Cahill | Tiepolo Blau | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 448 Seiten

Cahill Tiepolo Blau

E-Book, Deutsch, 448 Seiten

ISBN: 978-3-86300-384-5
Verlag: Albino Verlag, Salzgeber Buchverlage GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Cambridge, 1994. Nachdem er zu Studienzeiten von einem Kommilitonen zurückgewiesen wurde, hat der Kunsthistoriker Don Lamb der Liebe abgeschworen und sich ganz seiner Karriere verschrieben. Mit Anfang 40 führt er ein asketisches Professorenleben zwischen Hörsaal, Bibliothek und dem High Table, wo am Abend die Intrigen des Lehrkörpers gesponnen werden. Außerdem arbeitet er wie besessen an einem Buch über das Blau des Himmels in den monumentalen Fresken von Barock-Maler Giovanni Battista Tiepolo. Doch dann kommt der Knacks. Als im Peterhouse eine moderne Kunstinstallation aus Müll errichtet wird, ist Don dermaßen empört darüber, dass er seinem Gelehrten-Reservat den Rücken kehrt und stattdessen die Leitung eines Museums in London übernimmt. Damit bricht das wahre Leben über ihn herein - in Gestalt des jungen Künstlers Ben, der ihn in die anarchische Künstlerszene der Hauptstadt und das Nachtleben von Soho einführt. Der Perspektivwechsel lässt den sonst beherrschten Professor zunächst aufblühen, erschüttert aber auch seine bisherige Existenz in ihren Grundfesten. Dons Schwärmerei für Ben wird zum Drahtseilakt und sein Neuanfang zu einer immer verworreneren Reise ins Ungewisse.
James Cahill war selbst einige Jahre Dozent in Cambridge und kennt die Welt, von der sein Debütroman erzählt, sehr genau. So ist "Tiepolo Blau" nicht nur die augenzwinkernde Coming-of-Age-Geschichte eines kauzigen Intellektuellen in der Midlife-Crisis, sondern auch ein liebevolles Porträt der Elfenbeinturm-Existenz eines Stubengelehrten. Mit viel Feingefühl, Witz und Ironie erzählt Cahill, wie sein stoischer Protagonist sich selbst neu kennenlernt und dabei zunehmend den Halt verliert. "Tiepolo Blau" ist ein großer Roman über die Kunst, den Sex und das wahre Leben - düster wie ein Herbsttag in Cambridge, rätselhaft wie das Labyrinth der Bars von Soho, erhebend wie das Blau des Himmels bei Tiepolo.
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1
Es ist Ende September, ein neues Trimester beginnt. Don Lamb hat den Nachmittag in der Bibliothek des Jesus College verbracht und Briefe aus dem achtzehnten Jahrhundert gelesen. Es hat geregnet – die Luft ist noch schwül –, aber als er zum Peterhouse zurückradelt, kommt die Sonne heraus und verblüfft die Welt. In ihrem Glanz wirken die Wege und Bäume von Christ’s Pieces nackt. Die Häuser auf der anderen Seite des Parks leuchten wie Bronze. Es ist einer dieser Momente, wenn Sommer und Herbst einander durchdringen, beide unsicher, wo ihr Territorium beginnt oder endet. Es geht eine Brise, sanft wie ein feiner Nebel, und die Bäume – noch dicht belaubt – zittern und rascheln. Don hört auf zu treten und blickt nach oben. Der Himmel reißt auf. Ein Hochgefühl überkommt ihn, gepaart mit Traurigkeit – aus unerfindlichen Gründen. Er weiß, was im neuen Trimester auf ihn zukommt, sein Leben ist kein Wechselbad aus Aufregungen oder Überraschungen, und doch – er kann das Gefühl nicht erklären. Ein Geruch nach feuchter Natur liegt in der Luft – ein Aroma von Laub, Matsch und Fäulnis, unterlegt mit etwas Dumpfigem. Er fährt weiter – langsam, als wäre er kein vielbeschäftigter Mann –, durchquert die Schattenflecken auf dem Weg. Cambridge ist noch ruhig nach den langen Sommerferien, aber die Studenten kehren allmählich zurück. Zwei von ihnen versperren ihm plötzlich den Weg: Junge Männer, in lebhaftes Gespräch vertieft, kommen ihm entgegen, die Gesichter überstrahlt von Heiterkeit. Von ihren Worten schnappt er nur rohe Klangfragmente auf. Mit einem Schwenk der Lenkstange gibt er ihnen den Weg frei. Durch den Schlenker kollidiert Don mit einer steinernen Vogeltränke, stößt hart mit dem Knie dagegen. Er rutscht vom Sattel und fasst sich ans Bein; der Schmerz lässt nach, an dessen Stelle tritt stille Benommenheit. Regenwasser hat das Becken bis zum Rand gefüllt, und zwischen einer Schmutzschicht aus Blättern, Blüten und Insekten – toten wie lebendigen – spiegeln sich die Wolken am Himmel in der Oberfläche des kleinen Teichs. Ein Zigarettenstummel treibt in dem Konfetti herum. Der Rand seines Gesichts ist ebenfalls im Wasser zu sehen, ein Teil von Augenbraue und Wangenknochen und ein dunkles Auge. Ein Schild am Ende des Parks markiert die Grenze von Christ’s Pieces. Es ist ein merkwürdiger Name, als läge Gottes Sohn zerstückelt unter dem Universitätsgelände. Er schiebt das Rad um einen Haufen Hundekot herum, schwingt ein Bein über die Stange und fährt an der Bushaltestelle vorbei, hinein ins wohlgesinnte Herz von Cambridge. Die Sonne verschwindet hinter Wolken, als er das Tor von Peterhouse durchquert. Von der Loge des Pedells sieht er etwas Merkwürdiges – einen Haufen Abfall auf dem Rasen des Old Court. Es sieht aus, als wäre ein Müllcontainer ausgekippt worden. Scheinbar gleichgültig fragt er den Pedell, wann das beseitigt wird. «Wohl kaum sehr bald, Professor Lamb.» Das Lächeln des Pedells hält Don davon ab, weitere Fragen zu stellen. Im Gitterwerk der Postfächer aus Eichenholz, viele davon vollgestopft mit Umschlägen, Zeitungen, dicken Papierstapeln oder losen Blättern, ist sein eigenes Fach (Professor D. Lamb) leer. Mit dem Abfallhaufen verhält es sich anders, als er dachte. In der Mitte des Rasens steht das Skelett eines Bettes – ein Eisengestell mit Sprungfederrahmen. Es ruht am einen Ende auf einem Berg leerer Schnapsflaschen, zerknickter Bierdosen und einem Durcheinander von Kleidungsstücken. Darunter steht ein Scheinwerfer auf dem Rasen, der sich mit langsamen, roboterhaften Bewegungen dreht. Ein schwarzes Kabel schlängelt sich über den Rasen und verschwindet am Rand des Hofes unter einer Tür. Neben dem Fußweg steht ein Schild. Angela Cannon
LOTTERBETT Don dreht sich um und schaut fasziniert zurück. Immer wieder schickt die Lampe blendende Blitze durch die Sprungfedern im Innern des Betts, und spinnwebartige Schatten flackern über den Rasen. Jemand – der Gedanke kommt ihm, während er dort steht – könnte ihn beobachten. Kollegen könnten aus den Fenstern schauen – genau diese Sekunde verfolgen, lauernd auf das Urteil des Kunsthistorikers. Sein Gesicht nimmt den Ausdruck kühler Verachtung an. Die Lampe ändert die Richtung und leuchtet durch den Flaschenhaufen, lässt die Glasoberflächen erstrahlen – grün, braun, das elektrische Blau eines ausgetrunkenen Liters Bombay Sapphire. Die Farben machen ihn blinzeln. Auf dem Weg um die Rasenfläche herum zum Treppenhaus, das zu seinen Räumen emporführt, widersteht er der Versuchung, sich umzudrehen. Doch vom Fenster seines Arbeitszimmers kann er einen weiteren Blick auf den sorgfältig arrangierten Müll dort unten auf dem Rasen werfen. Er sieht artifizieller aus als ein Haufen Abfall, durchdachter. Don zieht den Vorhang zu, und der dünne Stoff pulsiert in fremdartigem Licht. Er steckt sich eine Zigarette an und sieht sich um, als wolle er sich vergewissern, dass der Rest seiner Umgebung unverändert ist – genau wie immer. Die Tautologie seines Namens hat ihm immer gefallen. Don, so nennen Studenten die Professoren. Und professoral, ernsthaft und würdevoll ist sein Leben verlaufen. Mit achtzehn kam er nach Cambridge, und im Laufe der Jahre hat sich sein Bewusstsein mit der Stadt verbunden, wie Efeu, das sich im Stein verwurzelt. In diesem Sommer ist er dreiundvierzig geworden, doch manchmal scheint diese Zeitspanne bedeutungslos zu sein. Seine Erinnerungen sind mit dem rankenden Blattwerk von Peterhouse verwachsen, mit den Gärten, den Wiesen und dem verstohlenen Fluss. Seine Gedanken spiegeln das unwandelbare Erscheinungsbild von Cambridge, sein Geist ist durchdrungen von den Ritualen des akademischen Lebens. Seine Räume sind zwei der ältesten im College. Der größere, sein Arbeitszimmer, beherbergt seine Sammlung von Drucken und Zeichnungen, hauptsächlich von Meistern des Rokoko – eine bescheidene Sammlung, bescheiden präsentiert. In der Mitte des Raums steht ein Kork-Modell des Pantheon auf einer Eichenkonsole. Zwischen den Fenstern ruht auf zwei Messinghaken ein kleines Zierschwert. An den Wänden ringsum füllen Bücher die Regale. Auf seinem Schreibtisch steht in einem Rahmen das verblassende Schwarz-Weiß-Foto eines Windhunds. In einer Ecke türmen sich Kartons, jeder voller Papiere und akribisch mit Filzstift beschriftet – Palazzo Sandi, Residenz Würzburg, Santa Maria del Rosario: Abteilungen seines privaten Archivs. Seitdem er siebzehn ist, hat Don Reproduktionen der Fresken von Giambattista Tiepolo gesammelt – hunderte von Postkarten, Drucken und Buchseiten. Tiepolo ist seine große Liebe. Zeit seines Lebens hat er sich darauf vorbereitet, ein Buch – das Buch – über dieses Genie aus dem Venedig des achtzehnten Jahrhunderts zu schreiben: den Letzten der Alten Meister, den Ersten der Modernen. Andere Historiker haben Tiepolo als Maler lieblicher, heiterer Szenen beschrieben, als Choreograf des Himmels. Nicht so Don. Mit jedem Bild, das er findet, gibt ihm der Geist des Malers ein weiteres Zeichen und verlangt von ihm die akademische Abhandlung, die nur Don schreiben kann. «Schluss mit lieblicher Heiterkeit», hört er Tiepolo sagen. «Zeig ihnen, wie klassisch ich bin.» Das Buch ist noch in seiner frühesten Phase, ein Sack voller wirbelnder Ideen. Es wird eine schwierige Arbeit – seine bislang komplexeste. Der andere Raum, Dons Schlafzimmer, ist leer bis auf ein schmales Bett, ein Waschbecken und einen zerbrochenen Spiegel. Er tauscht seine Lederschuhe gegen Pantoffeln und schaltet das Radio ein; es erklingt das Piepen des Zeitzeichens: «Sechs Uhr, es folgen die Nachrichten. Ein Ende des Balkankriegs ist nicht in Sicht – die Belagerung Sarajevos dauert an. Premierminister John Major ist neuen Korruptionsvorwürfen gegen Mitglieder seiner Regierung ausgesetzt. Madonna, die Queen of Pop …» Er schaltet es aus. Die Nachrichten des Tages enthalten nichts von Interesse. An seinen Fingern haftet der Geruch von altem Papier. Tiepolos Korrespondenz aus Mailand – die Briefsammlung, die er eben noch studiert hat – drängt sich wieder in sein Bewusstsein. Er nimmt die Papiere aus seiner Aktentasche, vertieft sich am Schreibtisch in seine Notizen. Sein Leben begann erst, als er Venedig, das ihm bekannte Universum, verließ. Mailand – die Alten nannten es Mediolanum – sah die Blüte von Tiepolos früher Reife. Es bedurfte einer klassischen Stadt, um ihn zu Höherem zu erheben. Stunden vergehen, und er vergisst, zum Dinner nach unten zu gehen. Sein Geist ist unzugänglich für das ferne Geklapper und Stimmengewirr aus dem Speisesaal, das nur kurz vom Tischgebet unterbrochen wird. In ihm zischeln die kleinen Nöte und Plagen der 1730er. Spät am Abend liest er sein Manuskript für die Fitzwilliam-Vorlesung. Sie ist ein kleiner Vorbote seines Buches über Tiepolo. Einzelne Passagen liest er laut. Einen Abschnitt, die Beschreibung der Allegorie Die Macht der Beredsamkeit, will er frei aus dem Gedächtnis vortragen. Er wird das Pult verlassen, auf dem seine Notizen liegen – als ob die Worte in einem Schwall von Inspiration über ihn gekommen wären. Vor dem Spiegel im Schlafzimmer, aus dem Hintergrund vom Licht des Arbeitszimmers beleuchtet, gelingt ihm der Vortrag perfekt, wobei er die Worte mit präzisen Handbewegungen abrundet – einem einzigen erhobenen Finger. Er spricht den Abschnitt wieder und wieder, und so vergeht die Hälfte der Nacht. *** Zur Fitzwilliam-Vorlesung trägt Don seinen besten Anzug aus mitternachtsblauer Seide, mit weißem Hemd und...


James Cahill brachte fünfzehn Jahre Wissenschaft und Kunst unter einen Hut, indem er neben dem Forschen und Schreiben bei einer Galerie für zeitgenössische Kunst arbeitete. Seine Artikel erschienen u. a. im Daily Telegraph, dem Times Literary Supplement und der Los Angeles Review of Books. "Tiepolo Blau" ist sein erster Roman. Die englische Originalausgabe erschien 2022 und war für den Author's Club Best First Novel Award nominiert. Cahill lebt in London und Los Angeles.


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