Zur Legitimation pädagogischer Eingriffe. Mit einem neuen Vorwort zur 3. Auflage 2017
E-Book, Deutsch, 336 Seiten
ISBN: 978-3-86393-540-5
Verlag: CEP Europäische Verlagsanstalt
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Micha Brumlik erhielt 2016 die Buber-Rosenzweig-Medaille und hatte im Sommersemester 2016 die Rosenzweig-Professur in Kassel inne. 2000-2013 war er Professor am Institut für Allgemeine Erziehungswissenschaft der J. W. Goethe-Universität Frankfurt am Main und bis 2005 Direktor des Fritz Bauer Instituts, Studien- und Dokumentationszentrum zur Geschichte und Wirkung des Holocausts. Seit 2013 Senior Professor am Zentrum Jüdische Studien Berlin/Brandenburg. Veröffentlichungen u.a.: 'Aus Katastrophen lernen?' (2004), Sigmund Freud. Der Denker des 20. Jahrhunderts (2006), 'Schrift, Wort und Ikone. Wege aus dem Bilderverbot' (2006), 'Kritik des Zionismus' (2007), 'Entstehung des Christentums' (2010), 'Messianisches Licht und Menschenwürde. Politische Theorie aus Quellen jüdischer Tradition' (2013), 'Vernunft und Offenbarung' (2001/2014), 'Wann, wenn nicht jetzt - Versuch über die Gegenwart des Judentums' (2015), 'Luther, Rosenzweig und die Schrift. Ein deutsch-jüdischer Dialog' (2017).
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
Moral, Erziehung, Pädagogik, Erziehungswissenschaft, Ethik, Bildung
Micha Brumlik Verantwortung, Vertrauen und Würde. Vorwort zur dritten Auflage 2017
Vorbemerkung
Mehr als fünfundzwanzig Jahre nach dem Erscheinen der ersten Beiträge zur advokatorischen Ethik ist es unwiderruflich an der Zeit, dieses Projekt grundbegrifflich zu erweitern und damit neu zu begründen. Das wird an einem Fall aus jüngster Zeit besonders deutlich: Die Presse1 berichtete vom im Great Ormond Street Hospital in London behandelten elf Monate alten Baby Charlie Gard, das – bei der Geburt „normal“ wirkend, dann doch bald – aufgrund eines bei beiden Eltern vorhandenen defekten Gens sichtlich an einem „Mitochondrialen DNA Depletionssyndroms“ litt und daher weder sehen noch hören noch sich bewegen konnte. Die Ärzte des eher patriarchalischen britischen Medizinssystems wollten die lebenserhaltenden Maßnahmen einstellen und das Baby sterben lassen; die Eltern klammerten sich an den Umstand, dass in den USA ein Arzt an einer Therapie für diese Krankheit forscht. Ebenso hatten die verzweifelten Eltern unter ihrer Website „Charlie´s Fight“ über das Instrument des „Crowd Funding“ bereits 1,4 Millionen Euro für eine Behandlung in den USA gesammelt, sowohl Papst Franziskus als auch Präsident Trump haben sich dafür ausgesprochen, indes: nach einem Urteil des Europäischen Gerichtshofs waren die Maschinen gemäß britischen Rechts abzustellen, denn – so die behandelnden Ärzte: das Abschalten der Maschine sei im „best interest des Kindes...man quäle Charlie sonst nur unnötig, Hoffnung auf Besserung gebe es nicht, habe doch die Krankheit Charlies Gehirn...irreversibel geschädigt.“2 Der europäische Gerichtshof für Menschenrechte hatte geurteilt, daß Eltern als gefühlsbetonte und voreingenommene Wesen minder objektiv seien als Ärzte, die – nicht emotional involviert – besser im Interesse des Patienten entscheiden könnten. Der Fall, aber nicht nur dieser Fall gibt Anlass, das Projekt einer „advokatorischen Ethik“ um mindestens zwei Grundbegriffe zu erweitern: den Begriff der „Verantwortung“ und den Begriff der „Würde“. Zuvor ist aber noch einmal aus der Perspektive einer philosophischen Anthropologie, die notwendigerweise auch immer eine pädagogische Anthropologie sein muss, auf das Verhältnis von Vertrauen und Verantwortung, sodann – im Anschluss – auf das Problem menschlicher Würde einzugehen. 1. Die Zeitgestalt des menschlichen Lebens
In pädagogischen, d.h. immer auch in intergenerationellen, Beziehungen hängen Verantwortung und Vertrauen eng miteinander zusammen – geht es doch um die Verantwortung der Erwachsenen für die „noch-nicht“ sowie die „nicht-mehr Mündigen“ – für die Alten oder die Kinder. Der Begriff der „Verantwortung“ signalisiert, dass es hier um eine Ethik der Lebensalter geht. Dabei ist mindestens zweierlei zu klären: erstens die Frage, was genau ein Lebensalter, manche sprechen auch von Entwicklungsabschnitten, ist, und zweitens, in welchem Ausmaß und aus welchen Gründen hieraus wem gegenüber welche Pflichten enstehen. Indes: „Verantwortung“ ist – wie zuletzt Valentin Beck mit Blick auf die Verantwortung der Länder des Westens für die unter Armut, Hunger und Krieg leidenden Länder des Südens gezeigt hat – nicht mit einer unmittelbaren moralischen Verpflichtung identisch.3 Bei der Zuschreibung bzw. Übernahme von „Verantwortung“ geht es nach Beck um Folgendes: „Für das eigene Tun und Unterlassen einzustehen und von anderen zu fordern, dass sie dies ebenfalls tun, schließt zudem ein, sich und anderen bestimmte Handlungen und Handlungsfolgen zuzurechnen.“4 Damit können nur Personen, erwachsene und im weitesten Sinne gesunde Personen im vollen Umfang Verantwortung sowohl für sich selbst als auch für andere übernehmen; die volle Bedeutung des Verantwortungsbegriffs umfasst mithin, dass jemand sich in Bezug auf normative Standards vor einer Rechtfertigungsinstanz rückblickend oder vorausschauend in einem sozialen Kontext für alle Folgen seines Handelns oder Unterlassens für zuständig erklärt. In diesem Sinne hat etwa der Sozialphilosoph Rainer Forst ein „Recht auf Rechtfertigung“ postuliert.5 Müssen Eltern für ihre Erziehungsweisen Verantwortung übernehmen und haben Kinder demgemäß ihren Eltern gegenüber eine Dankesschuld? In der modernen Ethik ist von der Verantwortung im Generationenverhältnis – vornehmlich bei Kant – lediglich eine paradox anmutende „Tugendpflicht der Dankbarkeit“ übriggeblieben.6 Dankbarkeit dafür, dass andere für uns, als wir noch nicht handlungsfähig waren, Verantwortung übernommen haben oder übernehmen mussten. Dankbarkeit ist nach Kant die pflichtgemäße Verehrung einer Person ob einer erwiesenen Wohltat. Die Tugendpflicht der Dankbarkeit, nach Kant keine Klugheitsregel, sei als eine Sinnbedingung moralischer Bildung anzusehen: Dankbarkeit müsse als heilige Pflicht angesehen werden, also als eine solche Pflicht, „deren Verletzung die moralische Triebfeder zum Wohltun in dem Grundsatze selbst vernichten kann.“7 Auf eine Ethik des Generationenverhältnisses bezogen und im vollen Bewußtsein, dass Kinder in zahlreichen Fällen ihren Eltern gegenüber nur wenig Anlass zur Dankbarkeit haben, lässt sich gleichwohl festhalten, dass jener Dank – und die damit einhergehende Fähigkeit zur Dankbarkeit – nach Kants Meinung die Basis jeder moralischen Motivation ist. Dass diese Auffassung durch die Sozialisationsforschung eindrucksvoll bestätigt worden ist, muss hier nicht eigens belegt werden. Zu fragen ist jedoch, ob die auch für die ganze Lebensspanne, für die Zeitgestalt des ganzen menschlichen Lebens gilt? Auf jeden Fall materialisiert sich diese Verantwortung in einem zunächst unterstellten und zu unterstellenden alternativlosen Vertrauensverhältnis. Aber was genau ist Vertrauen? 2. Zur Phänomenologie von Vertrauen
Auf den ersten Blick scheint Vertrauen ein moralisches Gefühl zu sein, jedoch: trifft diese Erläuterung tatsächlich zu? Ist „Vertrauen“ ein moralisches Gefühl? Haben wir nicht vielmehr zu akzeptieren, dass „Vertrauen“ eine der basalsten Bedingungen jeglichen menschlichen Handelns, instrumentellen und kommunikativen Handelns ist, ganz unabhängig davon, ob die Ziele dieses Handelns moralisch ausweisbar sind? Auch und gerade Verschwörungen mit moralisch verächtlichen Zielen fordern ja ihren Teilnehmern, den Mitverschworenen, ein Minimum an wechselseitigem Vertrauen ab. Ist Vertrauen überhaupt ein moralisches Gefühl? Ein Gefühl erster Ordnung wie z. B. Liebe, Hass, Ärger, Wut oder Empörung? Man mag vertrauensvoll handeln oder sich des Vertrauens von jemandem würdig erweisen. Man mag um Vertrauen werben und Vertrauen verlieren. Auf jeden Fall ist „Vertrauen“ ein affektiver Zustand, indem sich Personen gegenüber anderen Personen, Personengruppen oder Institutionen befinden. Dabei ist „Vertrauen“ jedoch nicht mit „Verlässlichkeit“ identisch, obwohl eine bestimmte Grundeinstellung, nämlich die mindestens zeitweise fraglose Akzeptanz von Gegebenheiten, die für die Akteure im Prinzip Risiken bergen, beiden gemeinsam sind. Wir vertrauen darauf, dass der Erdboden uns trägt, dass ein Küchengerät wie angegeben funktioniert und dass andere, nächste Personen im Konfliktfall auch dann auf Gewaltausübung verzichten, wenn sie das nicht explizit versprochen haben. Im Unterschied zur Verlässlichkeit von Dingen, die einer moralischen Bewertung direkt nicht zugänglich sind, ist das Vertrauen gegenüber Personen durchaus in Begriffen der Zurechenbarkeit und Verantwortung zu fassen. Jemand kann unser Vertrauen verdienen oder hat es eben verspielt. Der Soziologe Niklas Luhmann hat die berühmt gewordene Vermutung ausgesprochen, dass „Vertrauen“ ein Mechanismus zur Reduktion von Komplexität sei. Eine Definition von Vertrauen könnte demnach lauten: „Vertrauen ist die akzeptierte Verletzlichkeit gegenüber dem stets möglichen, aber doch nicht erwarteten bösen Willen eines anderen, der die Möglichkeit hat, uns Übel zu wollen und übel zu tun.“8. Beispiele lassen sich vom Besuch beim Zahnarzt über die riskante Entblößung bei Sexualkontakten mit neuen Partnern bis zum Informantenschutz von Journalisten schnell finden. Gefühle aber sind holistische prima facie Einstellungen der Welt gegenüber, und so vertrauen wir einer Person oder vertrauen ihr eben nicht. Dort, wo wir uns dieses Vertrauens nicht sicher sind oder wir nach Gründen für unser Vertrauen suchen, mögen wir diese Person immer noch schätzen oder gar lieben, ihr aber eben nicht vertrauen. Ein moralisches Gefühl ist Vertrauen, weil es auf Gründen beruht, die explizierbar sind, ohne dass damit – ein gern begangener Irrtum – das Vertrauen hinfällig werden muss. Eine Ethik des Vertrauens würde sich dementsprechend, mit den jeweiligen Gründen für das Vertrauen und im zweiten Schritt mit jenen Verhaltensweisen oder Einstellungen auseinandersetzen, die bei anderen zu Recht Vertrauen hervorrufen können. Wenn es nämlich richtig ist, dass Vertrauen in einer prinzipiell kontingenten Welt nicht nur – wie Niklas Luhmann meint9 – ein unverzichtbarer Mechanismus zur Reduktion von Komplexität ist, sondern auch eine schätzenswerte Einstellung von Personen, also ein Gut darstellt, dann ist es in gewisser Weise auch ein Gut, vertrauenswürdig zu sein – sogar, wenn sich dieses Vertrauen auf die Ausführung von sonst abzulehnenden Handlungszwecken bezieht. Freilich: Auf dieser basalen Ebene überzeugt die Erläuterung nicht. Sollte nicht vielmehr gelten, dass Vertrauenswürdigkeit nur dann ein Gut...