E-Book, Deutsch, 336 Seiten
Coordes Lust statt Frust
1. Auflage 2023
ISBN: 978-3-641-30420-1
Verlag: Goldmann
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Vom vorzeitigen Samenerguss zu einer erfüllten Sexualität
E-Book, Deutsch, 336 Seiten
ISBN: 978-3-641-30420-1
Verlag: Goldmann
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Bis zu 30 Prozent aller Männer leiden unter vorzeitigem Samenerguss. Die meisten von ihnen sprechen nicht darüber, denn dieses Tabuthema passt nicht zur weit verbreiteten Auffassung von optimierter Männlichkeit. Dabei gibt es kaum ein anderes Problem, das Männer emotional stärker belastet, als beim Sex nicht den eigenen Maßstäben genügen zu können. Doch beim Sex zu früh zu kommen, muss kein Schicksal bleiben. Der Paar- und Sexualtherapeut Robert Coordes
? erläutert die psychologischen Hintergründe und
? zeigt, wie die Auseinandersetzung mit der eigenen Beziehungsbiografie den Weg hin zu einer erfüllten Sexualität öffnet.
Hilfe aus der therapeutischen Praxis mit Fallbeispielen und Übungen.
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
1 EJACULATIO PRAECOX: GRUNDLAGEN In diesem Kapitel sollen zunächst einige Grundlagen zum Thema »Vorzeitiger Samenerguss« vermittelt werden. Was ist Ejaculatio praecox eigentlich? Welche medizinischen Daten, Fakten, Erklärungen und Definitionen gibt es dazu? Welche Auswirkungen hat Ejaculatio praecox auf den Betroffenen und seine Partnerin oder seinen Partner? Welche Lösungsansätze haben Wissenschaft, Psychotherapie und Medizin entwickelt? Wie kann der persönliche Leidensdruck bei Ejaculatio praecox beschrieben werden? Ejaculatio praecox als sexuelle Störung? Um den Stand der wissenschaftlichen Diskussion zum Thema Ejaculatio praecox in Grundzügen wiederzugeben, führe ich in diesem Kapitel Zahlen, Daten und diverse Theorien an und illustriere sie anhand von Beispielen aus meiner Praxis. Bevor Männer eine Sexualtherapie aufsuchen, um sich professionell unterstützt mit ihrem Problem auseinanderzusetzen, haben sie in der Regel bereits verschiedene Informationsquellen konsultiert: Bücher, Freunde, Bekannte und natürlich das Internet. Beratung oder Therapie werden oft erst in letzter Instanz aufgesucht. Das ist verständlich, denn wenn wir das Gefühl haben, dass etwas an oder in uns nicht stimmt oder nicht so funktioniert, wie es eigentlich funktionieren sollte, dann begeben wir uns auf die Suche nach Einordnung. Das gilt besonders für emotional so belastende Themen wie sexuelle Störungen. Dabei sind die sogenannten sexuellen Funktionsstörungen, ähnlich wie psychische Störungen, weitaus schwerer fassbar als somatische Erkrankungen. Schließlich gibt sich uns eine Grippe unmissverständlich zu erkennen, indem uns die Nase läuft oder Kopfschmerzen und Erschöpfung uns dazu zwingen, im Bett zu bleiben. Sexuelle Probleme wie vorzeitiger Samenerguss lassen sich hingegen viel leichter verdrängen. Wir können ihnen aus dem Weg gehen und Sexualität und Beziehungen meiden. Wir können uns in Arbeit stürzen, um unsere Probleme im Bett zu vergessen. Oder wir können, wie viele betroffene Männer es tun, prokrastinieren und uns immer wieder einreden, dass wir uns im nächsten Jahr ganz sicher und gründlich dieser Problematik annehmen werden. In einigen Situationen oder Kontexten zeigt sich eine sexuelle Störung mehr, in anderen weniger, und bei der einen Partnerin erlebt man sie vielleicht als unüberwindbar, während man sich bei einer anderen vormachen kann, dass Besserung in Sicht ist oder dass es nur der richtigen Partnerin bedarf. Im Bereich psychischer Störungen im Allgemeinen und bei sexuellen Störungen im Speziellen stellt sich die Frage: Gibt es diese Krankheit oder diese Störung wirklich? Wann ist man gestört, wann hingegen normal? Die Erklärung vieler betroffener Männer lautet oft: »Es ist nur im Kopf« oder »Ich mache mir einfach zu viel Stress«. In Aussagen wie diesen klingt die Überzeugung an, man würde es sich nur »einbilden«, es wäre keine »echte« Problematik. Auf der anderen Seite gibt es auch Männer, die sich durch eine ausgeprägte Orientierungslosigkeit auszeichnen und nach Anleitung durch einen Experten verlangen. Aber zurück zu unserer Frage, die ich zunächst etwas präzisieren möchte: Wer oder was entscheidet darüber, wann etwas eine psychische oder auch eine sexuelle Störung ist? Die Antwort lautet: Alles, was sich in den offiziellen Krankheitskatalogen findet, gilt als behandlungsrelevant und damit auch als Störung. Maßgeblich ist hier zunächst die International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems (»Internationale Statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme«; abgekürzt: International Classification of Diseases, ICD), die von der Weltgesundheitsorganisation WHO herausgegeben wird, seit 2022 in der 11. Auflage (ICD-11). Hierin finden sich, sortiert in verschiedenen Kapiteln und Abschnitten, alle bekannten Krankheiten aufgelistet. Im Bereich psychischer Störungen und Probleme wird oft ein anderer Katalog, das Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders (DSM; »Diagnostischer und Statistischer Leitfaden Psychischer Störungen«), herangezogen. Seit 2013 in der 5. Auflage verfügbar, wird dieser Katalog von der American Psychiatric Association (APA) herausgegeben. Das DSM gilt besonders in Bezug auf psychische Problematiken, zu denen die sexuellen Störungen ohne organische Ursache gezählt werden, als präziser und validierter. Findet sich eine sexuelle Problematik in einem der beiden Kataloge, dann gilt sie als existent, und es ist dann auch grundsätzlich möglich, eine entsprechende Behandlung durch die Krankenkasse finanziert zu bekommen. Vorzeitiger Samenerguss wird in beiden Katalogen aufgelistet. Im DSM-5 findet sich Ejaculatio praecox unter Ziffer 302.75: »Persistierende oder wiederkehrende Ejakulation mit minimaler sexueller Stimulation vor oder kurz nach der Penetration und bevor die Person es wünscht. Dieser Zustand muss ebenfalls merklichen Leidensdruck oder zwischenmenschliche Schwierigkeiten erzeugen.« Im ICD-11 sind die sogenannten sexuellen Funktionsstörungen in vier Kategorien unterteilt, Ejaculatio praecox findet sich unter »Dysfunktion des Orgasmus«. Darüber hinaus hat sich in Bezug auf die Klassifikation dieser sexuellen Störung im Vergleich zur Version 10 nichts geändert. Im Vorgänger, der ICD-10, gab es den Abschnitt »F52 -Sexuelle Funktionsstörungen, nicht verursacht durch eine organische Störung oder Krankheit« in der Kategorie »Verhaltensauffälligkeiten mit körperlichen Störungen und Faktoren« im Kapitel V, »Psychische und Verhaltensstörungen«. Darin wurde unter Ziffer F52.4 »Ejaculatio praecox« gelistet und beschrieben als »Unfähigkeit, die Ejakulation ausreichend zu kontrollieren, damit der Geschlechtsverkehr für beide Partner befriedigend ist«. Damit stellt sich die nächste Frage: Wie kommen die Diagnosen und Störungen in diese Kataloge? Von beiden Katalogen, sowohl ICD als auch DSM, gibt es alle paar Jahre revidierte Neuauflagen. In diese Versionen gehen die jeweils neuesten wissenschaftlichen Erkenntnisse und statistischen Erhebungen ein. Die Diagnosen und Beschreibungen sind aber auch Spiegel und Ergebnis gesellschaftlicher Diskurse und des jeweiligen Zeitgeistes, sie sind damit auch beeinflusst durch politische sowie ethisch-moralische Erwägungen. Bis 1991 war beispielsweise Homosexualität in Version 9 der ICD noch als psychische Störung aufgelistet, aus dem DSM hingegen wurde die gleichgeschlechtliche Liebe bereits 1973 als Störung gestrichen. Im Zuge der Revision von ICD-11 wurden in Bezug auf die sogenannte Sexsucht oder Hypersexualität rege wissenschaftliche Diskussionen geführt. Wie sollte diese Problematik gefasst werden? Man wollte vermeiden, dass eine entsprechende Diagnose dazu benutzt werden kann, Menschen zu pathologisieren, also ihnen mit einem Krankheitsetikett ein Stigma zu verpassen. In die Ausarbeitung der Kataloge und damit auch der Diagnosen gehen also immer auch moralische und ethische Überlegungen und Bewertungen sowie gesellschaftliche Aushandlungsprozesse ein – niemals nur objektive Daten und Fakten. Wenn wir uns fragen, was »normal« und was »nicht normal« ist, dann sollten wir auch den Blick auf den statistischen Aspekt von »Normalität« richten: Als »normal« gilt hier, wenn es dem statistischen Mittel entspricht. Es bleibt aber durchaus Gegenstand von wissenschaftlichen Aushandlungsprozessen, ab welchem Abweichungsgrad etwas als »nicht mehr normal« gilt. Einige Autoren werfen die Frage auf, ob man bei einer Problematik, die so häufig vorkommt wie Ejaculatio praecox, überhaupt von einer Störung und damit von einer gestörten Normalität sprechen kann. Schließlich gäbe es zum Beispiel weniger Linkshänder als Männer, die zu früh kommen, ohne dass Linkshänder als nicht normal gelten. Ethisch ist dies eine interessante Frage, vor dem Hintergrund des zumeist enormen Leidens betroffener Männer finde ich diesen Aspekt allerdings unangemessen. Manchmal haben für mich Ausführungen dieser Art den abwertenden Beigeschmack von »Ist ja nicht so schlimm, da fast jeder damit zu tun hat«. Man kann sich auch grundsätzlich fragen, was die psychologischen Vor- und Nachteile von Diagnosen sind. Konkret: Was hilft es, wenn man als Betroffener für sein individuelles Leiden ein Etikett im Katalog finden kann? Solche Diagnosen können auch dazu führen, dass man den Zugang zu diesem persönlichen Problem verliert, die innere Betroffenheit hinter dem Label versteckt und sich mit der »Krankheit« abfindet. Im schlimmsten Fall kann ein Störungsetikett den Effekt haben, dass man sich selbst mit pathologischen Zuschreibungen belegt, indem auf persönliche Defizite und Unvermögen geblickt wird. Auf der anderen Seite geben Diagnosen aber auch Halt, Orientierung und Zugehörigkeit. Man ist nicht der Einzige, der unter einer Problematik leidet, sondern es gibt mindestens so viele Betroffene, dass eine eigene Kategorie geschaffen wurde. Ohne sie dominieren Unsicherheit und Spekulationen darüber, was man falsch gemacht hat und warum man nicht in gewünschter Weise funktioniert. Diagnosen beinhalten eine Vorstellung davon, was zu tun und was zu lassen ist, wenn man Veränderungen erreichen will. Das zuvor schwer Benennbare bekommt einen Namen und erscheint damit auch handhabbar. Sie können uns daher von schwerem Druck erlösen oder ihn zumindest lindern....