Religion und Demokratie in den USA
E-Book, Deutsch, 560 Seiten
ISBN: 978-3-86854-412-1
Verlag: Hamburger Edition HIS
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Stefanie Coché, Dr. phil., ist Privatdozentin und Akademische Rätin a. Z. am Historischen Institut der Justus-Liebig-Universität Gießen.
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I
Religiöse Erneuerung und irdische Machtspiele zur Zeit der Fundamentalpolitisierung
Autorität und Rationalität als Kennzeichen eines amerikanischen Evangelikalismus und Katholizismus bei Charles G. Finney (1792 – 1875) und Orestes A. Brownson (1803 – 1876) Im Hochsommer 1830 befand sich der Erweckungsprediger Charles G. Finney in Oneida Country in New York. Er verbrachte einige Zeit in Whitestown, westlich von Utica, und ein paar Wochen in Henderson am Lake Ontario.1 Dort überlegte er, wo er seine nächsten Revivals abhalten sollte. Zunächst hatte er New York City oder Philadelphia ins Auge gefasst. Er entschied sich aber schließlich für Rochester, NY, in Monroe Country. Dorthin hatte ihn die örtliche presbyterianische Kirche eingeladen. Finney reiste auf dem 1825 fertiggestellten Erie Canal nach Rochester. Trotz der neuen Möglichkeiten, die der Kanal bot, blieben Reisen zeitaufwendig, und gefasste Pläne ließen sich nicht eben spontan ändern. Entsprechend lang blieb Finney in einer einmal für ein Revival ausgewählten Gegend. In Rochester hielt Finney in den Jahren 1830 und 1831 eine Reihe von Erweckungsveranstaltungen ab, die in die Geschichte eingehen sollte. In seinen Memoiren erinnerte er sich, dass sich die erfolgreiche Bekehrungsarbeit bereits auf der Reise nach Rochester ankündigte: »When I was on my way to Rochester, as we passed through a village some thirty miles east of Rochester, a brother minister whom I knew seeing me on board the canal boat, jumped on to have a little conversation with me, intending to ride but a while and return. He however became so interested in conversation, and upon finding where I was going he made up his mind to keep on and to go with me to Rochester.«2 Finneys Bekannter beschloss aber nicht nur, mit ihm zu reisen. Auch in seine innersten Überzeugungen kam – entsprechend Finneys Schilderung – Bewegung: »He almost immediately fell under great conviction, and the work was very deep with him. We had been there but a few days when this minister became so convicted that he could not help weeping aloud at one time as he passed out along the street.«3 Hier verwies Finney bereits auf seine enorme Überzeugungsmacht und auf die aufsehenerregenden Gefühlszustände, die seine Anhänger und Anhängerinnen erfassen konnten. Finneys Wirken im westlichen Teil des Staates New York in den 1820er und 1830er Jahren war vor allem geprägt von der hohen Mobilität und der Suche nach vertiefter religiöser Überzeugung bei seinen Adressaten und Adressatinnen.4 Das Leben der Amerikanerinnen und Amerikaner im frühen 19. Jahrhundert wandelte sich rasant: Infrastrukturelle Revolutionen erfolgten in kurzen Abständen von nur etwa zwanzig bis dreißig Jahren. Seit den 1830er Jahren verbanden zunehmend Eisenbahnstrecken das große Land.5 Mit diesen infrastrukturellen Neuerungen einher gingen eine erhöhte ökonomische, soziale und geografische Flexibilität für viele Teile der Bevölkerung aller sozialer Schichten – auch für Frauen, weniger oder gar nicht hingegen für Afroamerikaner und -amerikanerinnen. Es boten sich alternative Verdienstmöglichkeiten, die mit unterschiedlichen Graden von Selbstständigkeit einhergingen, etwa die Wahl zwischen dem Farmleben, einem kleinstädtischen Dasein als Geschäftsmann oder der Arbeiterlaufbahn in der Textilindustrie.6 In den Kleinstädten, in denen Finney predigte, herrschten in der Frühindustrialisierung zwar eine hohe Arbeitsbelastung und ungesunde Arbeitsbedingungen, zugleich aber gab es Bildungsmöglichkeiten (Abendvorträge, Bibliotheken) und eine größere religiöse Auswahl.7 Die in der Early Republic noch dominanten Einteilungen der Bürger nach Geschlecht, Klasse und »Rasse« erhielten Konkurrenz durch die evangelikale Vorstellung, dass vor Gott alle gleich seien und jeder sich um sein Seelenheil bemühen müsse: In diesem Sinne empowerte die Erweckungsbewegung tatsächlich die Massen.8 Empowerment und öffentliche Emotionalität spielten zugleich eine wichtige Rolle in der Fundamentalpolitisierung. Der Wegfall der Besitzklausel als Wahlvoraussetzung in der Ära Jackson führte zu einer Mobilisierung der Öffentlichkeit, die ihre Gegner nur noch als »unzivilisierten Mob« wahrnahmen. So ging es auch einem der führenden religiösen Intellektuellen dieser Zeit, Orestes Brownson, der von den aus seiner Sicht durchweg korrupten und in Alkoholgelage ausartenden Wahlkämpfen so angewidert war, dass sie ihn von der Demokratie entfremdeten.9 Die Wahlkampagnen bestärkten Brownson in seiner Auffassung, der Mensch sei schwach und daher einfach vom rechten Pfade abzubringen.10 Brownson gelangte schließlich zu der Überzeugung, dass die beste Form des Christentums für die USA der Katholizismus sei, und konvertierte vom Protestantismus zum Katholizismus. Gerade weil in der katholischen Kirche Autorität eine zentrale Rolle spielte, glaubte er, der katholische Glaube könne die unzivilisierten Massen zu zivilisierteren, demokratiefähigen Bürgern heranziehen. Für seine Konversion nannte Brownson aber noch einen zweiten Grund, nämlich die rationale Begründbarkeit des katholischen Glaubens. Beides ging aus aus seiner Sicht Hand in Hand: »Belief on authority of the Church, supposing that authority adequately proved or provable to reason to be from God, and really his authority, is the most reasonable thing in the world.«11 Beide Themen – Rationalität und Autorität – dürfen nicht nur als symptomatisch für die Entstehung eines genuin amerikanischen Katholizismus gelten. Sie prägten auch die evangelikalen Erweckungsbewegungen um Finney in bemerkenswerter Weise und verbinden so die religiösen Neuorientierungen im Protestantismus und Katholizismus zwischen den 1820er Jahren und dem Bürgerkrieg miteinander. Gemeinsam lassen sie ein Szenario entstehen, in dem die religiöse Sphäre sich weniger im Einklang mit egalitären und auf Freiheitsidealen beruhenden Verschiebungen im politischen und ökonomischen Bereich befand, als bisher oft argumentiert wurde.12 Stattdessen entstanden im religiösen Diskurs neue Formen von Autorität, die aber trotzdem zeitgenössische Selbstkonstruktionen des Menschen als eines rationalen und individuellen Subjekts bestärkten. Autorität und Rationalität stehen daher im Zentrum der beiden miteinander verflochtenen Hauptthesen in der hier präsentierten Neuakzentuierung der religiösen Umwälzungen zu Zeiten des Second Great Awakening.13 Eine These in diesem Kapitel befasst sich mit der Neuauslotung des Verhältnisses von Egalität und Autorität und die andere mit der Bedeutung von Rationalität für die evangelikale und katholische Selbstfindung. Das althergebrachte hierarchisch-elitäre Gesellschaftsverständnis, das die USA nach ihrer Gründung zunächst noch stark prägte, wurde mit der Fundamentalpolitisierung seit den 1820er Jahren abgelöst.14 Damit musste das Verhältnis von Autorität und Egalität im Antebellum-Amerika neu ausgehandelt werden – und dies gilt auch für den religiösen Bereich. Vor allem im Protestantismus vollzogen sich gewaltige Wandlungen mit teils gegenläufigen Effekten.15 Diese Veränderungen sind eng mit Charles G. Finney verknüpft. Finney trug zu einer für seine Zeitgenossen sehr attraktiven Demokratisierung der religiösen Arena sowie zu einem Bedeutungszuwachs der individuellen Frömmigkeit in der jungen Nation bei. Auf den ersten Blick paradoxerweise führte er – neben den in der Forschung stark betonten egalitären Elementen16 – allerdings zugleich dynamische hierarchisierende Elemente ein. Aber auch der Katholizismus »amerikanisierte« sich. Ganz ähnlich wie die evangelikalen Erweckungsbewegungen zeichnete sich auch der romantische Katholizismus, der den amerikanischen Katholizismus im 19. Jahrhundert prägte, durch ein Nebeneinander von freiheitlich-individuellen Idealen und hierarchischen Elementen aus.17 Orestes Brownson galt als großer katholischer Intellektueller dieser Zeit – eben weil er Individualismus mit Autoritätssuche verband. Das federführende katholische Publikationsorgan der Antebellum-Periode, das United States Catholic Magazine, zeichnete ihn voller Bewunderung als »kühn und unabhängig«.18 Die Neuordnung der Glaubensverhältnisse steht damit in einem komplexen Verhältnis zur Fundamentalpolitisierung. Es erfolgte eine zeitgleiche, damit zusammenhängende, aber doch zum Teil gegenläufige politische und religiöse Aufwertung des Individuums. Zum einen popularisierte das Age of Jackson in der politischen Arena das Ideal eines rugged individualism, während sich die religiöse Aufwertung des einzelnen Menschen in beiden Konfessionen durch einen Appell an die eigene Verantwortlichkeit gegenüber dem Schöpfer und...