E-Book, Deutsch, 256 Seiten
Christ Auschwitzhäftling Nr. 2
1. Auflage 2024
ISBN: 978-3-534-61000-6
Verlag: Theiss in Herder
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Otto Küsel – Der unbekannte Held des Konzentrationslagers
E-Book, Deutsch, 256 Seiten
ISBN: 978-3-534-61000-6
Verlag: Theiss in Herder
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Der deutsche »Berufsverbrecher« Otto Küsel, der im Mai 1940 als Häftling Nr. 2 nach Auschwitz kam, hat als Funktionshäftling Hunderten von polnischen Häftlingen das Leben gerettet, indem er sie vor der »Vernichtung durch Arbeit« bewahrte. 1942 gelang Küsel eine der spektakulärsten Fluchten aus Auschwitz. Neun Monate lebte er im Untergrund; der spätere polnische Außenminister und Friedenspreisträger des deutschen Buchhandels, Wladyslaw Bartoszewski, wollte ihm in dieser Zeit gefälschte Papiere besorgen. Erneut verhaftet, überlebte Küsel Folter und den Todesmarsch. Nach dem Krieg wurde ihm die polnische Staatsbürgerschaft ehrenhalber angeboten. Im ersten Auschwitz-Prozess in Frankfurt am Main hat er als Zeuge ausgesagt.
In Polen ist Otto Küsel ein Held, in Deutschland bis heute so gut wie unbekannt. Sebastian Christ, der 20 Jahre lang auf Küsels Spuren geforscht hat, erzählt seine erschütternde wie heldenhafte Geschichte.
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
Einleitung
Dies ist die Geschichte eines Mannes, der nie vorhatte, ein Held zu werden. Eigentlich wollte er nur frei sein. Er war nicht frei von Fehlern. Gerade deswegen hat er viel zu selten darüber gesprochen, wie viel Gutes er geleistet hat. Und dass er wahrscheinlich Hunderten Menschen das Leben gerettet hat. Sein Name war Otto Küsel. Ein Mann aus dem Berliner Arbeitermilieu, der keiner Ideologie folgte, sondern vor allem seinen Instinkten. Er leistete Widerstand gegen die Gewaltherrschaft der Nazis, ohne sich selbst als Widerstandskämpfer zu sehen. Otto war ein einfacher Mann, der im entscheidenden Moment das Richtige tat. *** Der 14. Juni 1940. Ein Zug trifft im Konzentrationslager Auschwitz ein. Es ist der erste Häftlingstransport überhaupt. In den Güterwaggons befinden sich 700 Polen, die in den Wochen zuvor verhaftet worden waren, oft aus nichtigen Gründen. Die meisten von ihnen sind sehr jung, kaum älter als 20 Jahre. Und sie wissen noch nicht, was ihnen bevorsteht. Selbst auf Nachfrage wollte man ihnen nicht den Zielbahnhof des Transports verraten. Die Türen zum Waggon werden aufgerissen. Ein SS-Mann schreit: »Alle raus! … Los, ihr verfluchten Banditen!« Mit Gewehrkolben werden die Männer aus dem Zug geprügelt, müssen ein Spalier aus Uniformierten passieren, werden angeschrien und mit Fäusten geschlagen. Schließlich erreichen sie das Lagertor. So schildert es der Schriftsteller Wieslaw Kielar in seinem Buch Anus Mundi1, in dem er seine fast fünfjährige Zeit in deutschen Konzentrationslagern beschreibt. Im Lager selbst warteten andere Peiniger auf sie. Sein erster Eindruck war der von »finsteren großen Kerlen, die sonderbarerweise mit etwas angezogen sind, was täuschend an gestreifte Pyjamas erinnert«. Jeder von ihnen hielt einen großen Stock in der Hand. »Ich kriege etwas an der Hand ab, aber der Mantel, den ich in der Hand hielt, minderte zum Glück ein wenig den Schlag. Ich sprang zur Seite, bekam hier aber wieder einen Tritt von einem großen und dicken ›Gestreiften‹.«2 Es war die erste Begegnung mit den Kapos im Lager, jenen Funktionshäftlingen, die sich fast ausschließlich aus deutschen »Berufsverbrechern« rekrutierten und die Häftlingsnummern 1 bis 30 trugen. Und das waren nur die ersten Minuten in Auschwitz. Fortan wurden die neuen Häftlinge stetig gequält. SS und Kapos lebten ihren Sadismus an den Neuankömmlingen aus. Potenziell tödliche Schläge mit Holzknüppeln auf Kopf und Genick. Demütigende Grußrituale, die bei kleinsten Fehlern in Prügelorgien ausarteten. Warnschüsse aus Maschinenpistolen. Von Beginn an sollen die neuen Häftlinge spüren, dass sie von den Deutschen als »Untermenschen« betrachtet werden. Und dann der sogenannte »Sport«: Im Grunde handelte es sich dabei um Folter im klassischen Sinne. Begleitet wurden solche »Turnstunden« von unsäglichen Gewaltexzessen der Kapos. Kielar wurde gleich an einem der ersten Tage befohlen, mit Dutzenden anderen gleichzeitig auf einen Baum zu klettern – begleitet von den Schlägen von Bruno Brodniewicz, Häftling Nummer 1 und Lagerältester. Entkräftet und durch unzählige Hiebe verletzt, fiel er vom Baum hinunter und wurde bewusstlos. Später wachte er aus seiner Ohnmacht auf. Ihm hatte im Stillen jemand geholfen. »Ein Kapo, ein grüner Winkel auf der gestreiften Jacke, Nr. 2. Ohne Stock, ein milder Blick, kleines nach oben strebendes Näschen, die Mütze schief aufgesetzt. Aha, das ist dieser gute Kapo – der Arbeitsdienst. Komm, komm – er winkt mir und den anderen, die daneben liegen«, schrieb Kielar. »›Keine Angst! Eine gute Arbeit! Essen holen‹, sagte Otto gütig.«3 Wieslaw Kielar hatte gerade erstmals Bekanntschaft gemacht mit Otto Küsel, der so ganz anders war als die übrigen 29 Kapos. Für viele polnische Auschwitz-Überlebende war er ein Held. Man nannte ihn auch den »Engel der Polen«. Wahrscheinlich hat er Hunderte Menschen vor der Vernichtungsmaschinerie des Konzentrationslagers Auschwitz gerettet. Das Leben von Otto zu erzählen gleicht einem Puzzlespiel. Er selbst hat nur wenige Quellen über sein eigenes Leben hinterlassen. Ein einziges Wortlautinterview mit ihm ist erhalten: Es entstand Anfang der 1980er-Jahre, geführt vom evangelischen Studentenkreis der Universität Bonn, und erschien wenige Monate vor Ottos Tod im Jahr 1984.4 Die meisten wörtlichen Zitate von ihm, die für dieses Buch verwendet wurden, stammen aus diesem Text. Häftlingsfoto von Otto Küsel, deutlich zu sehen der grüne Winkel und die Häftlingsnummer 2. Wer war dieser Mann, von dem Auschwitz-Überlebende noch Jahrzehnte später so voller Wohlwollen und Respekt erzählten? Otto wurde 1909 in Rixdorf geboren, einer Großstadt vor den Toren Berlins, die 1920 unter dem Namen »Neukölln« in die damalige Reichshauptstadt eingegliedert wurde. Als junger Mann geriet er mehrfach mit dem Gesetz in Konflikt, wahrscheinlich wegen Diebstahls- oder Einbruchsdelikten. Mit Autoritäten stand er nach eigener Aussage ständig in Konflikt. In der Ideologie des NS-Regimes galt er als »Berufsverbrecher« und kam 1937 ins Konzentrationslager Sachsenhausen. Dort wurde er drei Jahre später auf Befehl des späteren Lagerkommandanten Rudolf Höß als einer der ersten 30 Häftlinge für das Konzentrationslager Auschwitz ausgewählt. Diese 30 Häftlinge sollten als Kapos dienen. Sie alle trugen den grünen Winkel auf der Brust, der sie als »Berufsverbrecher« auswies. Nicht alle »Grünen Winkel« in Auschwitz waren Kapos, aber die ersten 30 Funktionshäftlinge waren fast ausnahmslos »Berufsverbrecher«. In der Hierarchie des Lagers standen sie zwischen den SS-Mannschaften und den übrigen Häftlingen. Bestimmte Aufgaben des Lagerregimes wurden an die Kapos delegiert, die ihrerseits dafür Privilegien in der Hölle des Lagerlebens genossen. Kleinere und größere Annehmlichkeiten – beispielsweise die Unterbringung in weniger dicht belegten Baracken oder Sonderzuteilungen beim Essen – sollten dazu dienen, die Kapos zu einem möglichst brutalen Umgang mit ihren Mithäftlingen anzustacheln. Die meisten der ersten 30 Häftlinge in Auschwitz folgten der Logik dieses Systems und wurden zu Sadisten. Doch Otto war anders. Anfangs kamen die Häftlinge im Konzentrationslager Auschwitz mehrheitlich aus Polen. Also lernte Küsel Polnisch, damit er sich mit ihnen verständigen konnte. Mit der Zeit wurde er zu einem ihrer wichtigsten Verbündeten im alltäglichen Kampf ums Überleben. Als »Arbeitsdienst« sollte Otto der SS dabei helfen, die Vernichtung der polnischen Häftlinge durch Arbeit zu ermöglichen. Von ihm wurde erwartet, die teils lebensgefährlichen und teils etwas ungefährlicheren Arbeiten im Lager so zu verteilen, dass die Zahl der Häftlinge dezimiert würde. Otto tat jedoch genau das Gegenteil. Er fand Wege, das System auszutricksen. Kranke und geschwächte Häftlinge schickte er zum Kartoffelschälen oder zu anderen leichten Tätigkeiten – und zwar so lange, bis sie wieder zu Kräften kamen. Neuankömmlingen machte er klar, dass sie im Lager nicht als Akademiker oder Offiziere auffallen dürften – weil sie sonst Gefahr liefen, von der SS als Teil der polnischen Gesellschaftselite getötet zu werden. Otto war auch bekannt dafür, Tipps zu verteilen, wie man selbst schwere Aufgaben so ausgestalten konnte, dass sie körperlich erträglich wurden. Und er arbeitete, zumindest indirekt, mit dem polnischen Lagerwiderstand zusammen. Fluchtwillige bekamen von seinem Büro, in dem später auch Mitglieder des Widerstands arbeiteten, spezielle Tätigkeiten zugeteilt, von denen aus sich ein Entkommen aus Auschwitz einfacher realisieren ließ – beispielsweise auf Posten außerhalb des Lagers. Historiker sind sich einig, dass Ottos Schreibstube einer der wichtigsten Drehpunkte war, mit dessen Hilfe der polnische Widerstand beispielsweise Informationen über die Situation in Auschwitz nach außen schleusen und Lebensmittel organisieren konnte. Und für andere Häftlinge war er einfach ein Mutmacher: Er sprach ihnen Trost zu, half ihnen dabei, das Lager auch psychisch zu überleben. Für ihn selbst war dieses Engagement sehr gefährlich. Stets musste er darauf achten, die Balance zu halten. Einerseits wollte er helfen, andererseits musste er seine Hilfe so ausgestalten, dass er bei der Lagerleitung nicht negativ auffiel. Ihm glückte das über einen erstaunlich langen Zeitraum – zu dem Preis, dass er nicht immer und zu jedem Zeitpunkt zur Tat schreiten konnte und manche Male seine Mithäftlinge vertrösten musste. Im Dezember 1942 gelang Küsel mit drei anderen Häftlingen eine abenteuerliche Flucht aus Auschwitz. Er tauchte in Warschau unter, lebte unter anderem bei einer dem Widerstand...