Briefe. Aus dem Nachlass herausgegeben von Sven Hanuschek und Kristian Wachinger
E-Book, Deutsch, 864 Seiten
ISBN: 978-3-446-26138-9
Verlag: Carl Hanser
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Autoren/Hrsg.
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An Rudolf Hartung London, 30. März 1950 Lieber Herr Dr. Hartung, ich übergebe heute das Manuskript Ihres »Kafka« an Franz Steiner, der zu Besuch in London ist und es sehr gern lesen möchte. Mein langes Schweigen muss Ihnen sonderbar vorkommen, aber es ist mein Unglück, dass ich Bücher oder Manuskripte, an denen mir wirklich gelegen ist, nie sofort lesen kann und Wochen und Monate um mich haben muss, bevor es dazu kommt. Für diese gefährliche Langsamkeit werde ich mit einem besonderen Vertrauensverhältnis belohnt, es ist dann, als wäre jenes »Fremde« schon immer da gewesen, und man hat es im Laufe der langen Zeit erst geheim gelesen. So ist es mir auch mit Ihrer Studie ergangen. Sie hat mir schon auf den ersten Blick gefallen, aber dann bei genauerer Bekanntschaft noch viel mehr. Ich finde es erstaunlich, dass man so viel Wesentliches über Kafka sagen kann, ohne ihn anzutasten. Was ich bis jetzt über ihn kenne – es ist vielleicht nur ein Teil des Bestehenden –, hat immer etwas leicht Unverschämtes. Sie wissen und spüren selber, wie sehr Kafka zu jeder Berührung reizt, und doch sind Sie dieser Versuchung kaum irgendwo erlegen. Ihre methodische Behutsamkeit finde ich wirklich vorbildlich; es ist gewiss unmöglich, sich ruhiger und wirksamer gegen alle die vulgären Fehldeutungen Kafkas abzugrenzen. Es wäre Vieles – beinahe Alles – im Einzelnen zu loben. Ihre Auffassung vom Wesen des Kunstwerkes teile ich durchaus. Den eigentlich geistigen Charakter der Sprache Kafkas haben Sie sehr gut herausgestellt und erklärt. Es muss für jeden Deutsch schreibenden Schriftsteller ein Akt größter Kühnheit bleiben, seine eigenen Worte zwischen Zitate aus Kafka zu setzen; vielleicht war es diese radikale Unvereinbarkeit der sprachlichen Ausdrucksmittel, die mich an jeder Arbeit über Kafka bis jetzt mit Ekel erfüllt hat. Sie werden mich richtig verstehen, wenn ich betone, wie sehr Sie dieser Gefahr entgangen sind. Ihre Vermeidung jedes, auch eines metaphysischen Jargons ist wohltuend. Mein einziger ernsthafter Einwand gilt vielleicht Ihrer – zum Glück recht sparsamen – Verwendung von Psycho-Analyse. Die Deutung der Gehilfen, da sie schon unternommen wird, führt nicht weit genug. Ihre auffallendste Eigenschaft, die Zweizahl, betonen Sie zwar, aber Sie tragen eigentlich nichts zu ihrer Deutung bei. Ich glaube, dass der Gedanke an »Komplexe« Sie hier abgelenkt hat. Man müsste sich einmal ausführlich darüber unterhalten. Es bleibt, auch nach Ihrer Studie, viel über Kafka zu sagen, aber Ihre Betrachtungsweise schließt nichts davon aus. Ich gratuliere Ihnen vom ganzen Herzen zu Ihrer Arbeit und wünsche ihr allen Erfolg. Mit den besten Grüßen Ihr Elias Canetti PS. Die Korrekturen der Komödie wird der Verlag längst erhalten haben. Woher das irrtümliche »Leblang« stammte, ist mir selbst nicht mehr klar. »Himmliwillen«, das zur privaten Sprache des Friseurs gehört und sich verteidigen lässt, hab ich doch aufgegeben. Ich warte nun mit Spannung auf das fertige Buch. E.C. An Cilli Wang London, 4. Juli 1950 Meine liebe Cilli, nun bist Du sicher schon in Holland und wieder mitten im Rummel. Ich kann gar nicht glauben, dass es erst drei Wochen sind, dass Du von hier fortgefahren bist. Die Zeit kommt mir dreimal so lang vor. Es geht mir ab, dass Du nicht gleich um die Ecke bist und dass man nicht, wann immer man Lust dazu hat, über alles Mögliche miteinander reden kann. Es geht mir ab, dass ich Dir nicht vorlesen kann. Ich glaube, Du kannst Dir gar nicht vorstellen, wie viel einem Menschen meiner Art wirkliches Verständnis bedeutet. Ich meine damit nicht, dass man sofort, also oberflächlich reagiert, sondern dass das Gehörte nachwirkt, Kreise in einem zieht, sich mit früheren Kenntnissen und Ahnungen verbindet und zu wesentlichen neuen Fragen führt. Schreib Dir doch bitte alles auf, was Dir dazu einfällt. Ich möchte gern auf zwei Tage nach Bristol kommen, und dann können wir über alles sprechen, was Du gern wissen möchtest, und Du kannst mir auch viel über Norwegen erzählen. Die »Komödie« ist noch immer nicht angekommen, sonst hätte ich sie Dir gleich nach Holland geschickt, damit Du sie da vorfindest. Ich hoffe, der Verleger hat mich nicht zum Narren gehalten, und ich kann sie Dir persönlich nach Bristol mitbringen. Die Non-Sense-Verse waren natürlich ein Geschenk für Dich. Wenn es ein einziges Exemplar davon in der Welt gäbe, würde es Dir gebühren, das gibst Du doch hoffentlich zu! Für mich bist Du heute wirklich der einzige Mensch, der die Kunst von Edward Lear verkörpert, auf eine moderne Weise, und in Deinem Medium natürlich; auf solche Kleinigkeiten kommt es nicht an, wichtig ist die Verwandtschaft im Wesen. Deine Postkarte hat mich nach neuen Landschaften ganz sehnsüchtig gemacht. Hoffentlich können wir wirklich einmal diese Dinge zusammen sehen. Richtige Wälder gibt es in England kaum, sie sind ein Ding der Vergangenheit. Ich bin froh, dass Du dort noch einige schöne Tage erlebt hast. Du kannst es wirklich brauchen. Ich fürchte, es ist ein bisschen viel, was jetzt alles zusammenkommt, und wenn Du gar die australische Tournee doch an die indonesische anschließen kannst, wirst Du aus der Arbeit überhaupt nicht mehr herauskommen, zumindest für ein halbes Jahr. Hoffentlich hat sich Mierofski jetzt schon so weit an Dich gewöhnt, dass es Dir nicht zu schwer wird, mit ihm zu arbeiten. Wirst Du Deinen Begleiter für Indonesien haben? Veza hat ein neues Stück geschrieben, das sehr graziös ist. Ich will, dass sie manches daran ändert, und sie ist auch bereit, es zu tun. Ich glaube, sie wird damit vielleicht wirklich was erreichen können. Sie hat eine ausgesprochene Begabung für englischen Dialog, und es wäre wirklich unsinnig, wenn diese Begabung weiter brachliegt. Sie ist in guter Verfassung, weil sie so intensiv arbeitet, und sehnt sich nach dem Tag, da sie mit einer anerkannten Leistung vor ihre Freunde treten kann. Mir selbst geht es gar nicht gut, und das ist auch der Grund, warum ich Dir nicht früher geschrieben habe. Ich habe manchmal wirklich das Gefühl, dass ich ersticke. Ich ertrage die engen Gedanken nicht, dieses von einem Tag auf den andern Rechnen. Ich brauche einen freieren Atem. Wenn ich ihn habe, werde ich – glaube ich – alles erreichen können, was ich mir vorgenommen habe. Vielleicht kannst Du mir wirklich so helfen, wie wir es besprochen haben. Ich weiß, dass Du es tun wirst, wenn es nur irgend geht. Diese Verzweiflung tötet mir selbst die Arbeit. Schreib mir genau, wann Du durch London kommst. Ich will Dich sehen, auch wenn Du nur ein paar Stunden hier bist. Wir können dann auch etwas für Bristol besprechen. Es ist schön zu denken, dass Du wohl in weniger als 14 Tagen wieder in England bist. Sei tausendmal auf das Herzlichste gegrüßt und nimm einen Kuss von Deinem Elias Der britische Schriftsteller und Zeichner Edward Lear gilt als Erfinder des Limerick, einer Form der Nonsense-Dichtung. »Am 12. [Juni] war Cilli Wang noch hier; wir gingen zusammen zu Mierofsky, der was auf seinem Klavier vorspielte.« (Notiz 30. Juni 1950) Neues Stück von Veza: Die Stücke von Veza Canetti erschienen postum im Druck: 1991 (»Der Oger«) und 2001 die übrigen (in »Der Fund«). An Willi Weismann London, 23. August 1950 Sehr geehrter Herr Weismann, ich bin soeben von einer Reise zurückgekehrt und finde hier Ihren Brief vor. Ich bedaure sehr, dass Sie in Schwierigkeiten sind, und ich erkläre mich mit dem 40% Ausgleich, den Sie mir vorschlagen, und einer Abzahlung der Summe in vier Raten einverstanden. Den Brief Ihres Anwalts sende ich mit gleicher Post unterschrieben zurück. Die »Komödie« habe ich bekommen und ich bin natürlich froh, dass sie noch erschienen ist. Ich habe – wie Sie wissen – hundert Exemplare bestellt, aber es sind erst vierzig eingetroffen. Ich brauche dringend die übrigen; vielleicht können Sie mir die restlichen sechzig in Päckchen von je etwa fünfzehn bald zusenden lassen. Ich werde später noch mehr brauchen; die erste Bestellung war nur eine vorläufige. Seit einiger Zeit wird die Post vom Verlag aus ungenau adressiert und erreicht mich nur mit großer Verspätung. Vielleicht wäre es gut, Sie lassen die Adresse gleich richtigstellen. Auch Ihr Anwalt hat sie falsch. Es ist 14 Crawford Street London W1. Ich hoffe sehr, dass es Ihnen gelingt, den Verlag bald wieder auf die Beine zu stellen, und bin mit den besten Grüßen Ihr Elias Canetti Ausgleich: Vergleichsverfahren zur Abwendung einer Insolvenz des Verlages. An Franz Baermann Steiner London, 23. August 1950 Lieber Steiner, das Samoa-Buch ist endlich an Sie abgegangen. Ich schäme mich über die Verspätung und hoffe, dass Sie dadurch nicht ins Gedränge gekommen sind. Was mit Weismann geschehen ist, wissen Sie. Er hat allen seinen Gläubigern einen Ausgleich vorgeschlagen und es bleibt nichts anderes übrig, als darauf einzugehen. Er hat – buchstäblich – einige Exemplare der Komödie gedruckt, wahrscheinlich in der Hoffnung auf eine Theateraufführung, an der er vertraglich beteiligt wäre. Mehrere Freunde, die Exemplare beim Verlag bestellt haben, können keine bekommen und natürlich ist das Heft auch in keiner Buchhandlung zu haben. Ich höre auch, dass er ohne meine...