Es irrt der Mensch
E-Book, Deutsch, Band 19, 80 Seiten
Reihe: Hedwig Courths-Mahler
ISBN: 978-3-8387-5256-3
Verlag: Bastei Lübbe
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Autoren/Hrsg.
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Renate schreckte jäh aus dem Schlaf auf. Hatte da nicht jemand ihren Namen gerufen? Sie richtete sich empor und sah in das dämmernde Morgenlicht, lauschend, als müsse sich der Ruf wiederholen. Nein – es blieb still, still und einsam. Nach und nach erwachten auch ihre Gedanken, und seufzend ließ sie sich von ihnen gefangen nehmen. Dann erhob sie sich, kleidete sich zögernd, mechanisch an und blieb dazwischen immer wieder horchend stehen. Regte sich wirklich nichts um sie her? War es wirklich so totenstill im Haus, war kein Laut erwachenden Lebens, keine trippelnden Kinderfüßchen, kein lallendes, kosendes Rufen vernehmbar? Nein – sie war wirklich einsam und verlassen, ein loses Blatt, den Stürmen des Lebens preisgegeben, sobald sie den Schritt über die Schwelle ihres Heims setzte. Ihr Heim. Renate überfiel plötzlich ein Gefühl dumpfer Angst. Sie öffnete ihr Schlafzimmer und lief wie gejagt durch die ganze Wohnung. Wirr und unordentlich standen die Möbel umher, die Teppiche waren zusammengeschnürt und die Fenster der Gardinen beraubt. Mit trüben Augen sah sie um sich. Sie kam sich vor wie eine Fremde in ihrer eigenen Wohnung. Müde, mit schweren Schritten, kehrte sie in ihr Schlafzimmer zurück. Neben ihrem Lager stand ein Kinderbettchen mit Spitzengardinen und seidenbezogenen Kissen. Renate ließ sich auf einen Stuhl gleiten und starrte mit trockenen, brennenden Blicken vor sich hin. Sie grübelte über die letzten Jahre ihres Lebens. Was hatten sie aus ihr gemacht? Vor vier Jahren noch die glückstrahlende Erbin des reichen Fabrikanten Johann Werkentin, ein lebenssprühendes, übermütiges Mädchen mit lachenden Augen und überschwänglicher Seligkeit, dann die Braut und die Frau eines der schneidigsten und schönsten Offiziere – und heute ein gebrochenes Weib, verlassen, betrogen von dem ehrlosen Mann, der ihr am Altar ewige Treue geschworen hatte, des Kindes beraubt, das ihr auf dem Gipfel ihres Glücks das Schicksal in die Arme legte und im Unglück wieder nahm, der Vater tot, das Vermögen verloren. Als bankrotter Selbstmörder sollte der Vater geendet haben, wie ihr Mann, der Leutnant von Trachwitz, ihr ins Gesicht geschrien hatte. Und dann wurde alles verkauft, Möbel, Silberzeug, Pferde und Wagen, alles machte Trachwitz zu Geld; nur ihre Wäsche, ihren Schmuck und ihre Kleider ließ er ihr. Er gab vor, nach Berlin ziehen zu wollen, um dort eine Stellung zu finden. Irgendwie müsse er Geld zu verdienen suchen, um sich und seine Frau zu erhalten. Man bemitleidete ihn ein wenig, ein wenig gönnte man ihm auch das Unglück, aber man ging über ihn hinweg bald zur Tagesordnung über. Renate ließ alles geschehen. Gedankenlos packte sie ihre Sachen ein und bereitete sich zur Abreise vor. Die Dienstboten wurden entlassen, die Händler kamen und kramten in den verkauften Sachen herum. Als sie Hans von Trachwitz am letzten Abend vergeblich zum Essen erwartet hatte, war sie in sein Zimmer gegangen, um ihn zu rufen. Es war leer, aber ein Brief an sie lag auf dem Tisch. Er war sehr kurz und lautete: Ich muss dich verlassen. Mit dir zusammen kann ich mir keine neue Existenz gründen. Du bist verwöhnt und unpraktisch, und überdies – uns bindet ja längst nichts mehr aneinander. Du wirst bei Freunden und Bekannten deines Vaters wohl ein Unterkommen finden. Fürs erste kannst du deinen Schmuck und deine Gesellschaftstoiletten verkaufen, es wird sich ein Käufer dafür bei dir melden. Glückt es mir drüben – ich gehe nicht nach Berlin, sondern nach Amerika –, dann kannst du nachkommen, oder ich sorge sonst für deinen Unterhalt. Wenn nicht, dann sehen wir uns nicht mehr. Leb wohl und vergiss mich, das ist alles, was ich dir wünschen kann. Das war gestern gewesen. Sie hatte nur bitter vor sich hin gelächelt, hatte später ruhig und bestimmt das Geschäft mit dem Händler abgeschlossen und sich dann todmüde zum letzten Mal niedergelegt. Nun war die Nacht zu Ende. Ihrer Abreise stand nichts mehr im Weg. Sie erhob sich und machte sich zum Gehen bereit. Eine große Ruhe war über sie gekommen. Das Blut fleißiger, tüchtiger Kaufleute, die ihre Vorfahren gewesen waren, regte sich in ihr. Sie raffte sich auf aus nutzlosem Grübeln, gewillt, den Kampf mit dem Leben aufzunehmen, mochte er auch noch so schwer sein. *** Die Sprechstunde Dr. Hellmanns war eben zu Ende. Der Arzt erhob sich und wollte das Sprechzimmer verlassen, als der Diener ihm noch eine Dame meldete. „Haben Sie nicht gesagt, dass die Sprechstunde beendet ist?“ „Gewiss, Herr Doktor. Die Dame bat aber dringend, vorgelassen zu werden, da sie von auswärts kommt.“ „So? Na, dann herein mit ihr! Melden Sie meiner Frau, dass sie mit dem Essen noch eine Weile warten soll.“ Der Diener entfernte sich und ließ gleich darauf eine Dame in Trauerkleidung eintreten. Hellmann sah überrascht in ihr feines, blasses Gesicht, aus dem große dunkle Augen mit dem Ausdruck tiefer Seelenpein herausleuchteten. „Fräulein Renate – Verzeihung Frau von Trachwitz! Sind Sie es wirklich?“ „Ich bin es, Herr Doktor.“ Er beeilte sich, ihr einen Sessel hinzuschieben. „Bitte, nehmen Sie Platz, gnädige Frau. Sie sehen krank aus. Suchen Sie meine ärztliche Hilfe?“ Sie ließ sich müde in den Sessel gleiten und schüttelte den Kopf. Dann sah sie eine Weile stumm zu ihm auf. Sein Gesicht, ein frisches, fröhliches Männerantlitz, nahm einen Ausdruck von tiefer Bekümmernis an. Wie in stummer Frage sahen sie seine Augen an. „Ja, lieber Doktor, das ist aus Renate Werkentin geworden“, sagte sie leise. Er nahm ihre Hand in die seine. „Liebe gnädige Frau, Sie haben wohl schweres Leid erfahren, aber so mutlos und elend sollten Sie doch nicht aussehen!“ Sie lächelte schmerzlich. „Was wissen Sie von dem, was mich betroffen hat!“ „Dass Sie den besten, gütigsten Vater verloren haben und… Ihr Vermögen.“ „Das war das Schlimmste noch nicht, lieber Doktor. Ich verlor mehr in diesen schrecklichen Tagen. Meine kleine Magda ist mir auch gestorben und…“, sie presste die Handflächen fest gegeneinander, „… mein Mann hat mich verlassen. Er ist nach Amerika abgereist, um sich dort eine Existenz zu gründen. Mich konnte er dabei nicht brauchen.“ Hellmann fuhr erschrocken zurück. „Unmöglich! Er hätte Sie… Nein, das kann ja nicht sein!“ „Doch, glauben Sie es nur. Seit ich meines äußeren Glanzes entkleidet bin, lohnte es sich nicht mehr, bei mir zu bleiben.“ „Sie so sprechen zu hören, tut mir von Herzen Leid.“ „Sparen Sie Ihr Mitleid, lieber Doktor, denn über diese Sache bin ich hinweg. Etwas anderes führt mich zu Ihnen, etwas, was mich nicht zur Ruhe kommen lässt. Sie sollen mir auf Ehre und Gewissen eine Frage beantworten. Wie starb mein Vater?“ Er machte eine erstaunte Miene. „Haben Sie denn seinerzeit meinen Bericht nicht erhalten? Ich habe Ihnen doch mitgeteilt, dass Ihr Vater einem Herzschlag erlegen ist.“ „Und das ist die reine, lautere Wahrheit? Lieber, bester Doktor, sagen Sie mir aufrichtig: Ist das wirklich wahr?“ „So wahr, wie ich hier vor Ihnen stehe.“ Sie atmete tief, wie von schwerem Druck befreit auf. „Gott sei Dank! Nun, ich hätte es ja wissen sollen.“ „Haben Sie daran gezweifelt?“ „Mein Mann warf mir vor, mein Vater sei als Selbstmörder gestorben.“ Hellmann fuhr entrüstet auf. „Das ist empörend! Gnädige Frau, das haben Sie doch im Ernst nicht von Ihrem Vater geglaubt?“ „Nein, geglaubt habe ich’s nicht, aber gefürchtet. Sie wissen ja als Arzt und Freund meines Vaters, wie viel meine Heirat dazu beigetragen hat, den Fall der Firma Werkentin zu begünstigen. Ich müsste mich anklagen, schuld am Tode meines Vaters zu sein, wenn ihn die pekuniären Verluste wirklich in den Tod getrieben hätten. Es wäre das Schlimmste für mich gewesen, diese Angst mit mir herumzutragen, deshalb kam ich zu Ihnen, um mir Gewissheit zu holen. Bitte, erzählen Sie mir vom Ende meines Vaters, was Sie wissen.“ Hellmann sah ihr ernst ins Gesicht. „Schwere Sorge hatte Ihre Verheiratung Ihrem Vater allerdings gemacht. Er bangte für Sie, weil er Trachwitz besser kannte als Sie. Er hatte sich Vorwürfe gemacht, dass er nicht energisch seine Einwilligung versagte, denn er war die Furcht nicht los geworden, dass Sie unglücklich würden. Er gab das Geld mit vollen Händen für Sie hin, weil er glaubte, Trachwitz würde Sie dafür auf den Händen tragen. Um mehr geben zu können, hat er dann spekuliert – doch das wissen Sie ja alles. Ich will Ihnen nur zeigen, dass ich orientiert bin und dass mein Bericht den Tatsachen entspricht. Ihr Vater litt schon seit langen Jahren an einem Herzfehler, und ich habe ihn immer vor Aufregungen warnen müssen. Ich wusste, dass sein Leiden ihm einen schnellen Tod bringen konnte, und ich habe ihm wieder und wieder Ruhe und Schonung anempfohlen. Nun kam der Zusammenbruch seines Hauses, und die damit verbundene Aufregung brachte ihm den Tod.“ „Also trage ich dennoch die Schuld, dass er so früh starb.“ „Solche Vorwürfe brauchen Sie sich nicht zu machen, das führt zu nichts. Das Leiden Ihres Vaters war derart, dass jede andere Veranlassung das Ende ebenso rasch hätte herbeiführen können.“ „Mein armer Vater!“ „Gönnen Sie ihm den Frieden! Ich wünschte ihm nicht, dass er Sie so vor sich sehen müsste. Sein geliebtes Kind verlassen, der Not...