Cheheltan | Teheran, Revolutionsstraße | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 208 Seiten

Cheheltan Teheran, Revolutionsstraße

Roman

E-Book, Deutsch, 208 Seiten

ISBN: 978-3-406-71012-4
Verlag: Verlag C. H. Beck GmbH & Co. KG
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Der gut situierte Fattah, obwohl kein richtiger Mediziner, ist zum
Operateur und Klinikchef aufgestiegen, seine Spezialität: Zerrissene
Hymen wieder zusammenzunähen. Als er sich in eine seiner
Patientinnen, die siebzahnjährige Shahrsad, verliebt, die dem jungen
Mustafa versprochen ist, kommt es zum Konfl ikt. Beide, Fattah
und Mustafa, sind treue Anhänger des Regimes, Mustafa ein Wärter
und Folterer im berüchtigten Gefängnis Evin, was Shahrsad gar
nicht weiß, und auch Fattah hat dort gearbeitet. Eine dramatische
Entwicklung setzt ein …
In diesem Roman, dem ersten seiner Teheran-Trilogie, gelingt
es Amir Hassan Cheheltan, ein höchst anschauliches, lebensnahes,
nuanciertes und gelegentlich drastisches Bild des nachrevolutionären
Teheran zu zeichnen. Spannend und unterhaltsam, voller
Ironie und Sarkasmus und erzähltechnisch perfekt geschrieben,
liefert dieser Roman mit einer Fülle eindrucksvoller Charaktere ein
Bild der grausam schönen Großstadt und einen Eindruck von der
Gewalt der iranischen Geschichte.
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1
Fattah drehte sich zu der Krankenschwester um, hob den Kopf, hielt die ausgestreckten Hände, die in Latexhandschuhen steckten, in die Höhe und heftete seinen von schweren Lidern beschatteten, müden Blick auf die junge Frau. Offensichtlich hatte ihn etwas verärgert. Die Schwester blickte Fattah unschlüssig an. »Mach ihn auf!« sagte er. Die Schwester war immer noch verwirrt, gab sich zwar einen Ruck, wusste aber nicht, was tun. Fattah sagte, »Öffne meinen Kragenknopf, ich bin am Ersticken.« Dabei riss er, um die Schwester von seiner dringlichen Lage zu überzeugen, die Augen auf und atmete schwer. Auf dem Krankenbett, das von einem gelblichen, schmierigen Laken voll großer bläulicher und violetter Flecken bedeckt war, lag ein blasses junges Mädchen mit geschlossenen Augen unter dem weißen Licht einer Lampe, die an einer Kette von der Zimmerdecke herabhing. Die nackten, mageren Beine hatte es an den Knien abgewinkelt und hielt sie gespreizt. Wie eine Fiebernde bebte sie leicht, und aus ihren halbgeöffneten Lippen drangen dumpfe, lange Seufzer hervor. Vor den niedrigen Fenstern unter der Zimmerdecke hingen Zweige. Die Scheiben waren beinahe vollständig von Schlammspritzern übersät und bis zur Hälfte von Staub und Unrat bedeckt. Trübes, mattes Licht fiel in das Zimmer. Keine Vorhänge verhüllten die Scheiben, eine unglaubliche Fahrlässigkeit. Draußen fuhr ein Motorrad mit ohrenbetäubendem Lärm vorbei, und das Mädchen auf dem Bett öffnete plötzlich die Augen und jammerte. Unwillkürlich wandten sich Arzt und Krankenschwester um und starrten zum Fenster. Die Schwester streifte nacheinander ihre Handschuhe ab. Sie öffnete seinen obersten Kragenknopf. Fattah stieß jäh den Atem aus und sagte, »Na endlich … Den nächsten, … öffne auch den nächsten!« Der Arzt sagte mit kurzen Atemstößen, den Blick durch den Schlitz seiner halbgeöffneten Lider auf sie geheftet, »Dank dir.« Ein weiterer Atemstoß, und diesmal schlug der Krankenschwester der Geruch von saurem, vergorenem Brot und fauligem Fleisch in einer farblosen Wolke ins Gesicht. Fattah schloss zufrieden die Augen. Das Mädchen auf dem schmalen Bett wandte langsam den Kopf und warf einen Blick auf die beiden. Dann biss sie sich auf die Unterlippe und jammerte erneut. Sie hatte Schmerzen. Fattahs rotes, schwammiges Doppelkinn war mittlerweile in seinem Hemdkragen versunken. Aus den Augenwinkeln warf er einen Blick auf das Mädchen und knurrte, »Diese Huren!  … Ständig geben sie sich jedem Erstbesten hin und dann fällt ihnen bei der Hochzeit ein, dass sie nur noch oberhalb des Bauchnabels Mädchen sind!« Gehässigkeit lag in seinen Worten, und er blickte um sich, als wolle er ihre Wirkung auf seine Patientin und die Schwester prüfen. Die Krankenschwester pflichtete ihm bei, »Diese Ferkel!« Fattah machte sich ans Werk. Aus dem Edelstahlgefäß neben sich nahm er sterile Watte und säuberte die Umgebung der Operationsstelle. Dabei sagte er mit hämischer Freude, »Es tut weh, nicht wahr!?« Das Mädchen öffnete kurz die Augen und nickte. Fattah sagte noch strenger als zuvor, »Du bist ja nicht zu Besuch gekommen, meine Beste, das hier ist eine Operation! Daran hättest du früher denken sollen!« Dann deutete er auf eine Schale aus Edelstahl und befahl der Krankenschwester, »Gib her!« Die Schwester schob den Rollwagen heran und hielt ihm die Schale hin. Fattah entnahm ihr die Klemme. Als der Blick des Mädchens auf die Klemme fiel, biss es sich auf die Unterlippe, und ein Jaulen durchzog seinen Brustkorb. Fattah verzog hasserfüllt das Gesicht und sagte verächtlich, »Sei still! Dass ich ja keinen Ton mehr von dir höre!« Er starrte sie immer noch an. Das Mädchen hatte jetzt die Augen, in denen Furcht und ein Flehen flackerten, weit geöffnet, doch Fattah starrte es weiterhin zornig an. Erneut biss sie sich auf die Lippen. Die perlenförmigen Schweißtropfen, die auf ihren Schläfen glänzten, hatten sich in schmale Rinnsale verwandelt und durchnässten den zarten schwarzen Flaum ihrer Ohrläppchen. Fattah beugte den Kopf, legte die Hände auf die Schenkel des Mädchens und spreizte sie. Er schob den Kopf noch näher heran, streckte dabei eine Hand zur Krankenschwester aus und befahl, »Taschenlampe!« Die Schwester schaltete die Taschenlampe ein und hielt sie ihm hin. Fattah deutete zwischen die Beine des Mädchens und sagte, »Siehst du! … Diese Huren!« Die Taschenlampe erhellte den betroffenen Bereich vollständig. Fattah schob seine Brille mit dem Handrücken hoch, inspizierte noch einmal gründlich die Stelle und nahm mit der Klemme die Geweberänder auf. Das Mädchen presste die Zähne auf die Unterlippe und jaulte vor Schmerz auf. Ihre Stirn war schweißüberströmt. Fattah stieß mit dem Ellenbogen die Taschenlampe beiseite und sagte, »Ich brauch sie nicht mehr.« Dann stocherte er mit einem Finger in dem Stahlgefäß herum und sagte, »Gib mir einen Nähfaden.« Dabei blickte er verstohlen auf das Mädchen und sagte gleichgültig, »Gleich ist es vorbei.« Das Mädchen jammerte wieder. Fattah sagte, »Ich habe dir zwei Betäubungsspritzen gegeben. Das bisschen Schmerz wirst du wohl noch ertragen!« Das Mädchen brach in Tränen aus, »Sie wissen ja nicht, Doktor … Als ob …« Fattah spreizte die Hände, »So ist es nun mal …! Außerdem, hast du denn damals keine Schmerzen gehabt, als …« Er blickte zur Zimmerdecke und bat um Vergebung. Sein Blick kehrte jetzt mitleidig zum Mädchen zurück. In diesem Mitleid lag jedoch ein heimliches Vergnügen, und er schüttelte einige Augenblicke den Kopf. Außerhalb des Zimmers saßen in einem halbdunklen Flur zwei ältere Frauen auf einer eisernen Bank dicht nebeneinander und blickten ängstlich auf die geschlossene Tür des Ärztezimmers. Die ältere der beiden, die ihr Gesicht mehr verhüllt hatte, öffnete kurz ihren Tschador und schlang ihn wieder um sich. Sie seufzte und sagte zu ihrer Sitznachbarin, »Liebe Mehri Chanum, sprich einen Segen, ein Gebet für alle Sorgen ist auch recht, … Da vergeht die Zeit wie im Nu! Sprich einen Segen!« Mehri, die um die zweiundvierzig war, begann wie eine Kranke oder eine Mutter, die ihr Kind in den Armen hält, um es einzuschläfern, ihren Oberkörper zu einer sanften, monotonen Melodie zu wiegen. Dann stieß sie jäh einen leisen Ton aus, der wie ein Pfiff klang, und starrte mit schräg gelegtem Hals und kummervollem Blick die schmutzigen Fliesen des Flurs an. Hinter der verschlossenen Tür schrie das Mädchen plötzlich auf. Mehri sprang auf, blickte entsetzt auf ihre Begleiterin und brach beinah in Tränen aus. »Was tun die ihr an, liebste Batul?« Ihre Stimme bebte, Batul strich ihr über den Rücken, und Mehri grub sich die Nägel ins Gesicht. Batul ergriff Mehris Hand. »Nichts, mein Kind, nichts«, sagte sie. »Gleich ist es vorbei!« Als hätte alle Kraft sie verlassen, lehnte Mehri sich zurück und jammerte, »Jetzt ist schon eine halbe Stunde vergangen, seit er mein Kind dort hinein gebracht hat. Allmählich schlägt mir das Herz bis zum Hals …« »Na na! Hast du denn nicht gehört, was er gesagt hat? Eine Wunde zu verbinden dauert eine halbe Stunde. Das ist doch eine Operation und kein Kinderspiel!« Mehri legte die Hände aufeinander, »Ich fürchte, dass sie mein Kind dort drinnen verstümmeln.« Batul schürzte die Lippen, »I wo!  … Verstümmeln? Doktor Fattah versteht sein Handwerk. Der ist so geschickt, man glaubt es kaum!« Mehri, die sich wieder beruhigt hatte, schloss die Augen und begann erneut sich zu wiegen. Abermals ertönte jener pfeifende Ton, der dem Gesurr einer eingesperrten Fliege glich. Wenig später hellte sich plötzlich ihr Gesicht in tiefem Frieden auf, als hätten sich die Tore des Paradieses vor ihr geöffnet. Mehri und Batul waren Nachbarinnen, die keine Geheimnisse voreinander hatten, ein Herz und eine Seele. Ihre dienstäglichen Fahrten nach Dschamkaran, wo sie bei Sonnenuntergang eintrafen, ließen sie nie ausfallen.[*] Nach Fürbitten, Gebeten und ausführlichem Tränenvergießen kehrten sie früh abends zurück nach Teheran. Sie vertrauten einander all ihre Kümmernisse an, weshalb Batul die erste und einzige war, die von Schahrsads verlorener Unschuld erfahren hatte. Batul war allerdings auch findig und hilfsbereit. Sie war es, die Doktor Fattah und, wichtiger noch, das Geld für seine Bezahlung aufgetrieben hatte. Sie hatte es von Mirsa Yadollah bekommen, einem frommen alten Mann, dessen Mündel sie war. Das Geld hatte sie genommen, ohne zu sagen, wozu sie es brauchte. Für einen gottesfürchtigen Menschen, hatte sie gesagt, für eine Dienerin Gottes, sie will es für ihre Ehre verwenden, nur soviel. Das Geld hatte sie mit der Rechten bekommen und mit der Linken Mehri...


Amir Hassan Cheheltan, geboren 1956 in Teheran, studierte in England Elektrotechnik, nahm am Irakkrieg teil und veröffentlichte in Teheran bislang Romane und Erzählbände. Zwei Jahre hielt er sich wegen der Bedrohung durch das Regime mit seiner Familie in Italien auf. Sein Roman „Teheran Revolutionsstraße“ erschien 2009 als Welt-Erstveröffentlichung auf Deutsch. Cheheltan veröffentlicht Essays und Feuilletons in der FAZ, der SZ, der ZEIT und anderswo. Er lebte zuletzt u. a. in Berlin und Los Angeles, inzwischen wieder in Teheran. Bei C.H.Beck ist auch sein Roman „Der Kalligraph von Isfahan“ (2015) erschienen.


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