Vom Glück urbanen Lebens
E-Book, Deutsch, Band 6143, 240 Seiten
Reihe: Beck Paperback
ISBN: 978-3-406-66690-2
Verlag: Verlag C. H. Beck GmbH & Co. KG
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Autoren/Hrsg.
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1 Die vertikale Stadt
Für die Architektur und die Städte der
Informationsgesellschaft sind technologische
Erwägungen von größter Bedeutung. Kenzo Tange Hoch hinaus und erdbebensicher
6–3–4: auf Japanisch mu-sa-shi. Zusammengesprochen Musashi, der Name der einstigen Provinz, die große Teile der Kanto-Ebene bzw. der heutigen Präfekturen Tokio, Saitama und Kanagawa umfasste. Ein geschichtsträchtiger Name, der jedem Japaner geläufig ist. Wortspiele mit Assoziationen aller Art sind beliebt. In diesem Fall dient die historische Reminiszenz dazu, Vergangenheit und Zukunft miteinander zu verbinden. In dem alten Tokioter Stadtteil Sumida feierten Ingenieure Triumphe des technischen Fortschritts. Sie errichteten dort Tokios neuen Fernsehturm, 634 m vom Boden bis zur Spitze. Fertiggestellt wurde der Sky Tree rund ein Jahr nach dem verheerenden Großen Ostjapanischen Erdbeben vom 11. März 2011, das auch Tokio, obwohl mehr als 250 km vom Epizentrum entfernt, in den Grundfesten erschütterte. Bauherren und Konstrukteure hatten Grund, stolz zu sein, denn den ersten Härtetest hatte der Turm mit fliegenden Fahnen bestanden. Am 22. Mai 2012 öffnete er mit seinen beiden Aussichtsplattformen auf 350 m und 450 m Höhe seine Pforten für das allgemeine Publikum. Das Beben vom 11. März 2011 war außerordentlich wegen der fast nie gemessenen Stärke 9, aber im Übrigen sind Erdbeben im Tokio wie in ganz Japan keine Seltenheit. So gab es nach Angaben des japanischen Wetteramts vom 11. März bis 31. Dezember 2011 allein in Tokio durchschnittlich 1,48 Erdbeben der Stärke 3 bis 6 pro Tag. Und die Annalen sind voller Erdbeben, die Tokio in der Vergangenheit heimgesucht haben. Würde der gesunde Menschenverstand es nicht nahelegen, unter solchen geologischen Bedingungen auf Hochbauten zu verzichten? Sind die Wolkenkratzer von heute nicht die Katastrophen von morgen; ganz zu schweigen von einem Turm, der mehr als einen halben Kilometer in den Himmel ragt? Nun ist, obwohl man sich leicht und ohne lange darüber nachzudenken auf ihn beruft, keineswegs klar, wer den gesunden Menschenverstand tatsächlich für sich in Anspruch nehmen kann. Es gibt, wie man weiß, verschiedene Maßstäbe, und das, was jeder denkt und für selbstverständlich hält, ist nicht unbedingt richtig und wandelt sich überdies mit der Zeit. Das Verhältnis von technischem Fortschritt und gesundem Menschenverstand ist kompliziert und hier nicht Gegenstand der Diskussion, aber so viel lässt sich sagen: Der gesunde Menschenverstand hätte viele Projekte verhindert, die seit ihrer – oft riskanten und unwahrscheinlichen – Vollendung als Verkörperung menschlicher Schaffenskraft gelten. Herausforderungen anzunehmen statt ihnen auszuweichen, ist die Triebfeder des Fortschritts; das muss auch anerkennen, wer demselben skeptisch gegenübersteht. Die große Häufigkeit von Erdbeben hat Tokio in diesem Sinne nicht daran gehindert, in die Höhe zu wachsen. Dass dies erst in den letzten Jahrzehnten geschah, lag weniger an Vorsicht und Respekt vor den unbeherrschbaren Kräften der Natur als daran, dass erst Tokios Wiederaufbau nach seiner Zerstörung gegen Ende des Zweiten Weltkriegs und die Wiedererstarkung der japanischen Wirtschaft zu der für große Entwicklungsprojekte erforderlichen Kapitalakkumulation führten. Der Sky Tree ist die neueste Etappe dieser Entwicklung und Reaktion darauf, denn die zunehmende Zahl von Hochbauten in verschiedenen Stadtteilen – der 1978 eröffnete Sunshine City-Komplex in Ikebukuro, das in den 1980er Jahren entstandene Wolkenkratzerviertel in Shinjuku, Roppongi Hills Anfang dieses Jahrhunderts wie auch Shiodome im Süden des Stadtzentrums mit einem Dutzend Hochhäusern bis 190 m – hat den Empfang der Signale von Tokios altem Fernsehturm eingeschränkt. Ein neuer Sendemast musste her, das war ein Grund für den Bau, aber nicht der einzige. Großstädter wollen etwas zu sehen haben und nicht nur im Fernsehen; das sind sie gewohnt oder sind deshalb in die Stadt gezogen. Eine Großstadt wandelt sich beständig, und es gibt immer etwas Neues. Nicht immer sensationell, aber manchmal muss etwas Großartiges dabei sein. Dieses Attribut kommt dem Sky Tree zweifellos zu. Unter Rückgriff auf hergebrachte Bauprinzipien fünfstöckiger Pagoden wurden die neuesten Konstruktions- und Materialtechnologien eingesetzt. Mehrstöckige Pagoden sind um einen zentralen Pfeiler aufgebaut, der locker mit den Geschossen verfugt ist, wodurch Erschütterungen aufgefangen werden. Viele Pagoden und Tempel sind im Laufe der Zeit abgebrannt, aber dank dieser flexiblen Bauweise haben sie Erdbeben in der Regel standgehalten. In Anlehnung an diese alte Technologie verbindet die Architektur des Sky Tree den inneren Stahlbetonturm elastisch mittels schockdämpfender Gelenke mit der äußeren gitterförmigen Schale. Dadurch und indem der obere Teil des Kerns als Gegengewicht eingesetzt wird, vermindert sich die Stärke durch Stürme und Erdbeben verursachter Schwankungen um 40 Prozent. Zu dem Zeitpunkt des Erdbebens am 11. März 2011 hatte der Turm bereits seine volle Höhe (minus Antenne) erreicht. Arbeiter waren auf der 450-m-Plattform mit der Installation des 100 m hohen Antennenaufbaus beschäftigt, der, während der Turm noch aufwuchs, im Inneren desselben zusammengesetzt wurde, eine bautechnische Meisterleistung für sich. Der Turm schwankte in dieser Höhe um 4 bis 6 m, ohne dass dadurch Schäden entstanden. Was Ingenieure in Bezug auf erdbebensicheres Bauen heutzutage leisten – in Tokio kann man es in Augenschein nehmen mit dem Sky Tree als eindrucksvollstem Beispiel. Und einen Ausblick über die Stadt, wie ihn die beiden Plattformen bieten, konnte man bisher nur vom Hubschrauber aus genießen: Im Osten der Stadt, zwischen Sumidagawa und Arakawa gelegen, bietet der Turm ein Panorama mit dem Hafen und der Bucht im Süden, im Westen mit den Bergen und dem Fuji als Kulisse, vor der sich ein Häusermeer so weit das Auge reicht in alle Richtungen erstreckt. Im Hintergrund erheben sich die Wolkenkratzer von Shinjuku und die beiden Tocho-Türme. Letztere sind Sitz der Präfekturregierung und waren von ihrer Fertigstellung 1991 bis 2007 mit 243 m die höchsten Gebäude der Stadt. Dieses Panorama zieht Schaulustige an. Und natürlich garantieren Neugier und Technikbegeisterung der Japaner regen Zulauf. Zwei Monate nach der offiziellen Eröffnung hatten bereits zehn Millionen das um den Turm errichtete Einkaufs- und Freizeitzentrum Sky Tree Town besucht, und im dritten Monat danach war die erste Million derer voll, die mit einem der 13 Aufzüge die Aussichtsplattformen und Restaurants auf den beiden Decks besucht hatten. Zwei Tage vor dem ersten Jahrestag der Eröffnung, am 19. Mai 2012, wurde, um dem Zahlenspiel weiter Genüge zu tun, der 6,34-millionste Besucher begrüßt. Erwachsene zahlen 2000 Yen, Kinder 900 Yen (rund 20 bzw. neun Euro), ein gutes Geschäft. Der Eigentümer, die Tobu Railway Co., erwartet jährlich um die 30 Millionen Besucher und damit eine problemlose Deckung der Kosten, die sich auf geschätzte 65 Milliarden Yen beliefen. Sky Tree Town konnte bis Jahresende 2013 über 50 Millionen Besucher verzeichnen. Rekorde
2000 Yen Eintritt für den Sky Tree ist ein teures Vergnügen, aber im Vergleich relativiert sich der Preis. Wenn man Yen pro Meter Höhe rechnet, ist der Ausflug auf den Sky Tree wohlfeil. Die 250 m hohe obere Aussichtsplattform des alten Tokioter Fernsehturms erreicht man für 1420 Yen, zu einem Meterpreis von 5,68 Yen. Für 2000 Yen 450 m hoch zu fahren, bedeutet 4,44 Yen pro Meter, billiger also und billiger auch als die 13 Euro, die einen Erwachsenen der Besuch der obersten Plattform des Eiffelturms kostet. Auch wenn die Besucher ihre Opportunitätskosten vermutlichnicht auf diese Weise berechnen, ist die Preisfestsetzung doch offenkundig nicht abwegig. Der Sky Tree ist eine Sensation, und für Sensationen muss man zahlen. Im November 2012 wurde er als höchster frei stehender Turm der Welt ins Guinnessbuch der Rekorde aufgenommen, verdienter Lohn für die Planer des Projekts. Rekorde erregen Aufmerksamkeit. Tokio hat eine neue Attraktion, die Touristen aus dem In- und Ausland anzieht: erfolgreiche Reminiszenz der Stadtgeschichte. Denn gar nicht weit vom Sky Tree, im Asakusa-Park, stand Japans erster Wolkenkratzer. 1890 wurde der Ryounkaku, der «Wolkenüberragende Turm», ein achteckiger Backsteinbau mit zwölf Stockwerken und der schwindelerregenden Höhe von 68,5 m, fertiggestellt. 33 Jahre lang war er das höchste Gebäude Tokios, das man von überall in der Stadt sehen konnte. In 46 Geschäften vom zweiten bis zum siebten Stock konnten die Tokioter die modernsten Produkte aus aller Welt kaufen oder sich doch wenigstens über den letzten Trend informieren. Die achte und neunte Etage waren für Ausstellungen, Konzerte und allerlei andere Veranstaltungen reserviert, während die obersten drei Stockwerke als Aussichtsplattformen dienten. Als Freizeitzentrum war der Turm eine von Tokios großen Attraktionen für Besucher aus allen Stadtteilen und darüber hinaus. Bis zum achten Stock konnte...