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E-Book

E-Book, Deutsch, 272 Seiten

Canal Der Grund


1. Auflage 2014
ISBN: 978-3-86648-310-1
Verlag: mareverlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

E-Book, Deutsch, 272 Seiten

ISBN: 978-3-86648-310-1
Verlag: mareverlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Wie oft kann ein Mensch von vorn beginnen?

Ein reicher Stockholmer Vorort in den Sechzigerjahren: Laurits liebt das Spielen mit seinem besten Freund, das Schwimmen und Tauchen am Sommerhäuschen und vor allem die Klavierstunden bei Fräulein Andersson. Überall fühlt er sich wohler als in Gegenwart seiner überspannten Mutter und des dominanten Vaters, der für seinen Sohn eine Zukunft als Mediziner vorsieht. Doch als Laurits 18 wird, ist eine Karriere als Konzertpianist zum Greifen nah, und er spielt um sein Leben.
Dann kommt alles anders als gedacht; Laurits findet seine Bestimmung als Arzt - und mit seiner großen Liebe Silja und der gemeinsamen Tochter Liis das Glück. Bis er Jahre später bei einem Familienfest erfahren muss, dass sein Leben auf Sand gebaut ist. Er trifft eine folgenschwere Entscheidung...

"Der Grund" erzählt die Geschichte eines Mannes, der immer wieder gezwungen ist, sich neu zu erfinden - und entwickelt dabei einen atmosphärischen Sog, dem sich der Leser nicht entziehen kann. Mit allen Sinnen erlebt man zusammen mit Laurits Licht und Schatten im großbürgerlichen Elternhaus zwischen Pflichterfüllung und Freiheitsdrang und begleitet ihn auf seiner Suche nach Aussöhnung, die ihn um die ganze Welt führt.

"Ich habe mich in dieses Buch verliebt: Je näher ich ihm gekommen bin, desto ehrlicher hat es zurückgeschaut. Wunderbar!" Heikko Deutschmann

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Freitag, 15. 10. 1976
Die Tür ging auf, ein kalter Luftzug. »Victor Alexander Laurentius Simonsen, bitte«, sagte eine Frau. Sie hatte ein Vogelgesicht, spitz und überlegen wie eine Elster, mit wachen Augen. Laurits stand auf und wischte sich die Hände an den Hosenbeinen ab. Er fühlte sich, als wäre er gerade aus dem Koma erwacht. Ihm war schwindelig, sein Gehirn wie in Watte verpackt und seine Ohren – etwas war mit seinen Ohren. Die Gespräche auf dem Flur, die Schritte auf dem Steinboden, die Toilettenspülung, deren ununterbrochenes Rauschen ihn in der vergangenen Stunde eigentümlich beruhigt hatte – alles klang dumpf, kilometerweit weg. Einen Moment lang fürchtete er, ohnmächtig zu werden, doch der unnachgiebige Blick der Frau ließ das nicht zu. Sie winkte ihn ungeduldig zu sich heran, und während er versuchte, wieder in der Wirklichkeit zu ankern, verzog sie das Gesicht zu einem Lächeln, das trotz aller bemühten Freundlichkeit aussah, als wollte sie ihm im nächsten Moment den Schnabel in die Halsschlagader stoßen. Ihr Mund bewegte sich. »Kommen Sie, Sie sind an der Reihe.« Langsam erkannte er den Flur wieder, die Tür, die er seit einer Ewigkeit angestarrt hatte, und ihm fiel ein, warum er hierhergekommen war. Es war wegen Fräulein Anderssons Worten: »Du kennst deine Grenzen, Laurits. Überschreite sie.« Er würde Pianist werden. In der Stunde, die vergangen war, seit er bei dem schwerhörigen Mann an der Rezeption das Anmeldeformular ausgefüllt, seine Lackschuhe angezogen und auf dem Flur Platz genommen hatte, war sein ursprünglich solides Selbstvertrauen wie eine Kerze in einem zugigen Fenster flackernd heruntergebrannt. Drei Mal war er seither auf der Toilette gewesen. Zuletzt hatte er sich Wasser ins Gesicht gespritzt, um sich ein wenig zu beruhigen. Er hatte sich auf dem Waschbecken abgestützt und im Spiegel verfolgt, wie die Tropfen über sein fahles Gesicht liefen, hatte sich in die braunen Augen geschaut und nichts als Unsicherheit gesehen. Was war mit seinen sonst so starken Konzertnerven passiert? Die dunklen Locken klebten feucht an seiner Stirn, und er wusste nicht, ob es Schweiß war oder Wasser. Ausdruckslos starrte sein Spiegelbild ihn an. Er erkannte sich kaum. Kniff die Augen zusammen und versuchte, den eigenen Blick zu fixieren. Wieso hatte er eigentlich diese Schlupflider? Niemand in der Familie seiner Mutter hatte solche fleischigen Oberlider, die einfach so nach innen verschwanden, nein, sie hatten allesamt große, fein geschnittene Augen, die noch dazu von einer fast unnatürlich grünen Farbe waren. Die Augen seines Vaters waren zwar braun, genau wie seine, aber auch sie hatten nicht diese dreieckige Hundeaugenform. Sie waren groß und klar. Vor ein paar Jahren hatte der Professor einmal vorgeschlagen, Laurits’ kleinen kosmetischen Fehler, wie er es nannte, zu beheben. »Ein einfacher Schnitt, Sohn«, sagte er. »Wir entfernen die überschüssige Haut und Muskulatur der Oberlider, und schon wird ein richtiger Mensch aus dir.« Doch dieser Eingriff hatte nie Priorität bekommen. Laurits’ ausgeprägte Kinnpartie hingegen war eindeutig Amys Erbe, ebenso wie die schmale Oberlippe, über deren Mitte sich ein für seine Begriffe viel zu tiefes Grübchen bis zur Nase zog. Er mochte diese Delle nicht. Beim Rasieren machte sie jedes Mal Schwierigkeiten, und außerdem dominierte sie sein Gesicht auf unangenehme Weise. Laurits sah dem Tropfen zu, der im Zeitlupentempo von der Nasenspitze zur Lippe rollte. Er fing ihn mit der Zungenspitze auf – salzig. Schnell fuhr er sich mit den Händen übers Gesicht, zog ein Papierhandtuch aus dem Spender und trocknete sich ab. Er betrachtete seine Hände. Lange, schmale und doch kraftvolle Finger, Männerhände schon, und so sauber, wie Fräulein Andersson es vom ersten Tag an von ihm verlangt hatte. Die Halbmonde auf den ordentlich gefeilten Fingernägeln strahlten rund und gleichmäßig. Er streckte die Arme vor sich aus, bewegte die Handgelenke und die Finger und war etwas beruhigt, als er kein Zittern wahrnahm. Noch einmal drehte er den Hahn auf, ließ sich das heiße Wasser über den Puls laufen und sah zu, wie die Haut sich rötete. Die Zeit war geschlichen. Und dann hatte die Elster seinen Namen ausgerufen. Er sah die Frau an und drückte sich, ohne sie aus den Augen zu lassen, an ihr vorbei in den großen Saal. Die Luft war schlecht, das fiel ihm als Erstes auf. Der Angstschweiß seiner Vorgänger hing sauer im Raum, aber in diesem Augenblick half ihm das sogar. Ein bekannter Geruch, ein vertrautes Gefühl. Die Ruhe, die er schon verloren geglaubt hatte, grüßte aus einer fernen Ecke seines Gehirns und signalisierte, dass sie noch da war. Das Türschloss klickte leise hinter ihm und verbannte den Rest der Welt nach draußen. Eine Sekunde absoluter Stille. Nachhall vieler Stunden am Flügel. Die Tür wurde noch einmal geöffnet. Laurits drehte sich um. Ein Mann in einem grauen Kittel, vermutlich der Hausmeister, kam herein und reichte der Frau einen Zettel. Sie nahm das Papier entgegen und versuchte, mit leisen Schritten den Raum zu durchqueren, doch ihre Absätze klapperten umso lauter. Ein schneller Blick durch den Raum. In der Mitte des Saals stand ein beleuchteter Flügel. Ein Steinway. Das war gut, auch bei Fräulein Andersson hatte er immer auf dem Steinway gespielt. Und unter den Fenstern, im Gegenlicht, saßen wie schwarze Figuren eines Schattentheaters die fünf Juroren. »Sind Sie Victor Alexander Laurentius Simonsen?«, fragte eine Männerstimme. Er konnte nicht ausmachen, wer gesprochen hatte. Die Elster saß rechts am Rand. Sie hatte ein Klemmbrett auf den Knien und machte sich Notizen. Offenbar gehörte sie nicht zur Jury. Er räusperte sich. »Ja«, antwortete er mit klarer Stimme. »Geburtsdatum?«, fragte der undefinierbare Mann. »4. August 1958.« »Sie sind noch sehr jung, Herr Simonsen. Gerade mal achtzehn. Sind Sie sicher, dass Sie schon so weit sind?« »Ja.« Plötzlich setzte ein einzelner Sonnenstrahl die Jurorenbank ins Rampenlicht, und die Männer bekamen Gesichter. Allerweltsgesichter, aus denen eine ernüchternde Gleichgültigkeit sprach. An ihren Mienen war nichts abzulesen. Nur ein alter Glatzkopf sah ihn durch seine Hornbrille naserümpfend an, als ob etwas nicht stimmte. »Sie haben sich da ja ein schönes Programm ausgedacht«, sagte er. »In welcher Reihenfolge wollen Sie spielen?« »Romantik, Etüde und Wiener Klassik. Aus Schuberts Impromptus Nummer vier das Allegretto in As-Dur, Chopins Ozeanetüde Opus 25, Nummer 12, und den ersten Satz aus Haydns Sonate in Es-Dur.« Papierrascheln. Blättern. Husten. »Also. Bitte schön.« Laurits nickte, zupfte an seiner Fliege. Seine Mutter hatte darauf bestanden. Ein Schlips wäre ihm lieber gewesen, mit dieser Fliege fühlte er sich falsch, ganz falsch, er hätte nicht auf sie hören sollen, hätte diese Fliege unterwegs einfach wegwerfen sollen, doch jetzt war es dafür zu spät. Jetzt kam es nur noch auf ihn an, auf sein Spiel, sein Können, seinen Willen. Er ging hinüber zum Flügel. Im schwarzen Lack spiegelten sich die Lampen, helle Scheinwerfer, die auf ihn herunterstrahlten. Vorsichtig, wie man einem fremden Pferd zum Kennenlernen über die Stirn streicht, berührte er die glatte Oberfläche. Er setzte sich, stellte an der Bank die richtige Höhe ein und überprüfte den Abstand zum Instrument, dann atmete er durch die Nase ein und legte die Hände auf die Tasten. Sie waren kühl und eben und vertraut. Er hatte keine Zweifel, nur ein Ziel. »Du siehst großartig aus. Wie ein erwachsener Mann«, hatte seine Mutter gesagt, als es nach einem zähen Vormittag und einem mühsam überstandenen Mittagessen endlich an der Zeit gewesen war, sich auf den Weg zur Bushaltestelle zu machen. Er schlang sich den Schal um den Hals und zog seinen Parka über das Anzugjackett. »Willst du keine Mütze anziehen?«, fragte sie. »Brauche ich nicht«, antwortete er. Obwohl es seit Kurzem merklich kühler geworden war und der Herbst schon in den Blättern leuchtete, ließ er an so einem wichtigen Tag lieber Luft an seine »Hippie-Locken«, wie sein Vater seine Frisur bezeichnete. Seine Mutter nahm sein Gesicht in ihre immerkalten Hände, kam ganz nah. Ihr Atem roch nach Pfefferminz. »Ich bin so stolz auf dich. Ich habe immer gewusst, dass du es schaffst«, sagte sie und lächelte gequält. »Und du bist sicher, dass ich dich nicht fahren...


Anne von Canal, geboren 1973, war nach dem Studium der Skandinavistik und Germanistik zehn Jahre lang im Verlagswesen tätig, bevor sie sich selbst dem Schreiben widmete. Heute lebt sie auf einem Weingut an der Mosel und zeitweise in Hamburg. "Der Grund" ist ihr literarisches Debüt.



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