Buti | Das Leben ist ein wilder Garten | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 176 Seiten

Buti Das Leben ist ein wilder Garten

Roman
1. Auflage 2020
ISBN: 978-3-552-07214-5
Verlag: Zsolnay, Paul
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Roman

E-Book, Deutsch, 176 Seiten

ISBN: 978-3-552-07214-5
Verlag: Zsolnay, Paul
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



„Man findet hier die feinen Beobachtungen wieder, die in 'Das Flirren am Horizont' so sehr berührt haben.“ (Livre Hebdo) – Roland Butis neuer Roman über das Leben in allen Facetten

Das beschauliche Leben des Landschaftsgärtners Carlo gerät in Aufruhr. Seine Frau hat ihn verlassen, die Tochter studiert jetzt in London. Agon, sein Hilfsgärtner aus dem Kosovo, eine sensible Seele in einem massigen Körper, wird aus heiterem Himmel zusammengeschlagen. Und dann ist plötzlich Carlos demente Mutter verschwunden. Gemeinsam mit Agon macht er sich auf die Suche und entdeckt nicht nur die Natur und die Menschen um ihn herum neu, sondern kommt in einem Grandhotel am Berg der ungeahnt glamourösen Vergangenheit seiner Mutter während des Zweiten Weltkriegs auf die Spur … Wir sind Roland Butis Figuren ganz nah. Ihre Gesichter, ihre Bewegungen werden uns vertraut. Wir leben und fühlen mit ihnen. Das ist Butis große Kunst.

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Morgen, Weiss!« Sämtliche Köpfe im Penalty fuhren herum, und eine Stille trat ein, als Agon mit großen Schritten den Gang zwischen den Tischreihen durchmaß, die auf einmal zu kentern drohten. Er setzte sich mir gegenüber. Agon sprach mich stets mit Nachnamen an. Das tat er bei berühmten oder in seinen Augen anderweitig wichtigen Leuten. Etwa so, wie wenn man jemanden mit »Chef« anredet. Dank regelmäßiger Beschäftigung und höchst vorzeigbarer Gehaltszettel konnte er auf eine Niederlassungsbewilligung in der Schweiz hoffen, eine C-Bewilligung mit endgültigem Bleiberecht. Seine Verbundenheit kannte keine Grenzen: Niemals würde er vergessen, wem er diesen kostbaren Sesam-öffne-dich zu verdanken hatte. Die Kellnerin kannte er beim Vornamen. Florije brachte ihm seinen Kaffee und den Korb mit den frischen Croissants. Er leerte drei Tütchen Zucker in seine Tasse und rührte klimpernd mit dem Löffel um. Dabei lächelte er wie ein kleiner Junge über ein Musikspielzeug. Mehrmals am Tag — bei der erstbesten Gelegenheit, häufig aus heiterem Himmel und ohne äußerlich nachvollziehbare Regeln — wird Agon zum Kind. Das dauert nie lange, aber die unverwüstliche Unschuld in diesem Schrank von einem Kerl erfüllt mich immer wieder mit Staunen. »Hast du das Material?«, fragte ich ihn. »Ist gestern am Bahnhof angekommen. Ich habe es auf den Hänger geladen.« »Und, wie sieht es aus?« »Die Stücke sind alle verpackt. Ich konnte nicht viel sehen.« »Und die Montage?« »Geht klar. Mein Cousin hat alles vorbereitet«, sagte er mit einem breiten Grinsen. Seine Mimik, größer und ausgeprägter als beim Durchschnitt und eigentlich direkt proportional zu seiner restlichen Anatomie, wirkte immer ein wenig überzogen. Also genau die Kategorie von Mensch, in deren Gegenwart man sich schwertut, Ausflüchte zu finden. Es gab nichts darauf zu erwidern. Der Hinweis auf einen seiner zahlreichen Verwandten, noch ein Mitglied seines Clans, war Garantie genug. Dabei war er noch nicht allzu lange in meinen Diensten. Er hatte geräuschvoll den Stuhl, den ich ihm bei seinem Vorstellungsgespräch angeboten hatte, etwas näher gerückt. Dann hatte er geredet und geredet, ohne ein einziges Mal Luft zu holen, und dabei die meiste Zeit mit den Händen über seinem Kopf herumgefuhrwerkt. Ich hatte diese Hände keine Sekunde aus den Augen gelassen, weil ich mich insgeheim vor dem Moment fürchtete, wo er sie womöglich ablegen und mir freundschaftlich auf die Schultern klopfen würde. Ich saß nur Zentimeter von seinem grob geschnittenen Gesicht mit den zwei glänzenden schwarzen Augen entfernt und spürte, wie er mich ganz allmählich in seinen Bann zog. Am Ende stellte ich ihn ein, aber noch heute bin ich fest davon überzeugt, dass eigentlich ich an jenem Tag von meinem neuen Angestellten ausgewählt wurde. »Ich werde nicht groß zupacken können«, sagte ich. Mein unter dem Verband abstehender Zeigefinger zeichnete Linien ins Leere, während ich mein Croissant aß. Agon schaute unwillkürlich in die Richtung, in die ich zu weisen schien, irgendwo zwischen der Saaldecke und der Fensterfront zur Straße hinaus. »Keine Sorge. Ich habe Bitil und Lastar gebeten, für einen Tag zu kommen.« Am Vortag hatten wir einen Anruf von der Stadtverwaltung erhalten. Das war nicht ungewöhnlich. Anwohner hatten sich über die ausufernde Vegetation auf dem Nachbargrundstück beschwert, Bäume von an die zehn Meter Höhe oder mehr. Das üppige Grün beeinträchtigte die Leistung ihrer Sonnenkollektoren und griff bedrohlich auf den Gehsteig über. Der Grundstückseigentümer, ein alter Herr in den Achtzigern, sah keinerlei Veranlassung, seiner Bürgerpflicht nachzukommen und das Grün zurückzuschneiden. Wutschnaubend musste er von zwei kurz nach unserer Ankunft an den Ort des Geschehens beorderten Polizisten gebändigt werden, die ihn schließlich in seinem Haus einsperrten. Behelmt und in Schutzmontur saß Agon angeschirrt in den Baumwipfeln und sägte Äste ab, die ich unten zerlegte. Jedes Mal, wenn ich mit der vollen Schubkarre an der Balkontür vorbei zum Anhänger ging, streckte mir der Alte die Zunge heraus und gab mir mit einer unmissverständlichen Armgeste zu verstehen, dass ich mich verpissen sollte. Zu guter Letzt ließ er auch noch die Hose herunter und drückte den Hintern an der Scheibe platt. Ich war so genervt, dass ich mir heftig in den Finger schnitt. Agon leistete Erste Hilfe vor Ort. Er hat immer die komplette Notfallapotheke dabei. Er ist eben ein Gefühlsmensch durch und durch. Und wie alle echten Gefühlsmenschen, die ständig fürchten müssen, von ihren Emotionen überschwemmt zu werden, sucht er sein Heil im Pragmatismus und in greifbaren Resultaten. Die Klingen der Baum- und Heckenscheren oder Sägeblätter reinigt er mit Verbandsmull, den er in Desinfektionsmittel tränkt, denn, so seine These, »was für die Menschen gut ist, ist es auch für die Pflanzen«. Mein Werkzeugdepot ist, seit er es benutzt, so sauber und desodoriert, dass es an einen OP-Trakt gemahnt. Um das Werkzeug vor Abnutzung zu schützen oder zum Reparieren benutzt er Heftpflaster, Verbandsmull, Gummibänder und Schienen — als handle es sich dabei um eine lebendige Verlängerung unserer Hände. Agon klopfte auf den professionellen Krankenhausverband, um ihn auf seine Festigkeit zu prüfen. »Kommt zumindest Luft durch?« »Ich glaube schon.« »Sauerstoff ist nämlich wichtig für die Heilung.« »Er ist ein bisschen straff.« »Überhaupt nicht.« »Manchmal pocht es.« »Ist normal. Es arbeitet innen drin, und straff muss es sein«, sagte er und lehnte sich zurück. Wir saßen eine Weile schweigend. Der klägliche Anblick der schmutzigen Tassen, verstreuten Krümel und zerknüllten Papierservietten vor uns wurde allmählich lästig. Agon ließ den Blick mit einem abschätzigen Brummen durch das Penalty wandern. »Bah! Komm, Weiss, packen wir’s …« Wir gingen die Straße entlang bis zum Lieferwagen. Ein feiner Regen fiel beharrlich auf den klebrigen Asphalt und die wenigen grünen Enklaven. Doch ein Hauch von spätfrühlingshafter Schwere kündigte bereits den Sommer an. Agon ging um den Hänger herum und überprüfte den Zug der Stricke, die die in Plastikfolie verpackte Ladung sicherten. Dann trat er einen Schritt zurück, um das Ganze zu bewundern, und fordert mich auf, es ihm gleichzutun. »Und?« »Wirklich beeindruckend.« Er schien nur auf die Schmeichelei gewartet zu haben, seufzte zufrieden und fuhr fort: »Dabei ist es jetzt noch zerlegt. Die Teile sind nummeriert. Mein Cousin hat mir einen Plan gezeichnet.« Er hatte eine alte Holzhütte aufgetan, die in kalten Wintern als Unterstand für Hirsche gedient hatte. Ich staunte nicht schlecht, dass es ein Land gab, wo die Menschen sich die Mühe machten, kleine, runde Holzhäuschen zum Schutz für das Hochwild anstatt für die Jäger zu bauen. Diese ansehnlichen Tiere gelten in den Bergen als Wächter des Waldes. Sie müssen zahlreich den Winter überstehen, damit es im Frühjahr reichlich Hasen, Fasane und Wildschweine gibt. »Aber wenn man die ganzen Häuschen abbaut und woanders hinstellt?«, fragte ich. »Es gibt sowieso keine Hirsche mehr. Die sind verschwunden. Mit dem Krieg. Jetzt sind nur noch die kleinen Tiere übrig. Die zu leicht sind, um Minen auszulösen.« Bitil und Lastar, die zwei für den Tag angeheuerten Arbeiter, erwarteten uns schon vor Ort. Wir kamen gut voran. Mithilfe des von Agons Cousin gezeichneten Bauplans nahm das Hüttchen Gestalt an. Ganz traditionsgemäß kam es ohne Nägel, Schrauben oder sonstige Metallteile aus. Umrahmt wurde es von Heidelbeersträuchern zwischen Zwergerlen und Espen, die tags zuvor in einem Gemisch aus Erde und Kieselsteinen gepflanzt worden waren. Die Kundin, Madame Razumovski, war mir von einer Agentur empfohlen worden, die sich darauf spezialisiert hatte, sehr reichen Ausländern, die einen Rückzugsort suchten oder sich einen Lebensabend in der Schweiz wünschten, bei der Einwanderung zu helfen. Die Agentur kümmerte sich um das komplette Paket: Beantragung der Aufenthaltsgenehmigung, Wohnungssuche, Verhandlungen mit den Finanzbehörden, Kontaktherstellung mit den besten Geschäftsführern der besten Banken. Auch danach wachte die Agentur diskret über die Existenz ihrer Kunden. Manchmal nehmen sie meine Dienste in Anspruch, und so habe ich in meinem bescheidenen Rahmen Anteil an der Umsiedlung von Menschen am Beginn eines Jahrhunderts der Globalisierung. Fern...


Buti, Roland
Roland Buti, geboren 1964 in Lausanne, arbeitet als Geschichtelehrer am Gymnasium und widmet sich daneben Forschung und Literatur. Sein Roman Das Flirren am Horizont (Nagel & Kimche 2014) war nominiert für den Prix Médicis pour le meilleur roman und wurde mit dem Schweizer Literaturpreis 2014 ausgezeichnet.



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