Coupland | Bit Rot | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 224 Seiten

Coupland Bit Rot

Berichte aus der sich auflösenden Welt

E-Book, Deutsch, 224 Seiten

ISBN: 978-3-8412-1811-7
Verlag: Aufbau Verlage GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



»Wenn sich die Menschen in der Zukunft fragen, wie es war, zu Beginn des 21. Jahrhunderts zu leben, dann sollten sie Douglas Coupland lesen.« Yann Martel Der Begriff Bit Rot bezeichnet einen Vorgang aus dem Feld der digitalen Archivierung: Dateien können sich plötzlich und schnell auflösen. Douglas Coupland - seit Jahrzehnte einer der großen Analytiker unserer digitalen Ära - hat in den letzten Jahren die Erkenntnis gewonnen, dass Bit Rot auch sehr exakt beschreibt » wie sich mein Gehirn seit dem Jahr 2000 angefühlt hat, während ich ältere und schwächere Neuronen und Synapsenverbindungen abbaute und verbesserte, unerwartete neu erschuf.« In seinem Buch mixt Coupland, wie das Internet selbst, verschiedene Textgattungen und stellt sie gleichberechtigt nebeneinander. Auf diese Weise gelingt ihm eine Kritik unserer Vorstellung von einer konsistenten Zukunft und dadurch eine Analyse unserer Gegenwart, die ihresgleichen sucht. Ein Must-Read für die Hypermoderne.

Douglas Coupland wurde 1961 auf einem NATO-Stützpunkt in Deutschland geboren, lebt heute in Vancouver, Kanada. In den späten Achtzigern begann er für lokale Magazine zu schreiben, woraus 1991 sein Roman »Generation X« hervorging, der ihn schlagartig berühmt machte und zum Sprachrohr einer Generation werden ließ. Seitdem hat er 14 Romane und zahlreiche Essaybände veröffentlicht und gilt als Vordenker des Digitalzeitalters.
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Furcht vor Fenstern
Kimberly Kellog war ein gesund ernährtes zwölfjähriges Mädchen aus der oberen Mittelschicht, das in einem guten Vorort einer guten amerikanischen Stadt lebte. Ihre Eltern waren heilfroh, dass sie sich bis jetzt noch nicht in einen patzigen, klauenden, bulimischen und komasaufenden Alptraum verwandelt hatte wie all die anderen Mädchen in der Nachbarschaft. Sie schätzten sich glücklich. Eines Abends sah sich Kimberly mit ihren Eltern einen Horrorfilm an, in dem Aliens aus dem Weltraum in amerikanische Vorstädte einfielen. Der Film war im Cinéma-Vérité-Stil gedreht, und die naturalistische, nervenaufpeitschende Kameraarbeit ließ die Alltagswelt knisternder und realer erscheinen, bereit, jederzeit zu explodieren wie ein schwarzer Nylonrucksack auf einem überfüllten Bahnhof. Etwa in der Mitte des Films kam eine Szene, in der eine Familie bei sich zu Hause gezeigt wurde. Sie hörten komische Geräusche, also gingen sie von Fenster zu Fenster und versuchten zu erkennen, woher das Geräusch kam. Als sich nichts zeigte, blieben sie für einen Moment am Wohnzimmerfenster stehen, um ihren Vorgarten zu bewundern. Plötzlich sprang ein großes, gemeines Mistvieh von einem Alien mit Tentakeln und Reißzähnen und einem Riesenschädel sie an und spuckte Blut, Gift und menschliche Körperteile an die Fensterscheibe. Kimberly fing an zu schreien und konnte nicht mehr aufhören. Zum Schluss mussten ihr die Eltern von dem Valium geben, das sie sich für einen bevorstehenden Ferienflug aufgespart hatten, und trotzdem verbrachte Kimberly den Rest des Abends im Bett bei fest zugezogenen Vorhängen. Durch die Wand konnte sie hören, wie ihre Eltern sich im Nebenzimmer darüber stritten, wer von beiden die Idee gehabt hatte, ein zwölfjähriges Mädchen einen Horrorfilm sehen zu lassen, der erst ab achtzehn war. Bevor er an diesem Abend zu Bett ging, kam Kimberlys Vater nach oben, um nach ihr zu sehen, und sagte: »Machen wir die Vorhänge auf und lassen frische Luft rein.« Kimberly flippte wieder aus. Ihr Vater brauchte einen Moment, um die Verbindung zwischen den Vorhängen, den Fenstern und dem Monster zu ziehen, und bis dahin war Kimberly bereits so verängstigt, dass sie am Ende die Nacht im Bett ihrer Eltern verbrachte, bei heruntergelassenen Jalousien. Am nächsten Morgen ging es Kimberly wieder gut – bis sie sich an das Monster erinnerte. Sie erstarrte, als ihr klarwurde, dass überall Fenster waren und das Monster jederzeit an jedem davon auftauchen konnte. Sie zwang sich dazu, das Haus zu verlassen und in den Schulbus zu steigen, und es ging gut, weil er sich bewegte und mehr Abstand zum Boden hatte, doch dann fiel ihr ein, dass ein Alien auf dem Dach des Busses sein konnte. In der Schule tat sie alles, um nicht aus den Fenstern der Klassenräume zu sehen. In der letzten Stunde an dem Tag, Naturwissenschaften, sagte Luke, einer ihrer Klassenkameraden, zu ihr: »Kimberly, komm mal rüber. Ich hab hier so einen coolen Test für die visuelle Wahrnehmung, den ich dir zeigen will.« »Wofür ist der gut?« »Man testet damit die Augen, um herauszukriegen, was du besser siehst, Bewegung oder Farbe. Ist lustig.« Kimberly war dankbar für alles, was sie von den Aliens ablenkte, also setzte sie sich neben ihn. Luke sagte: »Was du machen musst, ist, ganz feste auf das Bild zu gucken.« Auf dem Bildschirm sah man ein langweiliges bürgerliches Wohnzimmer. »Entspann deine Augen, entspann deinen Körper, und dann werden sich die Sachen im Raum ganz leicht bewegen, vielleicht ändert auch das Sofa ein kleines bisschen seine Farbe. Das Bild wandelt sich ganz langsam. Sag mir, welche Veränderung du bemerkst – Farbe oder Form oder Bewegung oder sonst was.« Kimberly saß also da und ließ zum ersten Mal seit dem Horrorfilm zu, dass ihr Körper sich entspannt. Sie starrte auf das Bild und dachte daran, wie sehr es dem Wohnzimmer ihrer eigenen Familie ähnelte. Sie versetzte sich selbst in das Zimmer hinein und fühlte sich geborgen und glücklich, als urplötzlich ein harter Schnitt kam und ein Vampirgesicht mit rottriefenden Fängen und mörderischer, rasender Blutgier den Bildschirm ausfüllte. Kimberly drehte vollkommen durch, und niemand wusste, wie ihr zu helfen war. Schließlich gelang es ihrem Lehrer und einigen kräftigeren Schülern, sie zur Schulschwester zu schaffen, wo man sie zwang, mehrere Verzichtserklärungen zu unterschreiben und lückenlos nachzuweisen, dass ihre Familie krankenversichert war und alle Beiträge gezahlt hatte, ehe man ihr eine großzügige himmlische Spritzenfüllung Dilaudid verabreichte. Trotzdem rastete Kimberly nur deshalb nicht noch mehr aus, weil das Krankenzimmer keine Fenster hatte und sie sich einigermaßen sicher fühlte – aber ihr graute davor, dass sie irgendwann den Raum würde verlassen müssen und dann durch einen Flur mit Fenstern und aus der Tür hinaus und in ein Auto mit Fenstern musste (man hatte ihre Mutter verständigt) und dann zurück in ein Haus, das nicht nur ganze siebenundzwanzig Fenster hatte, sondern dazu noch einen Kamin und drei Belüftungsöffnungen für den Trockner und für die Duschen in den Badezimmern. Die Heimfahrt war traumatisierend. Einmal im Haus, schaffte Kimberly es nicht, ihrer Mutter von der Seite zu weichen, nicht eine Sekunde lang. In dieser Nacht versuchten ihre Eltern, ihr gut zuzureden, aber je länger sie sich mühten, desto hysterischer wurde sie. Um zwei Uhr morgens gaben sie ihr die verbliebenen acht Milligramm Valium und beschlossen, abzuwarten, ob morgen alles wieder besser sein würde. War es nicht. Es war viel schlimmer – ein Valiumkater verstärkte jede Fehlzündung jedes einzelnen Neurons im Gehirn ihrer Tochter. Kimberly, deren Zähne vor Angst klapperten, kroch in den Bettwäscheschrank und machte die Tür hinter sich zu. »Scheiße. Wir müssen sie zum Arzt bringen«, sagte ihr Vater. »Kannst du dir heute freinehmen?« »Geht nicht. Heute ist unser jährlicher Riesen-Winnebago-Ausverkauf zum Saisonende. Kannst du es machen?« »Na schön. Komm, Prinzesschen«, sagte Kimberlys Vater. »Zieh dich an, und dann gehen wir mal schauen, ob wir diese schaurigen Dinger verscheuchen können.« Auf der Fahrt in die Klinik kauerte Kimberly im Fußraum vor dem Beifahrersitz. Ihr Vater hoffte nur, dass er nicht wegen Verstoßes gegen die Gurtpflicht angehalten werden würde. In der Klinik sprachen sie mit Dr. Marlboro, der das Problem schnell erfasste. »Beruhigungsmittel werden nicht helfen«, sagte er. »Es wird gar nichts helfen. Hier wurde eine lebenslange schreckliche Phobie ausgelöst. Wir können bestenfalls hoffen, dass die Angst mit der Zeit abnimmt und beherrschbar wird. Bei jungen Menschen, die zur falschen Zeit den falschen Film gesehen haben, geht sie normalerweise nach ungefähr sechs Wochen etwas zurück – aber die Nachwirkungen bleiben ein Leben lang spürbar.« »Was für ein Quacksalber sind Sie eigentlich?«, fragte Kimberlys Dad. »Bitte mäßigen Sie ihre Ausdrucksweise, Mr. Kellog. Auf Wiedersehen.« Mr. Kellog ging wütend mit seiner Tochter zu einem anderen Arzt, von dem er gehört hatte, dass er einem praktisch alles verschrieb. Kimberly verlebte den darauf folgenden Monat in einem Wattenebel. Dann gingen ihr die Tabletten aus, und als ihre Eltern ihr neue verschreiben lassen wollten, stellten sie fest, dass die Pillendoktor sich vor diversen Klagen wegen Behandlungsfehlern nach Florida geflüchtet hatte. Alle anderen Ärzte in der Stadt hatten ihr Praxen geschlossen und sahen sich im Fernsehen Golfmarathons an, und die unsedierte Kimberly war wieder bei klarem Verstand. Und hatte erneut Todesangst vor der Welt. Während Kimberly in dumpfer Betäubung gelebt hatte, war aus dem Frühling Sommer geworden. Kimberlys Mutter kam eine Idee: »Warum schläfst du nicht draußen auf dem Rasen? Da sind keine Fenster.« Das war was dran. In dieser Nacht schlief Kimberly hinten im Garten, genau in der Mitte zwischen dem Haus und dem Zaun. »Tja, Einstein,« sagte ihr Vater zu ihrer Mutter. »Ich freue mich zu sehen, dass mal was funktioniert. Sie kann nicht für ewig mit Sedativa leben.« Mit 360 Grad Rundblick schlief Kimberly sehr schnell ein. Am nächsten Morgen schreckte sie hoch und fürchtete sich, dann erkannte sie, wo sie war, und beruhigte sich. Das ging einen Monat so, in dem sie sich ausschließlich draußen aufhielt und nur ins Haus ging, wenn es sich gar nicht vermeiden ließ. Das Wetter war schön und das Leben ebenso. Dann wachte sie eines Morgens auf und sah zwei wie Politiker gekleidete Männer durch den Carport in den Garten kommen. Sie klingelten an der Hintertür. Kimberlys Mutter machte ihnen auf. So leise sie konnte, schlich sich Kimberly ans Haus heran. Sie huschte von Fenster zu Fenster, schaute hinein und entdeckte dabei, dass Fenster gar kein Problem sind, solange man von außen reinsieht. Schließlich kam sie ans Wohnzimmerfenster. Sie schaute hinein und sah ihre Eltern vor den beiden Männern knien, die ihre Köpfe öffneten wie Dosendeckel. Quallententakel kamen zum Vorschein und legten sich um die Schädel ihrer Eltern. Nach dreißig Sekunden zogen sie die Tentakel wieder ein, zurück in ihre Köpfe, und die Köpfe schnappten zu. Die Kreaturen holte Hundeleinen aus ihren Taschen, die sie Kimberlys Eltern anlegten. Dann führten sie ihre Eltern zur Vordertür hinaus und auf die Straße, wo andere Aliens bereits dabei waren,...


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