Canetti | Gesammelte Werke Band 8: Die Fackel im Ohr | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 348 Seiten

Canetti Gesammelte Werke Band 8: Die Fackel im Ohr

Lebensgeschichte 1921 - 1931

E-Book, Deutsch, 348 Seiten

ISBN: 978-3-446-25335-3
Verlag: Carl Hanser
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Ein Entwicklungsroman aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts: Der junge Canetti hat das Paradies seiner Kindheit verlassen und begibt sich nun auf einen vielfältig verschlungenen Lebensweg. Er schildert seine Frankfurter Schulzeit, die Jahre an der Universität in Wien und das kurze Intermezzo in Berlin. Er begegnet seiner späteren Frau Veza, Karl Kraus, George Grosz, Bertolt Brecht sowie Isaak Babel und vollzieht seine innere Entwicklung zum Schriftsteller.
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Pension Charlotte
Die wechselnden Schauplätze meines frühen Lebens nahm ich ohne Widerstand auf. Ich habe es nie bedauert, daß ich als Kind so kräftigen und kontrastreichen Eindrücken ausgesetzt war. Jeder neue Ort, fremdartig wie er anfangs erschien, gewann mich durch das Besondere, das er hinterließ, und durch seine unabsehbaren Verzweigungen. Einen einzigen Schritt habe ich mit Bitterkeit empfunden, ich habe es nie verwunden, daß ich Zürich verließ. Ich war 16 und fühlte mich an Menschen und Lokalitäten, Schule, Land, Dichtung, ja sogar an die Sprache, die ich mir gegen den zähen Widerstand der Mutter erworben hatte, so stark gebunden, daß ich es nie mehr verlassen mochte. Nach bloß fünf Jahren in Zürich und in diesem frühen Alter war mir zumute, als sollte ich nun nirgends anders mehr hin und ein ganzes Leben, in zunehmendem geistigen Wohlergehen, hier verbringen. Der Riß war gewaltsam, und alles, was ich an Gründen für mein erwünschtes Bleiben ins Treffen führte, war verhöhnt worden. Nach dem vernichtenden Gespräch, in dem über mein Schicksal entschieden wurde, stand ich lächerlich und kleinmütig da, als Feigling, der um bloßer Bücher willen dem Leben nicht ins Gesicht sah, als anmaßend, mit falschem Wissen vollgepfropft, das zu nichts nütze war, als eng und selbstzufrieden, als Parasit, als Pensionist, als Greis, bevor ich mich in irgend etwas bewährt hatte. In der neuen Umgebung, deren Wahl unter Umständen erfolgt war, die für mich im Dunkel lagen, reagierte ich auf zweierlei Weise gegen die Brutalität des Wechsels: einmal durch Heimweh, es galt als eine natürliche Krankheit der Menschen, in deren Land ich gelebt hatte, und indem ich es auf das heftigste empfand, fühlte ich mich ihnen zugehörig. Das zweite war eine kritische Einstellung zu meiner neuen Umgebung. Vorbei war die Zeit des unbehinderten Einströmens alles Unbekannten. Ich suchte mich dagegen zu verschließen, denn es war mir aufgedrängt worden. Zu einer kompletten wahllosen Abwehr war ich aber nicht imstande, dazu war ich von Hause aus zu empfänglich geraten, so begann eine Periode der Prüfung und satirischen Zuspitzung. Was anders war, als ich es kannte, übertrieb sich mir und erschien mir komisch. Es kam dazu, daß vieles sich gleich auf einmal präsentierte. Wir waren nach Frankfurt gezogen, und da die Umstände ungewiß waren und wir noch nicht wußten, wie lange wir bleiben würden, zogen wir in eine Pension. Da lebten wir in zwei Zimmern, ziemlich gedrängt, viel näher mit anderen Menschen als je zuvor, wir fühlten uns zwar als Familie, aber wir aßen unten mit anderen zusammen an einem langen Pensionstisch. In der Pension Charlotte lernten wir alle möglichen Menschen kennen, die ich täglich während der Hauptmahlzeit wiedersah und die nur allmählich wechselten. Einige waren während der ganzen zwei Jahre da, die ich schließlich in der Pension verbrachte, andere bloß ein oder auch nur ein halbes Jahr; sie waren sehr unterschiedlich, alle haben sich mir eingeprägt, doch mußte ich gut aufpassen, um zu verstehen, wovon die Rede war. Meine Brüder, damals 11 und 13 Jahre alt, waren die Jüngsten, und dann kam gleich ich in meinem 17. Jahr. Die Gäste fanden sich nicht immer unten ein. Fräulein Rahm, ein schlankes, junges Mannequin, sehr blond, die modische Schönheit der Pension, kam nur manchmal zum Essen. Sie nahm wegen ihrer Figur nur wenig zu sich, um so mehr war von ihr die Rede. Kein Mann, der ihr nicht nachsah, kein Mann, den es nicht nach ihr gelüstete, und da man wußte, daß es neben ihrem festen Freund, dem Inhaber eines Herrenmodegeschäfts, der nicht in der Pension wohnte, auch andere Männer gab, die sie besuchten, dachten viele an sie und betrachteten sie mit dem Wohlgefallen für etwas, das einem zusteht und einem eines Tages auch zufallen könnte. Die Frauen lästerten über sie. Die Männer, wenn sie es vor ihren Frauen riskierten oder wenn sie allein waren, legten ein gutes Wort für sie ein, besonders für ihre elegante Figur, sie war so hoch und schlank, daß man mit den Augen an ihr auf und ab klettern konnte, ohne irgendwo Halt zu finden. Am Kopf des Pensionstisches saß Frau Kupfer, braun und von Sorge ausgemergelt, eine Kriegswitwe, die die Pension betrieb, um sich und ihren Sohn durchzubringen, sehr ordentlich, genau, der Schwierigkeiten dieser Zeit, die sich in Zahlen ausdrücken ließen, immer bewußt, ihr häufigster Satz war »Das kann ich mir nicht leisten«. Ihr Sohn Oskar, ein untersetzter Junge mit buschigen Augenbrauen und niederer Stirn, saß zu ihrer Rechten. Herr Rebhuhn saß zur Linken von Frau Kupfer, ein asthmatischer älterer Herr, Bankprokurist, überaus freundlich, nur wenn die Rede auf den Ausgang des Krieges kam, wurde er finster und böse. Er war zwar Jude, aber höchst deutschnational gesinnt, und wenn jemand ihm dann widersprach, fuhr blitzrasch, ganz gegen seine gemächliche Art, der ›Dolchstoß‹ heraus. Er regte sich bis zu einem Asthmaanfall auf und mußte dann von seiner Schwester, Fräulein Rebhuhn, die mit ihm in der Pension wohnte, hinausgeführt werden. Da man diese Eigenheit von ihm kannte und auch wußte, wie sehr er unter seinem Asthma litt, vermied man es im allgemeinen, das Gespräch auf diesen wunden Punkt zu bringen, so daß es ganz selten zum Ausbruch kam. Nur Herr Schutt, dessen Kriegsverletzung dem Asthma Herrn Rebhuhns an Schwere in nichts nachstand, der nur an Krücken gehen konnte, an argen Schmerzen litt, sehr bleich aussah – er mußte Morphium gegen seine Schmerzen nehmen –, nahm sich kein Blatt vor den Mund. Er haßte den Krieg, bedauerte, daß er nicht vor seiner schweren Verletzung zu Ende gegangen war, betonte, daß er ihn vorausgesehen und den Kaiser immer schon für gemeingefährlich gehalten habe, bekannte sich als Unabhängiger und hätte im Reichstag ohne zu zögern gegen die Kriegskredite gestimmt. Es war wirklich sehr ungeschickt, daß die beiden, Herr Rebhuhn und Herr Schutt, so nah voneinander saßen, nur durch das ältliche Fräulein Rebhuhn getrennt. Wenn Gefahr drohte, wandte sie sich nach links ihrem Nachbarn zu, spitzte ihren süßlich-altjüngferlichen Mund, legte den Zeigefinger davor und gab Herrn Schutt einen flehentlichen langen Blick, wobei sie mit dem Zeigefinger der rechten Hand vorsichtig schief nach unten auf ihren Bruder wies. Herr Schutt, der sonst so bitter war, verstand und hielt fast immer inne, meist unterbrach er sich noch im Satz, ohnehin sprach er so leise, daß man genau zuhören mußte, bevor man etwas verstand. So war die Situation dank Fräulein Rebhuhn, die immer wachsam auf seine Sätze achtete, gerettet. Herr Rebhuhn hatte noch nichts gemerkt, er selber fing nie an, er war der friedlichste und sanfteste aller Menschen. Nur wenn jemand auf das Kriegsende kam und seinen aufrührerischen Charakter guthieß, kam blitzartig eben der Dolchstoß über ihn, und er warf sich blind in den Kampf. Es wäre aber völlig verfehlt zu glauben, daß es sonst an diesem Tische ähnlich zuging. Dieser kriegerische Konflikt war der einzige, dessen ich mich entsinne, und vielleicht hätte ich ihn vergessen, wenn er sich nach einem Jahr nicht so zugespitzt hätte, daß man die Gegner beide vom Pensionstisch wegführen mußte, Herrn Rebhuhn wie immer am Arm seiner Schwester, Herrn Schutt viel mühseliger auf seinen Krücken und mit Hilfe von Fräulein Kündig, einer Lehrerin, die schon lange in der Pension wohnte, seine Freundin geworden war und ihn später auch heiratete, um ihm einen eigenen Haushalt einzurichten und ihn besser zu versorgen. Fräulein Kündig war eine von zwei Lehrerinnen in der Pension. Die andere, Fräulein Bunzel, hatte ein pockennarbiges Gesicht und eine etwas weinerliche Stimme, so als beklage sie mit jedem Satz ihre Häßlichkeit. Jung waren sie beide nicht, vielleicht vierzigjährig, beide vertraten die Bildung in der Pension. Als beflissene Leser der ›Frankfurter Zeitung‹ wußten sie, worauf es ankam und worüber man sprach, und man spürte, daß sie auf der Lauer nach Gesprächspartnern waren, die sich nicht zu unwürdig anließen. Doch waren sie keineswegs taktlos, wenn kein Herr sich fand, der sich zu Unruh, zu Binding, zu Spengler oder zu Meier-Graefes ›Vincent‹ äußern mochte. Sie wußten, was sie...


Canetti, Elias
Elias Canetti wurde 1905 in Rustschuk/Bulgarien geboren und wuchs in Manchester, Zürich, Frankfurt und Wien auf. 1929 promovierte er in Wien zum Dr. rer. nat. 1930/31 erfolgte die Niederschrift seines Romans Die Blendung, der 1935 erschien. 1938 emigrierte Canetti nach London, wo er anthropologische und sozialhistorische Studien zu Masse und Macht (1960) aufnahm. Ab den 1970er Jahren lebte er vorwiegend in der Schweiz und erlangte weiterreichende Berühmtheit mit seinen Theaterstücken, den Aufzeichnungen und den autobiographischen Büchern, darunter Die gerettete Zunge. 1981 wurde ihm der Nobelpreis für Literatur verliehen. 1994 starb er in Zürich.

Elias Canetti wurde 1905 in Rustschuk / Bulgarien geboren, 1911 zog seine Familie nach England und 1913, nach dem Tod des Vaters, nach Wien. Hier studierte Canetti bis 1929 Naturwissenschaften und promovierte in Philosophie. Er lebte bis zu seinem Tod im Jahre 1994 als freier Schriftsteller in Zürich. Sein Werk wurde mit zahlreichen internationalen Preisen bedacht. 1981 wurde ihm der Nobelpreis für Literatur verliehen. Zu seinen herausragenden Werken zählt neben dem Roman Die Blendung seine Autobiographie, die in den Bänden Die gerettete Zunge, Die Fackel im Ohr und Das Augenspiel erschien, sowie seine gesammelten Aufzeichnungen aus den Jahren 1942 bis 1993, die in den Bänden Die Provinz des Menschen, Das Geheimherz der Uhr, Die Fliegenpein, Nachträge aus Hampstead und Aufzeichnungen 1992-1993 vorliegen.


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