleiben ’ne Weile hier, ja? Hier ist’s hübsch nett und ruhig. Zieh’n uns ein paar Kippen rein, und wenn der Regen aufhört … Nein, Stu, lass das!«
Der teure Sportschuh trat krachend ein Loch in die kahle Wand. »Feuer braucht Holz. Siehst du? Furztrocken.«
»Lass das, Stu. Ich will nicht …«
Stuey brach seinen jähen Vandalismus ab und fixierte den anderen mit starrem Blick. »Was? Du willst was nicht?« Dann stürzte er sich ohne Vorwarnung auf Harper, und die beiden gingen zu Boden. Das Gewirr aus um sich schlagenden und tretenden Gliedern kam erst zum Stillstand, als Holz mit lautem Krachen unter einem schweren Stiefel zersplitterte. Sie setzten sich auf und betrachteten den Fußboden an der Stelle, an der er an die Holzwand stieß. »Sieh dir an, was du gemacht hast!«, krähte Stuey.
Harper starrte schwer atmend zu dem Loch in der Nähe der morschen Sockelleiste hinüber, auf die Stuey zeigte. Er beobachtete, wie Stuey dort hinüberging und sich auf ein Knie niederließ, um die beschädigten Dielenbretter zu packen und hochzuziehen. Harper war jetzt müde. Ihm war kalt. Er wollte keinen weiteren Ärger mehr. Er hatte genug von Stuey und wollte nicht mehr hier sein. Er wollte nach Hause. Wenn er heimkam, würde er seine Mutter bitten, ihm Pommes zu machen. »Du hast recht. Komm, wir gehen. Weiß du was?« Er sah sich nach den dunkler werdenden Fenstern um. »Ich hab was gehört, glaub ich.«
Stuey war noch immer mit dem Loch beschäftigt, ließ seine Finger über das zersplitterte Holz gleiten und zeigte dabei jene starre Konzentration, die Harper und jeden anderen, der sie aus der Nähe erlebte, immer nervös machte. »Dieses Zeug ist furztrocken. Los, komm schon! Wir reißen den Boden noch mehr auf.« Er riss an einem weiteren Fußbodenbrett, das ein hohes Kreischen von sich gab, als es zersplitterte. Stuey schnalzte mit den Fingern. »Her mit der Taschenlampe, die dein Alter geklaut hat.«
Harper rappelte sich auf, weil er Ärger witterte. »Nein. Er hat gesagt, dass ich sie nirgendwohin mitnehmen darf. Er kommt heute Abend meine Mom besuchen, also muss ich sie …« Er sah hilflos zu, wie Stuey, dessen blaue Augen ihn unverwandt fixierten, auf ihn zutrat, spürte, wie ihm die kleine Taschenlampe aus der Hüfttasche gezogen wurde, und wusste, dass Widerstand zwecklos war.
Er beobachtete, wie Stuey zu dem Loch zurückkehrte, die Taschenlampe neben sich auf den Fußboden legte und weitere Bretter hochzog. Als eines mit durchdringendem Knirschen widerstand, funkelte Stuey ihn an. »Willst du nur glotzen oder mithelfen?«
Er trat widerstrebend näher heran, griff nach einer Diele und ließ sie wieder los. »Was ist, wenn jemand kommt? Was ist, wenn …«
Stuey schüttelte verächtlich den Kopf. »Du bist so ein Wichser.«
Harper ließ sich beiseiteschieben, beobachtete, wie Stuey eines der längeren Bretter packte und fast augenblicklich wieder losließ – Scheiße! –, und sah, wie die blutende Fingerkuppe in Stueys Mund verschwand.
Binnen Minuten und ganz ohne Harpers Mithilfe war ein Loch entstanden, das an der breitesten Stelle etwa einen Meter maß. Harper sah zu, wie Stuey die zersplitterten Bretter mit Tritten zur Seite beförderte, bevor er sich auf den Fußboden legte und den Kopf in das dunkle Loch steckte. Er schob sich näher heran und versuchte, sich etwas als Ablenkung einfallen zu lassen. »Was hältst du vom Gemeindezentrum, Stu? Wir könnten dort hingehen, ein bisschen rumalbern, ’ne Runde Billard spielen, den Laden ein bisschen aufmischen. Wie wär’s damit?«
Er hörte das leise Klicken, mit dem die Taschenlampe angeknipst wurde, dann kam Stueys Stimme. »Hier ist was … ich kann’s … fast … erreichen …« Im nächsten Augenblick holte er zischend Luft, während er mit Armen und Beinen um sich schlagend nach oben kam und von dem Loch zurückwich, wobei er die Taschenlampe weiter umklammert hielt. Schließlich stoppte er mit starrem Blick und rasselndem Atem.
Harper sah erst ihn, dann das Loch und schließlich wieder ihn an. »Was hast du? Was ist dort unten?« Er beobachtete unsicher, wie Stuey, dessen Gesicht aschfahl war, sich den Mund am Ärmel abwischte und dann rasch aufstand, wobei ihm die Taschenlampe aus der Hand fiel. Harper, der zu träge reagierte, hörte sie aufschlagen und sah sie über den Fußboden zu dem Loch rollen, an dessen gezacktem Rand sie für Zehntelsekunden verharrte, bevor sie...