E-Book, Deutsch, 220 Seiten
Conrad Nichtwissen ist tödlich
1. Auflage 2024
ISBN: 978-3-8437-3573-5
Verlag: Ullstein Taschenbuchvlg.
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Der Nahe Osten und die Rolle der Geheimdienste | Sicherheitspolitik, Nachrichtendienste, Expertise und der Faktor Mensch
E-Book, Deutsch, 220 Seiten
ISBN: 978-3-8437-3573-5
Verlag: Ullstein Taschenbuchvlg.
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Gerhard Conrad studierte Völkerrecht, Politologie und promovierte in Islamwissenschaften, bevor er seinen Dienst im militärischen Nachrichtenwesen der Bundeswehr und beim Bundesnachrichtendienst begann. Seit 1990 BND-Agent mit dem Schwerpunkt Naher Osten. Von 2009 bis 2012 Leiter des präsidialen Leitungsstabes des BND, danach Vertreter des Dienstes in London und schließlich von 2016 bis 2019 Direktor im Europäischen Auswärtigen Dienst (EU- INTCEN) in Brüssel. Seit seiner Pensionierung Ende 2019 ist er unter anderem Visiting Professor am King's College London, Dozent an der Hochschule des Bundes für Öffentliche Verwaltung, Abteilung Nachrichtendienste und an Sciences Po in Paris. Darüber hinaus unterstützt er als Intelligence Advisor die Munich Security Conference, als Senior Advisor die Agora Strategy Group AG und als Vorstandsmitglied den Gesprächskreis Nachrichtendienste in Deutschland e.V. (GKND).
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Einleitung
Déjà-vu: Ein langer Leidensweg beginnt
Die Stimme am anderen Ende der Leitung klang freundlich. »Lieber Herr Conrad, sollten wir nicht einmal über Gaza reden?« Ich hatte so einen Anruf schon erwartet. Während meiner aktiven Zeit beim Bundesnachrichtendienst oder zuletzt in der Europäischen Union wäre er wahrscheinlich »von ganz oben« gekommen, doch jetzt war es ein guter Bekannter und mittlerweile recht prominenter Exponent der deutschen Medienlandschaft. »Ja«, sagte ich. »Ich glaube schon. Da gibt es einiges, worüber wir sprechen könnten.« Im Laufe des Tages hatte ich die Nachrichten erst mit wachsender Beunruhigung, dann mit Bestürzung, schließlich mit völliger Fassungslosigkeit zur Kenntnis genommen. In Berlin war ein ruhiger Herbsttag angebrochen, in dessen Verlauf sich in Israel eine Katastrophe den Weg bahnte, die die Welt erschüttern sollte. Wir vereinbarten uns auf den nächsten Tag, um wenigstens die Chance für ein erstes Verständnis der unglaublichen Ereignisse zu gewinnen. Die volle Dimension der Geschehnisse vom 7. Oktober 2023 habe ich aber erst in den darauffolgenden Tagen erfasst. Auch Regierungen, Streitkräfte und Geheimdienste bemühten sich um ein Lagebild. Alle wollten an diesem und den darauffolgenden Tagen wissen, was sich da ereignete, – zum Teil sind sie bis heute damit beschäftigt. Die Nachrichtenlage der ersten Stunden war dünn und unübersichtlich. Bruchstückhaft tauchten in den Medien Bilder zerstörter israelischer Panzer und Befestigungsanlagen an der Grenze zu Gaza auf. Aus dem Gazastreifen wurden offenbar Tausende Raketen auf Ziele in Israel abgeschossen.
Die Bilder der ausgebrannten und zerstörten Sperranlagen entlang des Gazastreifens weckten bei mir lebhafte Erinnerungen. Im Sommer 2009 waren dort Maschinengewehre auf unser Fahrzeug gerichtet, als ich das streng bewachte und hochgerüstete Bollwerk am Kontrollpunkt Eretz passierte. Ich hatte damals das Gefühl, in einen Käfig hineinzufahren. Als Angehöriger des Bundesnachrichtendienstes war ich seinerzeit freigestellt worden, um mich im Auftrag der israelischen Regierung in Gaza mit den Vertretern der Hamas zu treffen und als von beiden Seiten mandatierter Vermittler über die Freilassung des von der Terrororganisation im Juni 2006 entführten israelischen Soldaten Gilad Shalit zu verhandeln. Die Bundesregierung kam damit einer Bitte Israels nach, und da ich in den Jahren zuvor an zwei erfolgreichen Verhandlungen mit der libanesischen Hizballah über den Austausch von libanesischen Häftlingen gegen israelische Gefallene, Vermisste und Geiseln entscheidend mitgewirkt hatte, galt ich als »Experte«. Man hatte mir in den Medien seinerzeit sogar den Spitznamen »Mister Hizballah« verliehen. Bis Shalit im Oktober 2011 endlich wieder in Freiheit war, vergingen noch einmal über zwei Jahre, in denen ich zwischen Berlin, Tel Aviv und Gaza pendelte.
Die Kulisse, die mir in den Fernsehbildern am 7. Oktober wieder begegnete, war mir seitdem recht vertraut, doch nunmehr bestürzend verändert. Über den Ruinen der Befestigungsanlagen, verdüsterte schwarzer Rauch von einem brennenden Fahrzeug den Himmel. Obwohl die Bilder dramatisch waren, boten sie doch wenig konkrete Information über das Gesamtgeschehen. Nur so viel zeichnete sich ab: Etwas Grauenhaftes spielte sich in Israel ab – noch war es diffus, aber die präzedenzlose Dimension war bereits erkennbar. Die Hamas verbreitete Videoclips und verlautbarte, dass sie einen Großangriff unter der Bezeichnung »al-Aqsa-Flut« begonnen habe. Es sollte eine »Flutwelle« an Terroristen sein, die massenhaft Rache für die »Entweihung der heiligen Al-Aqsa-Moschee« in Jerusalem durch die »Ungläubigen« und deren »Verbrechen am palästinensischen Volk« nehmen sollten. In den nächsten Stunden wuchs das Entsetzen. Die Terrororganisation stellte mehr und mehr Zeugnisse ins World Wide Web, auf denen zu sehen war, wie vermummte Kämpfer israelische Soldaten und Zivilisten töteten, schwer misshandelten oder als Geiseln nach Gaza verschleppten. Die israelische Armee schien offenbar weitgehend hilflos. Ich fragte mich, warum offenbar keine Kampfhubschrauber oder Kampfflugzeuge, die nur wenige Flugminuten von Gaza entfernt stationiert sein mussten, oder Bodentruppen in die Kämpfe eingriffen. Theoretisch hätte es für sie ein Leichtes gewesen sein müssen, mit geballter Feuerkraft das Vordringen der Hamas-Terroristen zu verlangsamen oder sogar zu unterbinden. Aus dem, was ich aus nationalen und internationalen Nachrichten erfahren konnte, ergab sich dann allmählich das Bild einer außergewöhnlich gut vorbereiteten, breit angelegten, komplexen Operation der Hamas über die gesamte Länge der Sperranlagen zu Gaza. Der Angriff war wie aus einem taktischen Lehrbuch für das Gefecht mit verbundenen Waffen abgelaufen: Man hält den Gegner durch massives Raketenfeuer nieder, damit er sich in seinen Befestigungen und Schutzräumen in Sicherheit bringt. Dadurch ist sowohl seine Aufmerksamkeit, ebenso wie seine Verteidigungsfähigkeit eingeschränkt. In diesem Moment lassen sich die – ganz offenbar vorab erkundeten – Schwachstellen der Befestigungsanlage durchbrechen. Das war der Hamas gelungen. Darauf folgte ein interessanter taktischer Schachzug. Einmal auf israelisches Gebiet gelangt, verteilten sich die Kommandos nach einem offenbar vorab ausgearbeiteten Operationsplan in verschiedene Richtungen und stießen bis zu zehn Kilometer weit ins Landesinnere vor, um zahlreiche – überwiegend »weiche«, also nicht militärische – Ziele anzugreifen: kleinere Siedlungen, Kibbuzim und ein Rave-Event (das Supernova-Konzert). Aber auch der befestigte Ort Sderot wurde Ziel einer blutigen Attacke, in deren Verlauf die örtliche Polizeistation gestürmt und insgesamt über 30 Menschen umgebracht wurden. Binnen kurzer Zeit war klar, dass es das Operationsziel war, eine möglichst große Zahl an Geiseln zu nehmen und – sprichwörtlich wahllos – ein Maximum an Menschen zu töten. Dass bei der Operation auch viele Hamas-Kämpfer ums Leben kommen würden, nahm die Terrororganisation in Kauf, dank ihres ausgeprägten Märtyrerkultes war das möglich. Am Ende des Tages hatte die Hamas einen präzedenzlosen militärischen Erfolg errungen, die israelischen Streit- und Sicherheitskräfte zutiefst gedemütigt und das Sicherheitsgefühl der Menschen in Israel grundlegend erschüttert.
An den Folgetagen trat das ganze Grauen der Ereignisse zutage. In den Medien verfolgte ich, was über die Zahlen der getöteten und entführten Israelis bekannt wurde. Die Hamas hatte mehr als 240 Menschen – Männer, Frauen, Kinder, Greise, Soldatinnen und Soldaten – nach Gaza verschleppt und etwa 1.200 Menschen zum Teil auf bestialische Weise ermordet. Zuerst hatte ich in der Operation eine – wenn auch in Umfang und militärischer Durchsetzungskraft präzedenzlose – Entführungsaktion gesehen. Erst langsam sollte ich begreifen, dass wir es mit einem groß angelegten Terrorangriff zu tun hatten, dessen Ziel es gewesen war, systematisch ein Höchstmaß an Tod und Verwüstung in Israel anzurichten und dies aller Welt vor Augen zu führen. Im Hinblick auf die Geiselnahmen erlebte ich ein veritables , da mir die Härte, Komplexität und Dauer der damit verbundenen Verhandlungen aus meinen zahlreichen Treffen mit der Hamas nur allzu präsent waren. Ich habe diesen langwierigen, nervenaufreibenden und häufig schmerzlichen Prozess meiner Bemühungen als Vermittler in meinem Buch »Keine Lizenz zum Töten« (Econ 2022) bereits beschrieben, nachdem ich genug Abstand und Zeit gewonnen hatte, um meine Erfahrungen – im Rahmen des Zuträglichen – aus dieser Epoche zusammenzufassen. In den Tagen nach dem 7. Oktober hatte ich dann das Gefühl, dass mich die Vergangenheit einholte. Manchmal gab es dafür konkrete Gründe: Der aktuelle Führer der Hamas in Gaza, Yahya Sinwar – Mastermind des Angriffs vom 7. Oktober – war im Oktober 2011 zusammen mit weiteren 1.026 Häftlingen in dem auch mit meiner Hilfe vermittelten Austausch gegen Gilad Shalit freigekommen. Ich bin dem Mann nie persönlich begegnet, er war in einem israelischen Gefängnis in Beerscheba inhaftiert, doch er war mir insofern ein Begriff, als dass er Anführer des »Komitees der palästinensischen Häftlinge« war und in dieser Funktion die Verhandlungen immer wieder ins Stocken brachte. Sinwar hatte öffentlich darauf hingearbeitet, dass auch Häftlinge freigelassen werden sollten, die von der israelischen Regierung eigentlich kategorisch von einem Austausch ausgeschlossen worden waren. Viele von ihnen hatten schwerste Straftaten begangen und zahlreiche israelische Staatsbürger ermordet. Sinwar selbst war bereits 1988 zu vier lebenslangen Haftstrafen verurteilt worden und galt schon damals als Todfeind Israels. Nach seiner Freilassung tauchte er in seinem heimatlichen Milieu in Gaza unter, um dort als Sicherheitschef von Hamas seine Karriere fortzusetzen, bevor er im Februar 2017 die Führung von Hamas als Nachfolger von Ismail Haniyeh antreten konnte. Nun war er als Urheber eines noch nie...