E-Book, Deutsch, Band 6212, 250 Seiten
Reihe: Beck Paperback
Ein Atlas der Einsamkeiten
E-Book, Deutsch, Band 6212, 250 Seiten
Reihe: Beck Paperback
ISBN: 978-3-406-77489-8
Verlag: Verlag C. H. Beck GmbH & Co. KG
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Die Corona-Krise hat viele Menschen in die Einsamkeit geführt. Einige traf dies völlig unvorbereitet. Bei Menschen, die vorher schon einsam waren, wurde die Not vertieft: Alte und Kranke, Studenten, Singles oder Workaholics. Johann Hinrich Claussen und Ulrich Lilie erkunden in Streifzügen durch Religion, Literatur und Kunst, Wissenschaft und Alltag die hellen und dunklen Seiten des Alleinseins. Sie erklären, welche persönlichen Prägungen und sozialen Bedingungen dazu führen, dass die einen das Alleinsein suchen, während andere es fliehen, und zeigen Wege, die aus einer unfreiwilligen Abgeschiedenheit hinausführen.
Fachgebiete
- Sozialwissenschaften Soziologie | Soziale Arbeit Soziale Gruppen/Soziale Themen Sozialisation, Soziale Interaktion, Sozialer Wandel
- Sozialwissenschaften Soziologie | Soziale Arbeit Soziale Gruppen/Soziale Themen Soziale Fragen & Probleme
- Sozialwissenschaften Soziologie | Soziale Arbeit Soziale Gruppen/Soziale Themen Invalidität, Krankheit und Abhängigkeit: Soziale Aspekte
- Sozialwissenschaften Soziologie | Soziale Arbeit Spezielle Soziologie Freizeitsoziologie, Konsumsoziologie, Alltagssoziologie, Populärkultur
- Sozialwissenschaften Soziologie | Soziale Arbeit Soziale Gruppen/Soziale Themen Soziale Folgen von Katastrophen
Weitere Infos & Material
«… stieg er auf einen Berg,
um für sich zu sein …» Matthäusevangelium 14,23 Einleitung
Es ist an der Zeit, dass mehr und anders über Einsamkeit gesprochen wird als bisher. Auch dies hat die Corona-Pandemie gezeigt, die vielen Menschen ganz neu die Erfahrung des Isoliertseins aufgezwungen hat. Einsamkeit ist kein Privatproblem weniger vermeintlich schwieriger oder bemitleidenswerter Personen, sondern hat sich zu einem Massenleiden entwickelt, das jeden betrifft und das den gesellschaftlichen Zusammenhalt gefährdet. Daher wird über Einsamkeit zunehmend wie über eine Krankheit gesprochen, die man heilen kann, oder wie über ein sozialtechnisches Problem, für das es doch eine Lösung geben muss. Es ist eine gefährliche Mode, dass sie zunehmend als «neue Epidemie» oder gar als «Lepra des 21. Jahrhunderts» bezeichnet wird. Dadurch werden die von Einsamkeit betroffenen Menschen krankgeschrieben und sprachlich ausgegrenzt. Das vorliegende Buch will dazu beitragen, angemessen über die vielen verschiedenen Formen von Einsamkeit zu sprechen. Denn Einsamkeit hat die unterschiedlichsten Gesichter: Da ist das gehänselte Kind, der unpopuläre Teenager, die Studentin im ersten Semester in der fremden Stadt, der Migrant ohne Deutschkenntnisse, die alleinerziehende Mutter, der Dauerpendler, der Künstler ohne Erfolg, die überarbeitete Leistungsträgerin, der Ehemann, der seine Frau pflegt, die Hochbetagte im Heim, die keinen Besuch bekommt, und ungezählte Einzelne mehr. Einsamkeit ist eine sehr persönliche Erfahrung, hinter ihr steht eine individuelle Lebensgeschichte, und doch gibt es allgemeine Faktoren, die sie auslösen können: Krankheit, Behinderung, Sucht, schlechte Verkehrsanbindung und Infrastruktur, vor allem Armut, aber auch ganz normale, wenngleich heikle Lebenswenden wie der Abschied von der Schule, der Eintritt in Ausbildung und Studium, ein neuer Job in einer anderen Stadt, später der Verlust des Arbeitsplatzes oder des Ehepartners. Einsamkeit kann jeden treffen. Deshalb wäre es so wichtig zu wissen, wie sie entsteht, wie sie sich anfühlt und auswirkt, was aus ihr herausführen kann – aber auch, wie sie sich gestalten und manchmal sogar genießen lässt. Es muss nicht nur ein Unglück sein, allein zu sein. In lauten Zeiten, im Gedränge wird Abgeschiedenheit oft als Befreiung erlebt: Endlich bin ich nur für mich! Darum soll hier gleichermaßen von Einsamkeit, Alleinsein und Für-sich-Sein die Rede sein. «Einsam» will niemand sein, wer aber nie «allein» gewesen ist, hat Wesentliches versäumt. Der Unterschied zwischen dem einen und dem anderen besteht darin, ob das Für-sich-Sein selbstgewählt ist, von einem selbst gestaltet und dann auch beendet werden kann. Im schlimmsten Fall kann aus einem Für-sich-Sein als einer glücklichen Unterbrechung eine lange Isolation werden, aus der man keinen Ausweg mehr findet und die als chronischer Schmerz und Stress empfunden wird. Von einer eher technisch und medikamentös orientierten Medizin wird noch zu wenig wahrgenommen, dass in der Einsamkeit eine der großen Gesundheitsgefahren der Gegenwart liegt. Einsamkeit ist schambesetzt. Ihr haftet, viel stärker als etwa einer Krebserkrankung, der Geruch des persönlichen Scheiterns, einer eigenen Schuld, Unverträglichkeit und Unwürdigkeit an. Man kann über sie kaum heroische Geschichten des Leidens, des Kämpfens und Überwindens erzählen. Wer von ihr betroffen ist, versucht, sie zu verheimlichen. Dabei wäre ein ehrliches und öffnendes Gespräch über diese Lebenswirklichkeit so vieler Menschen die Voraussetzung dafür, dass man sinnvoll mit ihr umgehen und mit anderen Wege aus ihr heraus finden kann. Dies ist das Anliegen dieses Buches: Es will ein freies Nachdenken und eine anregende Unterhaltung über die vielfältigen Gestalten der Einsamkeit eröffnen. Es wendet sich nicht an eine bestimmte Zielgruppe, sondern an neugierige Leserinnen und Leser, die mehr über dieses Menschheitsthema erfahren und vielleicht ihre eigenen Erfahrungen des Alleinseins darin spiegeln möchten. Dazu bietet dieses Buch Entdeckungsreisen in die Welt der Einsamkeit an. Es möchte Unbekanntes und Überraschendes vorstellen, beispielhafte Geschichten erzählen, in denen man sich wiedererkennen kann, aber nicht muss, die einen dazu bringen, über das eigene Leben und das der anderen nachzudenken. In diesem Sinn werden hier Orte – reale und symbolische, historische und gegenwärtige – besichtigt: Orte der Angst, der Sehnsucht, des Schmerzes, der Heilung, des Glücks. Entstehen soll so ein Atlas der Einsamkeiten, der Orte und Länder vermisst, aber auch weiße Flecken auf der Landkarte verzeichnet und Kontinente erschließen hilft, die bisher kaum erkundet sind. Die Gliederung dieses Atlasses orientiert sich an der englischen Sprache, die für «Einsamkeit» drei Wörter kennt: das schreckliche isolation, das bittersüße loneliness und das geradezu vornehme solitude. Das Buch beginnt mit dem Reich der Solitude, das wir im Süden lokalisieren. Wir begegnen hier Menschen, die sich dauerhaft zurückgezogen haben, um ihr Glück oder Seelenheil zu finden. In der Neuzeit wurden solche dauerhaften Rückzüge zunehmend von zeitweisen abgelöst: Man will eine Zeit lang «für sich sein», spielt mit der Fiktion der Solitude, um dann zu seinen Geschäften zurückzukehren. Das Reich des Für-sich-Seins liegt im Südwesten. Weiter im Westen finden wir die Weiten der Loneliness, in denen Menschen die Süße des Alleinseins auskosten, aber auch ihren Schmerz aushalten. Wer sich in diese Regionen begibt, läuft Gefahr, den kalten Inseln der Isolation im Norden zu nahe zu kommen. Man kann in den Sog der Einsamkeit geraten. Im Nordosten liegen Ankerplätze, die einen noch halten. Im Osten finden sich schließlich die Orte und Wege der Befreiung aus Einsamkeit. Dieser fiktiven Topographie haben wir ein Kapitel über die «Koordinaten der Einsamkeit» vorangestellt, in dem es vor allem darum geht, was die Einsamkeitsforscher aus Medizin, Psychologie und Soziologie heute zu dem Thema beitragen. Neben der topographischen Verortung der unterschiedlichen Einsamkeiten spielt die historische Dimension eine wichtige Rolle, denn es erscheint unvermeidlich zu sein, im Gespräch über Einsamkeit «früher» und «heute» miteinander zu vergleichen. Oft wird dabei die Vergangenheit verklärt und die Gegenwart entwertet: Früher, so wird oft unterstellt, hätten die Menschen in festen Bindungen miteinander gelebt, heute habe sich die Einsamkeit wie ein unkontrolliertes Virus pandemieartig verbreitet. Solche Behauptungen trüben den Blick auf das, was heute der Fall ist, und lähmen die Phantasie für das, was jetzt heilsam wäre. Zudem gibt es überhaupt keine überzeugenden Argumente oder ausreichenden Daten dafür. Auch für eine explosionsartig gestiegene Alterseinsamkeit – sieht man von den akuten Folgen der Corona-Maßnahmen einmal ab – finden sich kaum stichhaltige Belege. Was sich allerdings stark verändert hat, ist die Dauer des Alters und damit die Länge einer möglichen Alterseinsamkeit. Auch gibt es in der späten, mobilen Moderne mehr Gelegenheiten, zumindest eine Zeitlang einsam zu werden. Nicht zuletzt scheint die negative Bewertung der Einsamkeit in der Öffentlichkeit zugenommen zu haben. Gegen eine solch einseitige Be- oder gar Verurteilung der Einsamkeit hilft ein Blick auf ihr Wortfeld. Es ist weiter, als manche denken, wie diese unvollständige Liste zeigt: Allein, einsam, selbstgenügsam, zurückgezogen, ausgeschlossen, abgeschnitten, abgeschrieben, isoliert, abgeschieden, ungebunden, losgelöst, frei. Das heutige Verständnis von «einsam» verdankt sich Martin Luthers Bibelübersetzung. Im Mittelalter bedeutete «einsam» das Gleiche wie das lateinische unus, also «eins sein». Es bezeichnete eine göttliche Eigenschaft: eins, mit sich identisch, vollkommen sein. In der mittelalterlichen Mystik wurde daraus die Hoffnung der Mönche und Nonnen, in der «Abgeschiedenheit» selbst «einsam/unus» zu werden und mit dem Einssein Gottes zu verschmelzen: «Einsamkeit» war hier ein anderes Wort für «Erlösung». Luther dagegen verwendete «einsam» als deutsche Übersetzung von solus und gab dem Wort damit eine ganz andere Bedeutung. Es war für ihn ein Inbegriff menschlicher Existenz, des tiefen Unglücks, aber auch der Hoffnung auf Gottes Hilfe. In der Luther-Bibel kommt das Wort «einsam» nur wenige Male vor, dann aber sehr eindrucksvoll. So in diesem Gebetsvers (Psalm 102,7 f.): Ich bin gleich wie ein Rhordomel in der wüsten, ich bin gleich wie ein...