Buti Das Flirren am Horizont
1. Auflage 2014
ISBN: 978-3-312-00642-7
Verlag: Nagel & Kimche
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 192 Seiten
ISBN: 978-3-312-00642-7
Verlag: Nagel & Kimche
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
1976 herrscht Dürre in Europa, seit Wochen drückt eine wahnsinnige Hitze auf die Felder - eine Katastrophe für die Landwirtschaft. Den Hof der Sutters in der französischen Schweiz trifft es besonders hart: Der Bauer und Familienvater hat sein ganzes Vermögen in die Hühnerzucht gesteckt, und die Küken sterben in der Hitze weg; die Mutter quartiert eine geheimnisvolle Fremde auf dem Hof ein, die sich als ihre Geliebte herausstellt; der geistig zurückgebliebene Knecht Rudy wird, als ein fürchterliches Gewitter ausbricht, von einem Balken erschlagen; und für den 13-jährigen Gus ist es das Ende seiner Kindheit. Wuchtig, farbig, zum Anfassen plastisch lässt Butis Roman eine Welt entstehen im Moment ihres Untergangs.
Roland Buti wurde 1964 in Lausanne geboren. Sein Studium der Literaturwissenschaften und Geschichte schloss er 1996 mit einer Dissertation ab, die Aufsehen erregte: Le refus de la modernité: la Ligue vaudoise, une extrême droite et la Suisse (1919-1945). Buti arbeite als Geschichtslehrer am Gymnasium und widmet sich daneben Forschung und Literatur. 1990 erschien der Erzählband Les âmes lestées, 2004 sein erster Roman, Un Nuage sur l'?il, der mit dem Prix Bibliomedia 2005 ausgezeichnet wurde. Der Roman Luce et Célie (2007) wurde in die Sélection Lettres frontière 2008 aufgenommen. Das Flirren am Horizont (frz. Le milieu de l'horizon) wurde nominiert für den Prix Médicis pour le meilleur roman 2013 und ausgezeichnet mit dem Schweizer Literaturpreis 2014.
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I Es war im Juni des Jahres 1976. Es war der Beginn der großen Ferien meines dreizehnten Sommers. Es war das Jahr der Dürre. In Tankwagen wurde Wasser, das man aus den Seen abpumpte, zu den Dörfern geschafft. Unter einem Himmel so gelb wie Maispapier war das Militär mit Lastwagen und Motorpumpen im Einsatz, um die Felder notdürftig zu bewässern und an Pflanzen zu retten, was noch zu retten war. Die Behörden hatten den Notstand ausgerufen. Seit Wochen hatte es nicht mehr geregnet. Da im Winter in den Bergen kein Schnee gefallen war, hatten sich im Frühjahr die Grundwasserspeicher nicht aufgefüllt. Alles war trocken, in der Tiefe wie an der Oberfläche, und die Landschaft ähnelte einem alten, harten Keks. Manche Leute meinten, die Sonne sei plötzlich der Erde zu nah gekommen, andere sagten, es sei anders herum, die Erdachse hätte sich verschoben und die Erde sei von der Sonne angezogen worden. Ich meinerseits war überzeugt, diese außergewöhnliche Hitze müsse von einem Asteroideneinschlag in unserer Nähe verursacht worden sein, von einem großen Himmelskörper aus unbekanntem Metall, der unsichtbare, giftige Dämpfe verströmte. Wie sonst als durch Gase, die sich allmählich bis zu den Häusern des Dorfs ausbreiteten und uns unmerklich vergifteten, sollte ich mir die schleichende Veränderung im Charakter meiner Mutter erklären, ihre Verwandlung in eine andere Person? Wie mir erklären, dass uns im Lauf dieses Sommers unser Leben entglitt und die Welt meiner Kindheit zu Ende ging? Seit einigen Tagen redete Rudy davon, dass das Gras schlecht roch. Als ich ihn nach dem Grund fragte, antwortete er mir ernst und traurig, das sei so, weil es leide. Das passte zu Rudy, sich vorzustellen, dass die Vegetation ihr Unbehagen durch eine übelriechende Ausdünstung zum Ausdruck brachte. In unserem mit kümmerlichem Gras bewachsenen, vom Vieh plattgetrampelten Hinterhof hing ein Geruch von Sellerie und Schwefel. Das matte Grün des Efeus, der sich an der gemauerten Umfriedung des Gemüsegartens emporrankte, war fast schwarz geworden. Die Sonne heizte das Mauerwerk auf, ließ die Efeublätter welken, krümmte ihre verschrumpelten Stiele, die eine letzte Anstrengung unternahmen, um nicht von ihren Zweigen zu brechen und auf die staubige Erde zu fallen. Als ich dichter heranging, um die Kletterfüße der Pflanze zu betrachten – sie glichen winzigen, vor Verzweiflung geballten Fäusten –, musste ich zugeben, dass das Laub tatsächlich stank. Ich hielt mich am liebsten an diesem Platz zwischen Stall und Garten auf, vor Blicken geschützt und fernab der Arbeit und Geschäftigkeit. Wenn ich im Sitzen den Blick hob und über die Mauer hinwegschweifen ließ, die unser Gemüsebeet einrahmte, sah ich die sanft gerundeten Kuppen der Felder, hinter denen man die Wölbungen weiterer Felder erahnte, bis zur Grenze des Waldes, der ganz in der Ferne seinen Schatten über die violettfarbenen Berge warf. Der Zufall der Mulden und Buckel der Landschaft schluckte Leitungsmasten, Bauten, Straßen. Hier vergaß ich die Welt und las stundenlang in den Comicheften, die ich im einzigen Laden unseres Dorfs, der zugleich Lebensmittel- und eine Art Kramladen war, kaufte. Neben den unentbehrlichen Dingen des Alltags fand man hier allerlei Gegenstände, für die bisher niemand so recht eine Verwendung gefunden hatte und die – Opfer der gnadenlosen Gesetze des Marktes – in den Regalen ganz unten langsam Staub ansetzten. Ich hatte großen Respekt vor Monsieur Florin und seiner Frau, weil ich dachte, dass alles, was es in ihrem Laden gab, ihnen gehörte, dass sie sich einfach so nach Lust und Laune aus den Bonbongläsern bedienen, eine Tafel Schokolade aufreißen oder eine kleine gelbe Flasche Sinalco aufmachen konnten. Wenn sie mir mein Spirou-Magazin reichten, für die Mitnahme fein säuberlich zusammengerollt und mit einem Gummi versehen, dann war ich ihnen immer dankbar, weil sie mich in den Genuss einer solchen Kostbarkeit kommen ließen. Die Comics waren «Fortsetzung folgt»-Geschichten, die Abenteuer hörten immer mittendrin auf. Über dem Ritter, jungen Römer, Cowboy, Reporter, Pfadfinder oder auf übersinnliche Phänomene spezialisierten Wissenschaftler prangte in einer riesigen Sprechblase ein fettgedrucktes «Ah!», ein «Oh!» oder das Wort «Verflixt!» Immer stand irgendeine Gefahr, ein außergewöhnliches Ereignis oder die Lösung aller Probleme unmittelbar bevor, doch erst das folgende Kästchen in der Ausgabe der nächsten Woche würde die Aufklärung bringen. Dieses Geheimnis setzte den Lauf der Zeit außer Kraft, als wäre der Held dazu verdammt, für mehrere Tage wie angewurzelt stehen zu bleiben, ohne seiner Ungewissheit, seiner Panik oder seiner Neugier entkommen zu können. In der Hoffnung, dass mir gleich irgendetwas Außergewöhnliches zustoßen würde, hatte ich mir angewöhnt, längere Zeit mucksmäuschenstill zu verharren. So wartete ich, reglos, auf dem schmalen Weg hinter unserem Haus zum Wald hinauf, reglos im hohen Gras der Wiesen verborgen, reglos im Hof vor dem Stall. Doch unsere Landschaft blieb immer dieselbe Landschaft: Kein geheimnisvoller Fremder, der nach einer endlosen Reise durchs Raum-Zeit-Kontinuum in einem Ballonkorb vom Himmel gefallen war, strich durchs Gehölz; kein schnittiges Cabrio mit einer Ladung hübscher Mädchen an Bord preschte plötzlich heran, eine Bande fieser Gangster dicht auf ihren Fersen; kein sympathischer Page in Begleitung eines extravaganten Journalisten und eines exotischen Tiers mit aufsehenerregenden Fähigkeiten tauchte in der Biegung der Straße oder in einer Ecke unseres Hofs auf. Am Ende sah ich nur ein Eichhörnchen an einem Baumstamm emporklettern, das aber zu meinem Leidwesen nicht über die Gabe der Sprache zu verfügen schien; ich sah Papa, der mich von seinem Traktor herunter aufforderte, ihm zu helfen, oder Sheriff, unseren Hund, der seine alten Knochen bis zu meinen Füßen schleppte, um sich eine Streicheleinheit abzuholen. An jenem Tag bemerkte ich zuerst gar nicht, dass Rudy dastand und mir etwas zeigen wollte, was er auf dem Boden gefunden hatte. Rudy verbrachte viel Zeit mit Arbeiten und viel Zeit mit Nichtstun. Sein Tagesablauf bestand darin, sich um die Tiere zu kümmern, das Stroh auszuwechseln, den Stall auszumisten, die Schweine zu füttern, den Hühnerstall zu reparieren und all die kleinen Aufgaben auszuführen, die Papa ihm anvertraute. Hatte er nichts zu tun, so konzentrierte er sich mit ganzer Energie darauf, seine Umgebung zu beobachten, vermutlich in dem Bemühen, ein wenig Ordnung in den wild wuchernden Strom seiner Gedanken zu bringen; wenn er so dastand, unnatürlich steif und mit weit aufgerissenen Augen, dann konnte man ein Dutzend Mal an ihm vorbeigehen, ihn berühren, ihn rufen, ohne dass er sich rührte. Wer ihn nicht kannte, geriet leicht in Panik, wenn er sich unerwartet diesem mondgesichtigen Wesen gegenüber fand. Seit ich denken konnte, war Rudy immer schon da gewesen. Er war vor meiner Geburt zu uns gekommen. Für mich hatte er kein Alter, als wäre er nie Kind gewesen, als wäre er keinem körperlichen Verfall unterworfen. Irgendwie hegte ich immer den Gedanken, dass die Distanz, die seine rauhe, dicke Haut zwischen ihm und der Welt etablierte, ein Teil dieser ganz besonderen ihm eigenen Form von Glückseligkeit war. Er war der geistig zurückgebliebene Sohn eines entfernten Cousins aus dem Seeland. Als ich ungefähr acht war, erklärte man mir, dass er an einer milden Form des Downsyndroms leide. Rudys Status in unserer Familie war anders als meiner und der meiner Schwester. Ich hatte Mama gefragt, warum er in einem eigenen Zimmer unweit des Schweinestalls schlief, warum er nie mit uns zusammen irgendwohin ging, außer manchmal sonntags in die Kirche, und warum er nie weinte (wobei er übrigens auch nie lachte). Sie erzählte mir, dass er irgendwo in seinem Körper etwas Zusätzliches habe, was wir anderen nicht hätten, und was dazu führe, dass er ein wenig anders funktioniere als andere Menschen. Diese Antwort und die Vorstellung einer zufallsbedingten Verteilung der Chromosomen bei der Geburt beschäftigten mich noch jahrelang. Als Papa erfuhr, dass die Familie seines Cousins dieses Kind, aus dem inzwischen ein recht lebhafter junger Mann geworden war, nicht behalten wollte, sich jedoch keine Lehrstelle für ihn finden ließ, weshalb sie ihn in einer Anstalt unterzubringen gedachten, beschloss er, ihn aus der Gegend von Aarberg zu uns zu holen. Bei uns würde es ihm gefallen, und er würde sich nützlich machen können. Das gehört sich so, hatte Papa gesagt. Die Einfältigen, Schwachsinnigen, Kretins, Trottel, mehr oder minder Debilen geben allesamt tadellose Bauernknechte ab, weil sie ganz instinktiv ihre Fürsorge den Tieren und den Pflanzen widmen, hatte er gesagt. Sie gehören nicht in Hospitäler, wo sie am Ende wirklich verrückt werden. Seit je haben Bauern sie als Knechte auf ihrem Hof beschäftigt, hatte er noch hinzugesetzt, und einige Gläser Pflümli hatten geholfen, die Angelegenheit rasch zu besiegeln. Ich war also gerade in eine Geschichte mit dem Detektiv Jeff Jordan vertieft, als ich mich umdrehte und plötzlich Rudy vor mir stand. Er hatte die Hände vor dem Bauch aneinandergelegt und schaute konzentriert darauf hinunter. So stand er oft da und betrachtete, manchmal lange, diese Hände, die in der Lage waren, die kleinsten Gegenstände zu ergreifen und zu bewegen und noch eine ganze Palette anderer Tätigkeiten zu verrichten, betrachtete sie, als ob sie eigentlich gar nicht richtig zu seinem ansonsten eher ungelenken und schwerfälligen Körper gehörten. Als er merkte, dass ich ihn ansah, kam er näher und zeigte mir den Vogel. «Das ist eine weiße Taube», sagte er. Ich legte mein Buch zur...