Cheek | Tage in Cape May | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 336 Seiten

Cheek Tage in Cape May

Roman
1. Auflage 2019
ISBN: 978-3-641-23127-9
Verlag: Blessing
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Roman

E-Book, Deutsch, 336 Seiten

ISBN: 978-3-641-23127-9
Verlag: Blessing
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



September 1957: Henry und Effie fahren für die Flitterwochen nach Cape May, ein Ferienort an der Ostküste. Doch das Städtchen ist verlassen, die Saison ist zu Ende. Die beiden jungen Leute aus Georgia fühlen sich fremd, isoliert und in ihrer Schüchternheit gefangen. Gerade als sie beschließen, den Urlaub zu verkürzen, treffen sie zufällig auf Clara, eine Ferienbekanntschaft Effies aus Kindertagen, die eine glamouröse Gruppe von New Yorkern um sich versammelt. Darunter Max, ein reicher Playboy und ihr Liebhaber, und dessen unnahbare und rätselhafte Schwester Alma.

Der verlassene Ort wird zu ihrem Spielplatz, und während sie in leer stehende Ferienhäuser einsteigen, Segeln gehen, nackt unter dem Sternenhimmel herumwandern, sich lieben und sich betrinken, geraten Henry und Effie in eine Situation, die den Rest ihres Lebens prägen wird.

Ein hypnotisierender Roman, der im Spiegel von Sexualität und gesellschaftlicher Realität der Fünfzigerjahre aktuelle und zeitlose Fragen zu Ehe, Liebe und Loyalität behandelt.

Chip Cheek, geboren 1976, hat bereits in Literaturzeitschriften Kurzgeschichten veröffentlicht, u.a. in The Southern Review, Harvard Review und Washington Square,und erhielt renommierte Schriftstellerstipendien. Tage in Cape May ist sein erster Roman. Chip Cheek lebt in der Nähe von Los Angeles.

Cheek Tage in Cape May jetzt bestellen!

Weitere Infos & Material


1

Die Strände waren leer, die Geschäfte geschlossen und die Häuser entlang der New Hampshire Avenue nach Sonnenuntergang dunkel. Monatelang hatte Effie ihm von diesem Ort erzählt, von den vielen Dingen, die sie hier unternehmen würden, doch hatte Effie das Städtchen nur im Sommer gekannt, und jetzt war es Ende September. Sie hatte nicht gewusst, was »außerhalb der Saison« bedeutete. Sie waren mit dem Nachtzug aus Georgia gekommen und wollten für zwei Wochen bleiben, ihre Flitterwochen.

»Mir gefällt’s«, sagte Henry an ihrem ersten Abend. »Man könnte glauben, wir hätten die ganze Stadt für uns.«

Darüber musste Effie lachen. Einen Augenblick später begann sie zu weinen.

»Es ist nichts. Wirklich nicht – du brauchst mich nicht zu trösten. Ich bin nur müde, mehr nicht.« Sie lächelte ihn an. »Aber ich bin froh, dass es dir gefällt. Wir werden hier eine sehr schöne Zeit haben.«

Vor dieser Reise war Henry nie nördlich von Atlanta gewesen, und er hatte noch nie das Meer gesehen. Er war mit Effie in der kleinen Stadt Signal Creek aufgewachsen, eine halbe Stunde östlich von Macon, und im Frühjahr hatten sie beide die Highschool Thomas E. Cobb beendet, Abschlussjahrgang 1957. Sie war achtzehn Jahre alt, er zwanzig – wie viele Kinder vom Land hatte man ihn erst spät eingeschult. Soweit Henry wusste, waren sie beide noch unberührt.

Das Taxi fuhr vom Busbahnhof am Hafen mit seinem Gewimmel von Schiffsmasten vorbei; dahinter wogte das Meer, gewaltig, die Wellen mit weißen Kronen. Vom Hafen bogen sie in die mit Ulmen bestandene Wohngegend ein, und hier fanden sich auch jene prächtigen viktorianischen Häuser, von denen Effie erzählt hatte: Schiefergiebel, konische Türmchen und helle Farben, Witwengänge mit schmiedeeisernem Gitter, an den Veranden kunstvolle Schnitzereien, zum Gehweg hin offene Spaliere, blühende Chrysanthemen. Die Häuser der New Hampshire Avenue waren schlichter, ein- oder zweistöckige Gebäude, wie man sie, von den Farben einmal abgesehen, auch in Signal Creek hätte finden können. Tante Lizzies Haus war eines davon: in fahlem Rosa gestrichen, zwei Stockwerke, nach vorn raus eine in den Garten mit verwelkten Blumen ragende Veranda. So enttäuschend. Doch als Henry aus dem Wagen stieg und von drei Straßen weiter das Meer hörte, ein gedämpftes, tiefes Grollen, da war ihm, als würde sein wahres Leben jetzt erst beginnen und ihm von nun an jede Tür offen stehen. Er nahm Effie auf die Arme – sie schrie, lachte – und trug sie über die Schwelle.

Das Haus sieht anders aus, sagte Effie, als er sie wieder absetzte. Sie hatte es seit drei Jahren nicht mehr gesehen, zuletzt im Sommer vor Tante Lizzies Ableben. Die Rohrstühle waren neu, ebenso Gasherd, Kühlschrank und Gefriertruhe; damals hatte es noch keine dieser Annehmlichkeiten gegeben. Sie schienen Effie zu irritieren. Im ersten Stock gab es vier Schlafzimmer – auch die sahen anders aus –, und Effie bestand darauf, in der Dachkammer zu übernachten, wo sie als Kind schon geschlafen hatte. Nachdem sie oben am Ende der Treppe eine schwere Glastür aufgeschoben hatte, traten sie ein. Zum Glück war dieses Zimmer unverändert, die Wände steile Schrägen, die Holzbalken unverkleidet. In der Mitte stand ein einzelnes Bett, außerdem gab es eine Kommode und einen verstaubten Schminktisch mit Spiegel. In einer der Ecken entdeckten sie einen kleinen, vertrockneten Weihnachtsbaum, an den Zweigen noch Lametta. Den hatte es damals auch schon gegeben. Effie beugte sich zu den Fenstern auf Bodenhöhe hinab und stieß sie auf. Von hier aus konnte man über die Dächer der Nachbarhäuser hinweg das Meer sehen; Henry bückte sich, um hinauszuschauen.

»Es ist ein bisschen seltsam, ich weiß«, sagte Effie, »aber mir zuliebe? Nur für eine Nacht?«

Ihr zuliebe würde er für den Rest seines Lebens einfach alles tun, hätte er gern geantwortet, aber Effie lachte oft nur, wenn er ihr seine tiefsten Gefühle offenbarte; während der Hochzeitszeremonie hatte sie Mühe gehabt, nicht laut loszuprusten. Stattdessen küsste er sie also und legte ihr eine Hand auf den Schenkel; sein ganzer Körper vibrierte. All die Monate der Vorfreude, und jetzt waren sie endlich hier. Sie kannten sich bereits seit ihrer Kindheit aus Kirche und Schule, nur hatten sie die meiste Zeit kaum aneinander gedacht. Er erinnerte sich, wie sie in der vierten Klasse in weißen Söckchen und ihren Riemchenschuhen vor Mrs. Mobly gestanden hatte, um eine Zeile aus den Psalmen an die Tafel zu schreiben: Mayor Tarletons hochnäsige kleine Tochter. Und er, einer der Jungs von außerhalb, von jenseits der Stadtgrenze. Jetzt waren sie hier, zusammen und allein. Und das ausgerechnet in New Jersey.

Sie legte ihre Hand auf seine Finger. »Lass mich erst ein Bad nehmen«, sagte sie.

Es geschah nicht in der Dachkammer, die zu voll mit Erinnerungen war, sondern in einem der renovierten Schlafzimmer im ersten Stock. Sie entschieden sich für das mit der Rosentapete. Er zog die Vorhänge zu. Effie hatte gebadet, und wie sie nun reglos vor ihm stand, öffnete er den lockeren Gürtel und streifte ihr das Kleid von den Schultern. Das wenige, was sie bislang gewagt hatten, war daheim in verstohlenen Momenten geschehen: ein Nachmittag an der Biegung des Flusses, als er die Träger ihres Badeanzugs herabgezogen und zum ersten Mal ihre Brüste gesehen hatte; der Abend kurz nach der Verlobung auf dem Rücksitz ihres Buicks, als er unter Effies Rock gefasst und sie es zugelassen hatte – die weiche Haut oberhalb der Strümpfe, der elastische Bund des Schlüpfers, der Geruch an seinen Fingern –; jedes Detail brannte sich in sein Gedächtnis ein und war zugleich doch so unwirklich, als hätte er es nur geträumt. In diesem dämmrigen Zimmer, an einem Sonntagnachmittag, wenn sie gewöhnlich in ihren besten Kleidern mit den Familien zusammen aßen, lag Effie nun nackt auf der rosengemusterten Bettdecke. Sie wandte den Blick ab, während er die Hose öffnete, sie zu Boden fallen ließ, nach kurzem Zögern auch die Unterhose auszog und neben ihr ins Bett glitt. Sie küssten sich lang, Haut auf Haut, weich und kühl, dann warm, ehe er sich auf sie legte, weshalb er nicht mehr sah, was er da eigentlich tat. Er beugte sich über sie und fummelte zwischen ihren Beinen herum, bis sie nach unten schaute, seinen Penis behutsam zwischen die Fingerspitzen nahm und ihn an die richtige Stelle führte – und da war sie, ihm nah wie nie. Sein Atem stockte. Sie verhielt sich still. In wenigen Sekunden war es vorbei.

Hinterher lagen sie nebeneinander und sahen zur Kassettendecke hoch. Er überlegte, ob er sich unwiderruflich verändert hatte.

»Tja«, sagte Effie. »Ich denke mal, wir haben es getan.«

Als sie danach, noch früh am Abend, am Strand spazieren gingen, hielten sie Händchen und hatten sich wenig zu sagen. Was gab es auch zu sagen? Sie kannten sich jetzt, kannten einander im biblischen Sinne. Er lächelte sie an; sie lächelte zurück. Das Kleid, das sie trug, hatte sie oft in der Schule angehabt, auch schon ehe ihm der Gedanke gekommen war, mit ihr auszugehen, und dieser vertraute Anblick rückte sie jetzt von ihm ab: Sie war beides, das Mädchen, das er damals auf den Fluren der Thomas E. Cobb gesehen hatte, und die junge Frau, die er nun kannte, viel intimer, hier in Cape May, New Jersey. Seine Frau. Mit der er bereits einen Moment der Würdelosigkeit teilte: Sie hatten auf der rosengemusterten Bettdecke eine ziemliche Ferkelei veranstaltet, aber Effie, die Gute, war so anständig gewesen, darüber zu lachen und ihn zu bitten, ihr doch ein Handtuch zu holen. Dafür war er dankbar.

Unten an der Promenade blieben sie eine Weile stehen und schauten aufs Meer. Die Wellen brachen sich und schlugen ans Ufer, eine nach der anderen in endloser Folge. So viel Wasser: ein Wunder, dass es sie nicht verschlang. Der Himmel war bedeckt; es ging ein scharfer Wind. Über ihren Köpfen kreischten Möwen.

»Ist schon komisch«, sagte Effie. »Im Sommer wimmelt es hier von Leuten.« Sie zeigte auf einen Landungssteg, der von der Promenade abging und an dessen Ende eine Halle stand, in der es, erzählte sie, im Sommer Spiele und Musik gab. Ganze Nachmittage hatte sie mit ihren Freundinnen dort verbracht, bis abends die Lichter angingen. Auf der Promenade hatten Akrobaten und Kraftmenschen ihre Kunststücke gezeigt, standen Buden mit Zuckerwatte und Salzwassertoffee, und Jungen surften in den Wellen.

»Müssen wir eben im Sommer noch mal herkommen«, sagte Henry.

Sie griff wieder nach seiner Hand, und sie folgten der Promenade zurück in die Stadt. Entlang der Beach Avenue zu ihrer Rechten waren alle Läden ausnahmslos dunkel und verschlossen, auf Schildern in den Fenstern stand: Über den Winter geschlossen. Auf Wiedersehen im Mai!

Schließlich fanden sie doch noch ein Restaurant, das geöffnet hatte, und sie setzten sich in eine Nische ans Fenster. Ihr Kellner war ein Junge mit einem Akzent, wie ihn Henry bislang nur aus dem Radio kannte. Er fragte sich, ob er ihnen anmerkte, dass sie gerade Sex gehabt hatten.

»Wenn Sie von so weit herkommen«, fragte der Junge, »warum sind Sie dann nicht gleich nach Florida gefahren?«

»Weil es hier so schön ist«, erwiderte Effie.

Henry bestellte sich einen Hackbraten, Effie Fisch und Chips, und als der Junge den Notizblock wieder in die Gesäßtasche steckte, sagte er: »Tja, wenn Sie mal alles hinter sich lassen wollen, sind Sie hier genau richtig.«

Sie aßen schweigend. »Ich bin so froh, dass wir hergekommen sind«, sagte Henry.

An jenem Abend gingen sie früh hinauf in die Dachkammer und zu Bett. Es war noch nicht einmal acht Uhr.

Effie betete, wie ihre Großmutter es stets getan hatte: auf den Knien neben dem Bett, die Hände gefaltet,...


Robben, Bernhard
Bernhard Robben, geboren 1955, ist seit 1992 als Übersetzer tätig. Er übertrug und überträgt u.a. die Werke von Ian McEwan, John Burnside, John Williams und Salman Rushdie ins Deutsche. 2003 wurde er mit dem Straelener Übersetzerpreis der Kunststiftung NRW ausgezeichnet, 2013 mit dem Ledig-Rowohlt-Preis für sein Lebenswerk geehrt. Er lebt in Brunne, Brandenburg.

Cheek, Chip
Chip Cheek, geboren 1976, hat bereits in Literaturzeitschriften Kurzgeschichten veröffentlicht, u.a. in The Southern Review, Harvard Review und Washington Square, und erhielt renommierte Schriftstellerstipendien. Tage in Cape May ist sein erster Roman. Chip Cheek lebt in der Nähe von Los Angeles.



Ihre Fragen, Wünsche oder Anmerkungen
Vorname*
Nachname*
Ihre E-Mail-Adresse*
Kundennr.
Ihre Nachricht*
Lediglich mit * gekennzeichnete Felder sind Pflichtfelder.
Wenn Sie die im Kontaktformular eingegebenen Daten durch Klick auf den nachfolgenden Button übersenden, erklären Sie sich damit einverstanden, dass wir Ihr Angaben für die Beantwortung Ihrer Anfrage verwenden. Selbstverständlich werden Ihre Daten vertraulich behandelt und nicht an Dritte weitergegeben. Sie können der Verwendung Ihrer Daten jederzeit widersprechen. Das Datenhandling bei Sack Fachmedien erklären wir Ihnen in unserer Datenschutzerklärung.