Camilleri | Die Flügel der Sphinx | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, Band 11, 271 Seiten

Reihe: Commissario Montalbano

Camilleri Die Flügel der Sphinx

Commissario Montalbano sehnt sich nach der Leichtigkeit des Seins. Roman

E-Book, Deutsch, Band 11, 271 Seiten

Reihe: Commissario Montalbano

ISBN: 978-3-8387-0442-5
Verlag: Bastei Lübbe
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Der Mord an einer jungen Frau bereitet der Polizei von Vigàta Kopfzerbrechen. Es gibt keine Hinweise auf die Identität des Opfers und das Gesicht ist völlig entstellt. Einziger Anhaltspunkt ist ein Tattoo: ein Schmetterling. Commissario Montalbano findet heraus, dass die Unbekannte zu einer Gruppe junger Russinnen gehörte, die von einer Institution namens 'Der gute Wille' zwecks Jobvermittlung nach Italien gelockt worden war. Und ihm wird schnell klar, dass der Padrone des Vereins offenbar einiges zu verbergen hat...

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Eins

Wohin nur waren die frühen Morgenstunden entflohen, in denen er sich schon beim Aufwachen wie von einem reinen, grundlosen Glück durchströmt fühlte?

Dabei ging es gar nicht darum, dass der Tag sich wolkenlos, windstill und nur voll Sonnenschein zeigte, nein, es war ein völlig anderes Empfinden, das nichts mit seiner Neigung zur Wetterfühligkeit zu tun hatte; wenn man es erklären wollte, war es, als hätte er sich in Einklang mit der gesamten Schöpfung befunden, in vollkommener Übereinstimmung mit der großen Sternenuhr, die genau in der Mitte des Weltenraums angebracht war, just an dem Punkt, der vom Augenblick seiner Geburt an für ihn bestimmt war.

Blödsinn? Fantastereien? Möglicherweise.

Doch was sich nicht wegdiskutieren ließ, war, dass er dieses Gefühl früher häufig hatte, während es jetzt schon seit einigen Jahren einfach weg war. Verschwunden. Ausgelöscht. Genauer gesagt, riefen die ersten Morgenstunden jetzt oft Unbehagen in ihm hervor, einen instinktiven Widerwillen gegenüber dem, was ihn erwartete, wenn er sich denn mit der Aussicht auf den neuen Tag abgefunden hatte, auch wenn ihm im Lauf des Tages gar nichts Schlimmes begegnete. Und die Bestätigung dafür lieferte sein Befinden unmittelbar nach dem Aufwachen.

Jetzt öffnete er die Augenlider nur kurz und schloss sie gleich wieder und verharrte so noch ein paar Sekunden im Dunkeln, wohingegen er früher, sobald er die Augen aufschlug, sie auch offen hielt, ja, sie sogar beinahe aufriss, um gierig das Licht des Tages einzufangen.

Das, dachte er, hat ganz sicher etwas mit dem Alter zu tun.

Doch gegen diese Feststellung rebellierte auf der Stelle Montalbano Nummer zwei.

Denn schon seit ein paar Jahren lebten im Commissario zwei Montalbanos, die unentwegt im Clinch miteinander lagen. Sobald der eine etwas sagte, behauptete der andere das Gegenteil. Und so war es auch jetzt.

»Was soll denn das mit dem Alter?«, sagte Montalbano Nummer zwei. »Wie kann es denn sein, dass du dich mit sechsundfünfzig alt fühlst? Willst du die wahre Wahrheit hören?«

»Nein«, sagte Montalbano Nummer eins.

»Ich sag sie dir aber trotzdem. Du willst dich alt fühlen, weil es dir in den Kram passt. Und weil du deiner selbst überdrüssig geworden bist, zimmerst du dir jetzt dieses Alibi mit dem Alter zurecht. Aber wenn du dich so fühlst, warum reichst du dann nicht als Allererstes eine schöne schriftliche Kündigung ein und schaffst dir alles vom Hals?«

»Und was mache ich dann?«

»Du spielst den Alten, schaffst dir einen Hund an, der dir Gesellschaft leistet, gehst morgens raus, kaufst die Zeitung, setzt dich auf eine Bank, lässt den Hund von der Leine und fängst an zu lesen, am besten zuerst die Todesanzeigen.«

»Wieso denn die Todesanzeigen?«

»Weil es dir gleich ein bisschen besser geht, wenn du liest, dass irgendeiner in deinem Alter gestorben ist, während du noch einigermaßen lebendig bist. Das hilft dir schon mal über die nächsten vierundzwanzig Stunden hinweg. Nach einem Stündchen …«

»Nach einem Stündchen geht dir das ungeheuer auf den Sack, dir samt deinem Hündchen«, sagte Montalbano Nummer eins, ganz gelähmt von dieser Aussicht.

»Na, dann steh auf, geh zur Arbeit und trample einem nicht auf den Eiern rum«, sagte Montalbano Nummer zwei resolut.

Während er unter der Dusche stand, klingelte das Telefon. So, wie er war, ging er an den Apparat und hinterließ eine nasse Spur von Fußabdrücken. Später würde ja Adelina kommen und sauber machen.

»Dottori, ich hab Sie doch nicht geweckt?«

»Nein, Catarè, ich war schon wach.«

»Ist das auch ganz wirklich wahr, Dottori? Sie sagen das nicht nur aus Höflichkeit?«

»Nein, mach dir keine Sorgen. Was gibt’s denn?«

»Was soll’s schon geben, Dottori, wenn ich Sie so früh am Morgen anrufe?«

»Ist dir eigentlich klar, Catarè, dass du nie gute Nachrichten für mich hast, wenn du mich anrufst?«

Augenblicklich schlug Catarellas Tonfall ins Weinerliche um.

»Ah, Dottori, Dottori! Warum sagen Sie so was zu mir? Wollen Sie auf mir herumhacken? Wenn’s nach mir gehen täte, würde ich Sie jeden Morgen mit einer guten Nachricht aufwecken, was weiß ich, dass Sie drei Milliarden im Lotto gewonnen haben, dass man Sie zum Questore ernannt hat, dass …«

Montalbano hatte gar nicht gehört, dass die Tür aufgegangen war, und sah sich plötzlich Adelina gegenüber, die ihn anstarrte, die Schlüssel noch in der Hand. Wieso war sie so früh gekommen? Er dreht sich beinahe instinktiv und etwas verschämt zum Telefon, und zwar so, dass seine Genitalien nicht mehr sichtbar waren. Anscheinend gibt die Rückenansicht eines Mannes weniger Anlass zur Scham als die Vorderansicht. Adelina ging unverzüglich in die Küche.

»Catarè, wollen wir wetten, dass ich weiß, weshalb du mich anrufst? Man hat einen Toten gefunden. Hab ich recht?«

»Ja und nein, Dottori.«

»Wo habe ich unrecht?«

»Es handelt sich um eine Tote.«

»Ist denn Dottor Augello nicht da?«

»Der ist schon am Tatort, Dottori. Doch grad eben hat Dottori Augello mich angerufen, damit ich Sie anrufe, Dottori, weil ich Ihnen nämlich sagen soll, dass es besser ist, wenn Sie, Dottori, persönlich selbst auch dahin kommen.«

»Wo hat man sie gefunden?«

»Im Salsetto, Dottori, ganz nahe bei der amerikanischen Brücke.«

Der Ort war weit entfernt, an der Straße nach Montelusa. Und er hatte überhaupt keine Lust, sich hinters Steuer zu setzen.

»Schick mir ein Auto rüber.«

»Die Autos sind zwar in der Garage, können aber nicht losfahren, Dottori.«

»Haben sie denn alle gleichzeitig den Geist aufgegeben?«

»Nicht doch, Dottori, funktionieren tun sie schon. Aber es ist kein Geld mehr da, um sie aufzutanken. Fazio hat Montelusa angerufen, aber da hat man ihm gesagt, er soll sich gedulden, in ’n paar Tagen würde es ankommen, allerdings wenig … Und deshalb können im Moment nur die Streifenwagen fahren und die Begleitfahrzeuge für den Abgeordneten Garruso.«

»Der heißt Garrufo, Catarè.«

»Soll er doch heißen, wie er heißt. Wichtig ist nur, dass Sie verstehen, wen ich meine, Dottori.«

Montalbano fluchte. Die Kommissariate hatten kein Benzin, die Gerichte kein Papier, die Krankenhäuser keine Fieberthermometer, und unterdessen plante die in den letzten Zügen liegende Regierung eine Brücke über die Meerenge von Messina. Aber am Benzin für die sinnlosen Begleitfahrzeuge der Minister, der Vizeminister, der Staatssekretäre, der Fraktionsvorsitzenden, der Senatoren, der Abgeordneten, der Regionalparlamentarier, der Kabinettschefs, der Aktentaschenträger, an diesem Benzin fehlte es nie.

»Hast du den Ermittlungsrichter, die Spurensicherung und Dottor Pasquano benachrichtigt?«

»Sissi. Allerdings hat Dottor Guaspano Gift und Galle gespuckt.«

»Wieso?«

»Er sagte, da er nicht die Gabe der Bibität besitzt, kann er nicht vor ein bis zwei Stunden zur Stelle sein. Dottori, können Sie mir das erklären?«

»Was?«

»Was diese Bibität ist.«

»Das bedeutet, dass jemand gleichzeitig an zwei verschiedenen und weit auseinanderliegenden Orten sein kann. Sag Augello, dass ich komme.«

Er ging ins Bad und zog sich an.

»Der Espresso ist fertig«, sagte Adelina.

Als er in die Küche kam, sah Adelina ihn an und sagte:

»Wissen Sie eigentlich, dass Sie noch ein attraktiver Mann sind?«

Noch? Was sollte dieses Noch? Seine Laune verdüsterte sich. Doch Montalbano Nummer zwei meldete sich auf der Stelle:

»Also wirklich! Jetzt reg dich bloß nicht auf! Wo du dich doch vor einer Stunde noch alt und abgewrackt gefühlt hast!«

Besser war’s, das Thema zu wechseln.

»Wieso bist du heute so früh gekommen?«

»Weil ich noch mit dem Bus nach Montelusa muss, um mit Richter Sommatino zu sprechen.«

Dem Aufsichtsrichter über das Gefängnis, in dem Pasquale eingebuchtet war, der jüngere Sohn seiner Haushälterin, ein Gewohnheitsverbrecher, den Montalbano selbst zweimal verhaftet hatte und bei dessen Erstgeborenem er Taufpate war.

»Sieht so aus, als würde der Richter ein gutes Wort für die Umwandlung der Gefängnisstrafe in Hausarrest einlegen.«

Der Espresso war gut.

»Gib mir noch eine Tasse, Adelì.«

Angesichts der Tatsache, dass Dottor Pasquano erst später eintreffen würde, konnte er es ruhig angehen lassen.

Zur Zeit der Griechen war der Salsetto ein Fluss, danach, zur Zeit der Römer, war er zu einem Sturzbach geworden, bei der Einigung Italiens zu einem Bach, zur Zeit des Faschismus schließlich ein stinkendes Rinnsal und am Ende, als die Demokratie kam, eine wilde Müllkippe. Während der Landung der Alliierten im Jahr 1943 hatten die Amerikaner über das längst ausgetrocknete Flussbett eine Eisenbrücke gebaut, die ein paar Jahre später über Nacht verschwunden war, von Eisendieben in lauter Einzelteile zerlegt. Doch der Name war dem Ort geblieben.

Er kam an einen Parkplatz, auf dem bereits fünf Polizeifahrzeuge standen, zwei Privatautos...


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