E-Book, Deutsch, Band 9, 464 Seiten
Reihe: Ein Dave Robicheaux-Krimi
Ein Dave-Robicheaux-Krimi, Band 9
E-Book, Deutsch, Band 9, 464 Seiten
Reihe: Ein Dave Robicheaux-Krimi
ISBN: 978-3-86532-740-6
Verlag: Pendragon
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Durch einen glücklichen Umstand gelingt Crown die Flucht aus der Haftanstalt. Und ein Mexikaner wird damit beauftragt, Dave zu töten, denn offenbar soll niemand mehr in dem alten Fall Staub aufwirbeln.
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1 Aaron Crown hätte sich nie wieder bei uns blicken lassen sollen. Genau genommen war er doch sowieso keiner von uns gewesen. Er und seine Familie, schwerfällige Waldbauern aus dem Norden von Louisiana, hatten sich einst im Iberia Parish niedergelassen, hielten aber an ihren heimischen Bräuchen fest – sie stahlen gelegentlich Vieh von den Weiden entlang der Flussufer, wilderten in den Wäldern und trieben, wie manche meinten, womöglich Inzest. Ich sah Aaron Crown vor 35 Jahren zum ersten Mal, als er draußen am Highway eine Zeit lang Erdbeeren und Wassermelonen zum Verkauf anbot. Vom gleichen Laster, mit dem er ansonsten Kuhmist transportierte. Er schien irgendwie seitwärts zu gehen, wie eine Krabbe, trug selbst im Sommer lange Latzhosen und ließ sich jeden Samstagmorgen vom Barbier für einen Dollar den Schädel einseifen und glatt rasieren. Sein stämmiger, dicht behaarter Körper roch streng, wie saure Milch, sodass der Barbier jedes Mal hinten und vorne die Türen aufriss und die Ventilatoren einschaltete, wenn Aaron bei ihm auf dem Stuhl saß. Nie sah ihn jemand hitzig oder handgreiflich werden. Die Schwarzen, die für ihn arbeiteten, nahmen ihn hin, wie er war – ein Weißer, weder gut noch schlecht, mit einer vernuschelten Sprache und merkwürdig grünen Augen, dessen Launen und Stimmungen nur für ihn selbst nachvollziehbar waren. Zum Vergnügen der Schwarzen, die jeden Samstagmorgen beim Schuhputzstand vor dem alten Frederick Hotel herumlungerten, riss er Streichhölzer an den Schneidezähnen an, goss sich Kerzenwachs in den Handteller und ließ es bis auf einen letzten schwarzen Rest abbrennen oder warf ein Messer zwischen die Kappen seiner Arbeitsstiefel. Doch wer Aaron Crown einmal in die Augen geschaut hatte, konnte sie nie wieder vergessen. Aus ihnen sprach ein wachsamer Hunger, wie bei einem Reptil, sie funkelten misstrauisch, ohne dass es einen Grund dafür gab, und strahlten eine sexuelle Gier aus, bei der einem unbehaglich zumute wurde, egal welchem Geschlecht man angehörte. Manche sagten, er sei einst Mitglied beim Ku-Klux-Klan gewesen und wegen einer Schlägerei in einer Baptistenkirche ausgestoßen worden, bei der er seinen Kontrahenten eine Holzbank ins Gesicht geschleudert hatte. Doch für uns, die wir in einer von französischer Lebensart und vom Katholizismus geprägten Kultur lebten, waren das Hinterwäldleranekdoten, ebenso abwegig und unglaublich wie die Geschichten über Lynchmobs und Brandanschläge auf schwarze Kirchen oben in Mississippi. Woher hätten wir wissen sollen, dass Aaron Crown eines Nachts bäuchlings wie ein Scharfschütze, den Lederriemen seines Mauser-Sportgewehrs eng um den Unterarm geschlungen, das Gemächt leicht an die Erde gedrückt, unter einer immergrünen Eiche lag, durch deren moosbehangene Zweige das Mondlicht wie blaue Spinnweben fiel, und dem berühmtesten schwarzen Bürgerrechtler in Louisiana durchs geschlossene Fenster eine Kugel in den Kopf jagte? Es dauerte 28 Jahre, bis man ihn dingfest machte, bis man die Geschworenen beisammenhatte, überwiegend Angehörige einer jüngeren Generation, die kein Interesse daran hatte, sich für Männer wie Aaron Crown zu verwenden. Von Anfang an waren alle von seiner Schuld überzeugt gewesen. Er hatte die Tat nicht geleugnet. Und außerdem war er eigentlich nie einer von uns gewesen. Es war Frühherbst und ein Wahljahr. Sobald morgens die Sonne über dem Sumpf aufging und den Nebel zwischen den überfluteten Zypressen wegbrannte, die gegenüber von meinem Köderladen und Bootsverleih am Ufer des Bayou standen, nahm der Himmel einen derart harten, herzerfrischend tiefblauen Ton an, dass man das Gefühl hatte, man brauchte nur den Arm auszustrecken und könnte sich eine Handvoll davon greifen. So wie man einen Klumpen Rohbaumwolle pflückt. Die Luft war kühl und trocken, und vom Fahrweg entlang des Bayou stieg der Staub wie goldene Säulen aus Rauch und Licht durch das Blätterdach der Eichen auf. Ich schmirgelte an diesem Samstagmorgen die Planken meines Bootsanlegers, und als ich aufblickte, sah ich Buford LaRose und seine Frau Karyn, die durch den langen Tunnel aus Bäumen auf mich zujoggten. Sie kamen mir vor, als seien sie dem Foto eines Fitnessmagazins entsprungen, so als habe ein findiger Fotograf diese Szene für ein verklärendes Abbild des so genannten Neuen Südens eingefangen. Erst dann fand ich es merkwürdig, dass sie hier auftauchten, 40 Kilometer von der renovierten Plantagenbesitzervilla entfernt, in der sie wohnten. Ich redete mir ein, dass sie nicht meinetwegen gekommen waren, dass es sich nicht gehörte, wenn ich sie aus reiner Höflichkeit beim Laufen störte. Daher legte ich die Schleifmaschine beiseite und ging zum Köderladen. „Hallo!“, hörte ich Buford rufen. Die Vergangenheit holt einen auf diverse Art ein. In diesem Fall geschah es in Gestalt von Karyn LaRose, deren platinblonde hochgesteckte Haare klatschnass waren. Ihre Shorts und das lilagoldene Mike-the-Tiger-T-Shirt klebten wie nasse Papiertücher an ihrem Leib. „Wie geht’s euch?“, erwiderte ich mit einem steifen Lächeln. „Hat Aaron Crown Sie schon angerufen?“, fragte Buford, während er sich mit einer Hand am Geländer abstützte und mit der anderen den Fuß bis zu seinem Schenkel hochzog. „Woher wissen Sie davon?“, fragte ich. „Er sucht Menschen mit einem weichen Herz, die sich seine Geschichte anhören.“ Buford grinste, dann zwinkerte er mir voller Selbstvertrauen zu, ganz der ehemalige Quarterback, der vor 20 Jahren, als er für die Louisiana State University spielte, mühelos Pässe an die 70 Meter werfen konnte. Sein Bauch war nach wie vor flach, die Taille schmal, die Brust sehnig wie bei einem Preisboxer. Seine ebenmäßigen breiten Schultern waren oliv gebräunt, die Spitzen der lockigen braunen Haare von der Sonne gebleicht. Er zog den anderen Fuß nach hinten hoch und blinzelte mich durch den Schweiß an, der ihm von den Augenbrauen tropfte. „Aaron hat sich in den Kopf gesetzt, dass er unschuldig ist“, sagte er. „Er hat eine Filmfirma an der Hand, die an ihn glaubt. Blicken Sie allmählich durch?“ „Sucht er etwa einen dummen Cop, der sich für ihn einsetzt?“, fragte ich. „‚Menschen mit einem weichen Herz‘, habe ich gesagt“, erwiderte er. Er strahlte jetzt übers ganze Gesicht. „Wieso kommst du uns nicht öfter mal besuchen, Dave?“, fragte Karyn. „Klingt nicht schlecht“, sagte ich nickend und ließ den Blick über das Wasser schweifen. Sie reckte das Kinn vor, wischte sich den Schweiß vom Nacken, schaute mit geschlossenen Augen in die Sonne, schürzte die Lippen und atmete ein, so als sei die Luft zu kalt. Dann schlug sie die Augen wieder auf und lächelte, während sie sich mit beiden Armen auf das Geländer stützte und erst das eine, dann das andere Bein dehnte. „Wollt ihr mit reinkommen und was trinken?“, fragte ich. „Lassen Sie sich von dem Kerl nicht zum Narren halten, Dave“, sagte Buford. „Warum sollte ich?“ „Warum sollte er Sie überhaupt anrufen?“ „Wer hat Ihnen das gesagt?“, fragte ich. „Sein Anwalt.“ „Mit der Schweigepflicht scheint er’s nicht so genau zu nehmen“, sagte ich. „Machen Sie mal halblang, Dave“, erwiderte er. „Wenn Aaron Crown jemals aus Angola rauskommt, bringt er zuerst seinen Anwalt um. Das heißt, nachdem er den Richter erschossen hat. Woher ich das wissen will? Weil Aaron den Richter angerufen hat – per R-Gespräch wohlgemerkt – und es ihm gesagt hat.“ Sie verabschiedeten sich, fielen wieder in Trab und liefen Seite an Seite an den Rasensprinklern vorbei, die zwischen den Bäumen in meinem Vorgarten standen. Ich schaute ihnen hinterher, bis sie immer kleiner wurden, und hatte die ganze Zeit das Gefühl, dass soeben etwas Unerhörtes, wenn nicht sogar Ungeheuerliches vorgefallen war. Ich stieg in meinen Pick-up und holte sie nach gut 400 Metern ein. Sie trabten ungerührt weiter. „Eins macht mir zu schaffen, Buford“, sagte ich und beugte mich aus dem Fenster. „Sie haben ein Buch über Aaron Crown geschrieben. Womöglich werden Sie dadurch unser nächster Gouverneur. Und jetzt wollen Sie darüber verfügen, mit wem der Typ Umgang haben darf ?“ „Das macht Ihnen also zu schaffen, was?“, fragte er, während seine luftgepolsterten Laufschuhe rhythmisch auf den Boden schlugen. „So unverständlich ist das doch nicht“, sagte ich. Karyn beugte sich an ihm vorbei und grinste mich an. Ihr Mund war hellrot, die braunen Augen funkelten, sie wirkte glücklich, energiegeladen vom Laufen. „Euch wird noch viel mehr zu schaffen machen, wenn ihr diesen rechten Idioten im November zur Macht verhelft. Bis zum nächsten Mal, mein Guter“, sagte er, reckte seinen Daumen in die Höhe und trabte mit seiner Frau weiter, quer durch einen schattigen Pecanbaumhain. Sie rief mich an diesem Abend an, nicht im Haus, sondern im Köderladen. Durch das Fliegengitter sah ich die erleuchtete Veranda und die Fenster meines Hauses, das oben am Hang, hinter den Bäumen, auf der anderen Seite des Fahrwegs stand. „Bist du sauer auf Buford?“, fragte sie. „Nein.“ „Er möchte bloß nicht, dass du benutzt wirst, das ist alles.“ „Ich weiß seine Sorge zu schätzen.“ „Hätte ich nicht dabei sein sollen?“ „Ich freue mich, dass ihr vorbeigekommen seid.“ „Wir waren damals beide nicht verheiratet, Dave. Wieso ist dir das so unangenehm, wenn wir uns sehen?“ „Ich glaube, dieses Gespräch bringt nichts“, sagte ich. „Ich halte nicht viel von Schuldgefühlen. Du offenbar schon,...