Burnet | Das Verschwinden der Adèle Bedeau | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 288 Seiten

Burnet Das Verschwinden der Adèle Bedeau

E-Book, Deutsch, 288 Seiten

ISBN: 978-3-95890-170-4
Verlag: Europa Verlage
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Keine Frage: Manfred Baumann ist ein Sonderling. Obwohl als Bankdirektor der elsässischen Gemeinde Saint-Louis in guter Stellung, tut sich der 36-Jährige schwer im Umgang mit Menschen. Umso wichtiger sind für den eigenbrötlerischen Junggesellen seine gewohnten Routinen: ein penibel geplanter Tagesablauf, die regelmäßigen Ausflüge nach Straßburg zu den leichten Mädchen von Madame Simone und die Besuche in seinem Stammlokal. Tag für Tag beobachtet er dort, meist schweigend, die blutjunge Kellnerin Adèle Bedeau. Bis sie eines Abends spurlos verschwindet. Manfreds Welt gerät ins Wanken, als Kommissar Georges Gorski die Ermittlungen im Fall Adèle Bedeau aufnimmt … Wird Gorski, der noch immer schwer an einem lang zurückliegenden Ermittlungsfehler zu tragen hat, diesmal den richtigen Riecher haben und das plötzliche Verschwinden von Adèle aufklären, die wie vom Erdboden verschluckt zu sein scheint? Und was hat Manfred mit dem Fall zu tun, der auf einmal mit vergessen geglaubten Geistern seiner Vergangenheit kämpft? Nach seinem Bestseller "Sein blutiges Projekt" zeichnet Shootingstar Graeme Macrae Burnet erneut das Psychogramm eines Außenseiters, der von seinem eigenen Wahn an den Rand der Verzweiflung getrieben wird. In seiner schottischen Heimat wurde der Roman zum Kulthit.
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Saint-Louis ist eine Stadt mit etwa zwanzigtausend Einwohnern, die am äußersten Rand des Elsass liegt, nur durch den Rhein von Deutschland und der Schweiz getrennt. Es ist kein besonders ansprechender Ort, und abgesehen von ein paar pittoresken Fachwerkhäusern, wie sie für die Gegend typisch sind, gibt es kaum etwas, das Besucher anlockt. Wie die meisten Grenzstädte ist Saint-Louis ein Durchgangsort. Die Leute passieren ihn auf dem Weg anderswohin, und er hat so wenig Interessantes zu bieten, dass sich seine Bewohner in ihr Schicksal gefügt zu haben scheinen. Die aufgeweckteren jungen Leute von Saint-Louis verlassen die Stadt, um zu studieren, und die meisten von ihnen kehren nie zurück. Das Stadtzentrum, soweit Saint-Louis überhaupt ein solches vorzuweisen hat, besteht aus einer Ansammlung von unattraktiven Nachkriegsgebäuden, hier und da unterbrochen von ein paar älteren Häusern, die dem Zahn der Zeit und der Stadtplanung widerstanden haben. Die Schilder über den Geschäften sind verblichen und die Schaufensterdekorationen wenig einladend, als hätten die Besitzer es aufgegeben, Passanten zum Einkaufen verlocken zu wollen. Das Wort, das den Durchreisenden am häufigsten zu der Stadt einfällt, wenn sie sie überhaupt wahrnehmen, ist nichtssagend. Saint-Louis ist nichtssagend. Dennoch hat die Stadt seit dreihundert Jahren eine Bevölkerung. Die Menschen dort sind ein wenig ungebildeter als die Mehrheit ihrer Landsleute, nicht ganz so wohlhabend und politisch stärker rechts orientiert, aber dennoch benötigen sie von Zeit zu Zeit ein Paar neue Schuhe oder neue Kleidung, sie brauchen jemanden, der ihnen die Haare schneidet, sich um ihre Zähne kümmert und ihre Krankheiten heilt. Sie müssen Geld abheben oder leihen. Sie brauchen Orte, an denen sie essen, trinken, tratschen oder schlicht und einfach den Zeitpunkt des Nachhausegehens hinausschieben können. Die Straßen müssen gesäubert, die Abfälle fortgeschafft werden, und es muss für Recht und Ordnung gesorgt werden. Um ihre Häuser instand zu halten, brauchen sie die Fertigkeiten von Klempnern, Elektrikern, Schreinern und Malern. Ihre Kinder müssen unterrichtet, die Alten gepflegt und die Toten begraben werden. Kurzum, die Menschen in Saint-Louis sind genau wie die Menschen anderswo, ob in ebenso tristen oder in wesentlich reizvolleren Städten. Und wie die Einwohner anderer Orte verspüren auch die Menschen von Saint-Louis einen gewissen chauvinistischen Stolz auf ihre Stadt, obwohl ihnen deren Mittelmäßigkeit durchaus bewusst ist. Manche träumen davon, ihr zu entkommen, oder bedauern, dass sie sie nicht längst verlassen haben, als sich ihnen die Gelegenheit dazu bot. Die meisten jedoch leben einfach ihr Leben, ohne sich groß Gedanken um ihre Umgebung zu machen. Manfred Baumann wurde auf der Schweizer Seite der Grenze geboren, als Sohn eines Schweizer Vaters und einer französischen Mutter. Gottwald Baumann, ein Brauereiarbeiter aus Basel, war ein kleiner, außergewöhnlich dunkler Mann mit einem Funkeln in den Augen. Manfreds Mutter, Anaïs Paliard, war eine lebenslustige junge Frau, die etwas kränklich veranlagt war und aus einer wohlhabenden Anwaltsfamilie aus Saint-Louis stammte. Die ersten sechs Jahre seines Lebens verbrachte Manfred in Basel. Obwohl er sich kaum an diese Zeit erinnern konnte, war Schwyzerdütsch noch immer die Sprache, in der er sich am meisten zu Hause fühlte. Er hatte sie zwar seit seiner Kindheit kaum noch gesprochen, doch wenn er sie hörte, versetzte ihn der Klang sofort in diese verschwommenen frühen Jahre zurück. Aus dieser Zeit hatte Manfred nur zwei Erinnerungen an seinen Vater. Die erste war der abstoßende Geruch, den er nach einem Abend in der Kneipe verströmte, kombiniert mit dem Kratzen des unrasierten Kinns, wenn er sich über seinen Sohn beugte, um ihm einen Gutenachtkuss zu geben. Die zweite war Manfreds liebste Erinnerung an seinen Vater. Aus Gründen, die er nicht mehr wusste (vielleicht war es sein Geburtstag gewesen), hatte Gottwald Manfred in die Brauerei mitgenommen, in der er arbeitete. Manfred konnte noch immer den berauschenden Duft der Hefe riechen und das Donnern der leeren Fässer hören, die über das Kopfsteinpflaster gerollt wurden. Die anderen Brauereiarbeiter waren, zumindest in Manfreds Erinnerung, genauso klein, kräftig und dunkel gewesen wie sein Vater, und sie hatten sich alle breitbeinig und mit schwingenden Armen fortbewegt. Als Gottwald Manfred über den Hof führte, bemerkten die Männer ihren Kumpel und riefen: »Grüezi Gottli!« »Weißt du, was das bedeutet?«, fragte Gottwald. »Kleiner Gott. Nicht übel, was? Kleiner Gott.« Manfred hielt die Hand seines Vaters fest und freute sich auf den Tag, an dem auch er in der Brauerei arbeiten würde. Als Manfred sechs Jahre alt war, stand das Restaurant de la Cloche zum Verkauf, und Anaïs’ Vater kaufte es für seine Tochter und ihren Mann. Die zentrale Lage des Restaurants lockte vor allem die Ladenbesitzer und Büroangestellten im Umkreis an, und obwohl sie auch abends warme Küche anboten, machten sie den größten Teil des Umsatzes tagsüber. M. Paliard hatte wohl angenommen, dass er seinem Schwiegersohn damit ein sicheres Einkommen verschaffen würde, doch er hatte nicht mit den Brauereiarbeitermanieren seines Schwiegersohns und dessen lückenhaften Kenntnissen der französischen Sprache gerechnet. Gottwalds ruppiges Benehmen verschreckte alsbald die Stammkundschaft. Ihm fehlte die Freundlichkeit und Autorität eines erfolgreichen patron. Je schlechter das Restaurant lief, desto mehr Zeit verbrachte Gottwald auf der falschen Seite der Bar, wo er sich lauthals über die spießigen Franzosen ausließ, die nun anderswo speisten. Nach seinem Tod wurde das Restaurant verkauft, aber Manfred und seine Mutter blieben in der Wohnung darüber, bis Anaïs’ Gesundheitszustand die beiden zwang, in das Haus ihrer Eltern am Nordrand der Stadt zurückzukehren. Manfred vermisste das Leben über dem Restaurant, die Düfte aus der Küche und die Stimmen der Leute, die über die Neuigkeiten des Tages diskutierten, während er und seine Mutter zu Abend aßen. Die Bar war der Treffpunkt der ganzen Stadt. Im Haus der Familie Paliard war Manfred hingegen von allem abgeschnitten. Für seine Großeltern war er weniger ein Quell des Stolzes als vielmehr die stete Erinnerung an den Fehltritt ihrer Tochter. Zudem hatte Manfred die linkische Art seines Vaters und die schwache Gesundheit seiner Mutter geerbt, wodurch es ihm schwerfiel, sich mit anderen Jungen anzufreunden. Als sie über dem Restaurant gewohnt hatten, hatten die älteren Männer ihn fröhlich begrüßt, wenn er aus der Schule kam, als wäre er einer von ihnen. Am Wochenende hatte er kleine Botengänge für die Stammgäste erledigt und sich so ein paar Centimes verdient. Abends hatte er oft am Fenster über dem Restaurant gesessen, den Gesprächen unter ihm gelauscht und im Stillen kluge Bemerkungen dazu gemacht. Im Haus der Paliards gab es keine Stimmen, denen man hätte lauschen können. Manfred saß in seinem Zimmer und hörte nur das langsame Ticken der Standuhr draußen auf dem Treppenabsatz. Während seiner gesamten Schulzeit war Manfred nur »der Schweizer« gewesen, und der verhasste Spitzname klebte immer noch an ihm. Lemerre benutzte ihn jedes Mal, wenn er Manfred zum donnerstäglichen Kartenspiel einlud. »Spielst du mit, Schweizer?«, rief er quer durch den Raum. Manfred wünschte, seine Mutter hätte wieder ihren Mädchennamen angenommen, doch trotz der Mängel ihres Ehemanns bewahrte sie dessen Andenken voller Ergebenheit. Nachdem Mutter und Sohn gezwungen gewesen waren, das Restaurant de la Cloche zu verlassen, rief sie ihren Sohn oft an ihr Krankenbett. Manfred mochte den Geruch im Zimmer seiner Mutter nicht. Es war wie im Krankenhaus. Auf der Kommode standen lauter braune Glasfläschchen mit Tabletten. Zum Ende hin kam der Arzt fast täglich, um nach ihr zu sehen, ein Privileg, wie es nur Familien von Rang und Namen wie den Paliards zustand. Wenn Manfred das Zimmer betrat, lächelte seine Mutter erschöpft und streckte den Arm nach ihm aus. Oft war sie zu schwach, um sich aufzurichten. Manfred setzte sich auf die Bettkante und hielt ihre Hand. Auf Anaïs’ Nachttisch stand ein Foto von Gottwald. Es zeigte ihn neben einem Auto in einer Haltebucht am Rand einer gewundenen Straße, irgendwo hoch oben in den Schweizer Bergen. Das Auto war ein Mercedes, den Anaïs’ Vater ihnen für die Hochzeitsreise geliehen hatte. Gottwald stand in Hemdsärmeln da, die Hände in die Hüften gestemmt, die Brust herausgestreckt und das dichte schwarze Haar mit Brillantine nach hinten gekämmt, wie es damals Mode war. Der Inbegriff der Männlichkeit. Anaïs erzählte Manfred immer wieder gerne die Geschichte, wie sie und sein Vater sich kennengelernt hatten. Gottwald war anlässlich des französischen Nationalfeiertags über die Grenze gekommen, und auf dem Platz vor dem Restaurant de la Cloche fand ein Fest statt. Es war ein ungewöhnlich heißer Tag, selbst für Mitte Juli. Anaïs war siebzehn. Sie war mit...


Graeme Macrae Burnet, geb. 1967 in Kilmarnock, Schottland, studierte Englische Literatur in Glasgow. Er schreibt seit seiner Jugend und wurde 2013 mit dem Scottish Book Trust New Writer's Award ausgezeichnet. Mit seinem einzigartigen historisch-literarischen Krimi "Sein blutiges Projekt" schaffte er 2016 den Sprung auf die Shortlist des renommierten Man Booker Prize und gehört seitdem zu den außergewöhnlichsten Neuentdeckungen der internationalen Krimiszene. Er lebt und schreibt in Glasgow.


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