E-Book, Deutsch, 672 Seiten
ISBN: 978-3-7412-4696-8
Verlag: BoD - Books on Demand
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Maike Claußnitzer ist Germanistin und lebt als freie Übersetzerin in Hamburg.
Autoren/Hrsg.
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Im Wasser war Blut gewesen; das war Ardeijas einzige klare Erinnerung an seine Gefangennahme und die erste, die zurückkehrte, als er aus etwas, das halb Schlaf, halb Betäubung gewesen sein musste, zögerlich wieder erwachte. Alle anderen Bilder, die durch seinen Kopf tanzten, musste er erst ordnen, um zu wissen, ob sie der Wirklichkeit oder seinen unruhigen Träumen entstammten, wenn nicht gar anderen Kämpfen als dem, der ihn hierher gebracht hatte. Denn der Auwald, in dem er am Vortag, gestellt wie ein gehetztes Wild, zusammengesunken war, war der von Bocernae gewesen, wo vor fast sieben Jahren eine fürchterliche Schlacht getobt hatte. Nicht allein der Ort war allzu vertraut. Er hatte auch bekannte Gesichter unter seinen Verfolgern gesehen, das Theodulfs, des Schwertmeisters Asgrims vom Brandhorst, und einige, die für ihn keine Namen trugen. Am Ende war gar Asgrim selbst erschienen – oder auch nicht, denn das Bild, wie er mit gezogenem Schwert auf seinem Rappen saß, gehörte zu jenem ersten Bocernae, nicht zu dem neuen, das kaum besser gewesen war. Ardeija wusste auch nicht mehr sicher, wann er gegen einen Birkenstamm gelehnt, ein zerbrochenes Schwert in der Hand, die Stiefel im Wasser, gewartet und gebetet hatte, doch das konnte gestern gewesen sein, denn er meinte sich zu entsinnen, dass Gjuki auf seiner Schulter gekauert und sich, als er ihn hatte fortscheuchen wollen, in seinen Zopf gekrallt hatte. Das fahle Licht der Dämmerung zwischen den Baumkronen war das gleiche gewesen, und wie beim ersten Mal hatte er in stummer Furcht das Näherkommen derer beobachtet, die sich in dem Wald so mühelos zurechtfanden wie die Kraniche, nach denen er benannt war. Ein schöner Name, Kranichwald; nur war dort bisher wenig Schönes geschehen. Im Wasser war Blut gewesen, und die Schmerzen, die jetzt seinen Kopf plagten und seinen linken Arm lähmten, hatten wohl schon dort begonnen. Mit Bestimmtheit erinnerte er sich erst wieder an den Karren, der ihn zum Brandhorst hinaufgebracht hatte, ein schwerfälliges Gefährt, auf das sie ihn erst am Waldrand geladen haben konnten, denn man brachte keine Karren in den Kranichwald, es sei denn durch Zauberei. Doch zum Brandhorst hinauf war der Karren gelangt, und Ardeija in den Turm hinab, viele Stufen tief, bis in ein Gewölbe, das nun um ihn Stein für Stein wieder aus der Verschwommenheit heraustrat. Ein anderer Unglücklicher war dort gewesen, das wusste er noch, auch, dass Theodulf einen Wundarzt oder Medicus herbeigeholt hatte, dann aber nichts mehr, nur, dass jetzt ein neuer Herbstmorgen gekommen war, mit kalter Luft, die durch das Fenster weit über ihm drang, und all den gedämpften Geräuschen, die anzeigten, dass Asgrims Burg zu erwachen begann. Jemand hatte eine raue Wolldecke über ihn gebreitet und ihm ein kühlendes Tuch auf die Stirn gelegt, so viel nahm er wahr, bevor ein entzückter Laut, der zwischen einem Zirpen und einem Zwitschern lag, ihm verriet, dass Gjuki noch immer bei ihm und froh über seine Rückkehr unter die Lebenden war. Seltsamerweise spürte er jedoch keine weiche Drachenschnauze an der Wange, und sobald es ihm unter Aufbietung einiger Willenskraft gelungen war, den Kopf zu wenden, erkannte er den Grund dafür. Der kleine Drache hatte es sich auf dem Schoß ihres Mitgefangenen bequem gemacht und verspürte offensichtlich nicht die geringste Lust, sein warmes Nest in den Falten einer bereits mehr als einmal ausgebesserten Tunika zu verlassen, und das, obgleich sein neuer Bekannter seiner Freundschaft eigentlich nicht hätte würdig sein sollen. Denn das Handgelenk, um das Gjuki vertraulich den Schwanz geschlungen hatte, trug ein Brandmal, den ersten Buchstaben des Wortes thiufs, Dieb, geschwärzt, um auf immer gut sichtbar zu bleiben. Was auch immer der Mann gestohlen haben mochte, um diese Strafe zu verdienen, auf das Stehlen kleiner Drachen verstand er sich besser, als Ardeija lieb war. Wäre er darüber weniger verärgert gewesen, hätte es ihm vielleicht leidgetan, wie rasch milde Verachtung für einen Augenblick jede andere Regung in ihm überlagerte. Als man ihn in den Turm geführt hatte, hatte die Erschöpfung seine Wahrnehmung genug getrübt, ihn glauben zu lassen, der Mann, den es vor ihm dorthin verschlagen hatte, sei nach einem verlorenen Kampf oder als Geisel in Asgrims Hand gefallen. Nun aber wusste er es besser. Wo er gehofft hatte, einen Freund in der Not zu finden, gab es nur einen unsicheren Verbündeten, einäugig, heruntergekommen und ganz die Sorte von kleinem Dieb, die das Niedergericht von Aquae Calicis Tag für Tag beschäftigt hielt. War es schon eine wohlberechnete Kränkung gewesen, Ardeija in dieses Verlies zu werfen, statt ihn in ehrenvolle Haft zu nehmen, so war dieser Zellengenosse sicher als zusätzliche Missachtung gedacht. Der Dieb schien von den schmeichelhaften Gedanken, die Ardeija sich über ihn machte, nichts zu ahnen. »Ihr solltet Euch nicht zu viel bewegen«, sagte er und hob das nasse Tuch auf, das von Ardeijas Stirn geglitten war. »Der Medicus sagt, dass Ihr nicht zu früh aufstehen dürft.« Gjuki besann sich endlich darauf, wohin er gehörte, und ließ sich mit schlangengleicher Gewandtheit zu Boden gleiten, um zu seinem verletzten Freund zu gelangen; das Auftreffen seiner kleinen Krallen auf den Steinplatten hallte eigenartig laut in dem Gewölbe wider. Ardeija lächelte und hoffte, dass sein Mitgefangener es als Dank dafür nehmen würde, dass er das Tuch wieder dorthin zurückbefördert hatte, wo es sich befinden sollte. Auch wenn er Leute von der Art dieses Mannes zu gut kannte, als dass er sich leichtfertig auf seine Unterstützung hätte verlassen wollen, hatte es doch keinen Sinn, es sich mit der einzigen Gesellschaft, die er neben Gjuki in diesem Kerker hatte, zu verscherzen. Diese Erkenntnis war es auch, die ihn ein höfliches »Ihr« verwenden ließ, wo im Grunde genommen noch ein »du« zu gut gewesen wäre. »Es tut mir leid, dass man Euch die Mühe aufgehalst hat, Euch um mich zu kümmern.« In Wahrheit war er selbst der einzige Mensch, mit dem er im Augenblick einiges Mitleid verspürte, doch das blieb besser unerwähnt. Der Dieb schüttelte den Kopf. »Ihr bereitet mir keine Mühe. Viel kann ich ohnehin nicht tun, und der Arzt wird kaum so rasch zurückkehren … Euer Drache hat ihn in den Finger gebissen.« »Dann hatte er es auch verdient«, sagte Ardeija, nicht, weil es gesagt werden musste, sondern weil es gut tat, wacher zu werden und zu sprechen, wenn auch mit aufgesprungenen Lippen und trockenem Mund. »Gjuki weiß gute Leute von bösen zu unterscheiden.« Es war gewiss kein Zufall, dass der Drache daraufhin ein zustimmendes Schnauben von sich gab. Der Dieb lachte. »Du bist also Gjuki, ja?« Eine Hand mit so langen, geschmeidigen Fingern, wie sie den Unternehmungen ihres Besitzers wohl dienlich waren, fuhr sacht an dem doppelten Zackenkamm auf Gjukis Rücken entlang. Der kleine Drache, der sich mittlerweile neben Ardeijas rechter Schulter zusammengerollt hatte, ließ es nicht nur geschehen, sondern schien die Aufmerksamkeit gar noch zu genießen, so dass Ardeija fast zu hoffen begann, es doch nicht so schlecht getroffen zu haben. Er selbst war höflich gewesen, weil er vorerst wohl oder übel mit dem Dieb würde auskommen müssen. Doch Gjuki war ein Drache, kein Mensch, der Zuneigung aus Berechnung hätte heucheln können, und das Behagen, das er nun empfand, war nicht gespielt. Der Dieb tat ihm den Gefallen, die Fingerspitzen weiterwandern zu lassen, bis zu der Stelle an Gjukis Nacken, an der sich der Drache am liebsten kraulen ließ. »Was den Arzt betrifft«, fuhr er nebenbei fort, »so weiß ich nicht, ob er es wirklich verdient hatte, gebissen zu werden; vielleicht ja. Es war jedenfalls gut, dass Ihr nicht sehr wach wart, als er an die Arbeit gegangen ist.« Es hätte Ardeija nicht sonderlich überrascht, wenn er das Gefühl allgemeiner Schwäche und die wirren Erinnerungen eher dem Heilkundigen als den ursprünglichen Verletzungen zu verdanken gehabt hätte. »Hat er seine Sache denn gut gemacht?« Der Dieb hob die Schultern. »Soweit ich es beurteilen kann, hat er keine großen Fehler begangen, aber er war grob und nachlässig und wäre noch nachlässiger gewesen, hätte Herr Theodulf ihm nicht geraten, sich besser um Euch zu kümmern. Er scheint seltsame Maßstäbe anzulegen, Theodulf, meine ich. Einen Verwundeten hier unten verkommen zu lassen, erscheint ihm vertretbar, doch gesund werden soll der Mann gefälligst … Aber so geht es zuweilen, nicht wahr?« »Theodulf hätte mich totschlagen sollen, als er es konnte«, sagte Ardeija grimmig und meinte es beinahe ernst. »Es geschieht gar nicht so selten, dass man Leute nicht totschlägt, sie mühevoll gesundpflegt und sie dann doch nur wieder um ihre Gesundheit oder gar ums Leben bringt«, erwiderte der Dieb, der sich wohl selbst keine sonnigen Zukunftsaussichten ausrechnete. »Da wir nun gerade von solchen Dingen sprechen … Weshalb seid Ihr hier?« Der Gedanke, dass der zerlumpte Strolch annehmen könnte, seinesgleichen vor sich zu haben, war Ardeija bis dahin noch nicht gekommen und behagte ihm nicht. »Fürst Asgrim hat...