E-Book, Deutsch, Band 75, 129 Seiten
Reihe: Film-Konzepte
E-Book, Deutsch, Band 75, 129 Seiten
Reihe: Film-Konzepte
ISBN: 978-3-68930-073-9
Verlag: Richard Boorberg Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Die Beiträge zu diesem Band schlagen thematische und motivische Schneisen durch das umfangreiche Gesamtwerk Kohlhaases. Sie widmen sich der Darstellung von Nationalsozialismus und Zweitem Weltkrieg in seinen Filmen, gehen dem wiederkehrenden Thema eines geteilten Deutschland nach, diskutieren seinen Umgang mit Frauenfiguren und jugendlichen Helden und betrachten das Wechselspiel von Humor und Lebensnähe. Ein persönliches Porträt Kohlhaases und unveröffentlichte Texte aus dem Nachlass runden den Band ab.
Fachgebiete
- Geisteswissenschaften Theater- und Filmwissenschaft | Andere Darstellende Künste Filmwissenschaft, Fernsehen, Radio Einzelne Filmschauspieler, Filmregisseure, Drehbuchautoren
- Geisteswissenschaften Theater- und Filmwissenschaft | Andere Darstellende Künste Filmwissenschaft, Fernsehen, Radio Filmgeschichte
Weitere Infos & Material
Laila Stieler
Zufriedene Füße
Wolfgang-Kohlhaase-Momente
Ich bin mit seinen Filmen aufgewachsen. Als ich mich traute, mich seine Kollegin zu nennen, waren die ersten Filme nach meinen Drehbüchern bereits gedreht. Und noch etwas später, ganz schüchtern, war eine zarte Freundschaft entstanden. Bei Begegnungen, ich lud ihn auch hin und wieder zu Seminaren an der Universität und zu Filmvorführungen mit Gespräch in unseren Kulturverein ein. Manchmal besuchten wir ihn und seine Frau Emöke. Dann gab es was Feines zum Mittag, Unmengen Kuchen, starken Kaffee und gute Gespräche. Wir brauchten dafür keine richtigen Anlässe. Einmal fragte ich ihn um Rat. Ich hatte ein Angebot für eine Festanstellung an einer Uni erhalten und das Sicherheitsbedürfnis, das mich als selbstständige Autorin manchmal plagt, drängte mich, diese Stelle anzunehmen. Was soll ich machen, fragte ich ihn. Und natürlich hatte er keine Lust, mir diese Lebensentscheidung abzunehmen. Er sagte, er habe auch solche Angebote erhalten. Und immer sei ihm versichert worden, er würde trotzdem noch genug Zeit zum Schreiben haben. Aber da gibt es Studenten, denen musst du nicht nur was erzählen, für die übernimmst du Verantwortung, und dann kommen Kollegen dazu, Probleme usw. Und der freie Raum, den du zum Schreiben brauchst, ist um die Hälfte geschrumpft. Da hatte ich meine Antwort. Und ich begriff auch, dass Autor-Sein für ihn kein Beruf war. Es war sein Leben. Wolfgang Kohlhaase war nicht Autor, weil er sich morgens an den Schreibtisch setzte und etwas zu Papier brachte. Es war seine Haltung, eine freundliche Distanz, zugleich aber auch eine besondere Aufmerksamkeit, er war umgeben von Geschichten, kleinen und großen. Vielleicht haben sie in seinem Kopf Platz genommen wie Zuschauer in einem Kinosaal? Wolfgang Kohlhaase starb an einem Dienstag. Am Freitag zuvor hatte ich ihn noch gesehen. Wir saßen bei der Preisverleihung der DEFA-Stiftung nebeneinander. Es wurde Musik gespielt. Als vorletzten Song sang Pascal von Wroblewsky »Solo Sunny«. Ich hatte schon darauf gewartet und dann ein bisschen gejubelt. Als die Veranstaltung zu Ende war und ich aufstand, sah ich, dass Wolfgang Tränen in den Augen hatte. Sein Blick traf mich. Ich erschrak. Am Abend nach seinem Tod rief mich ein Journalist an und fragte, ob ich schnell einen Nachruf schreiben könnte. Ich habe ihn angefaucht. Der arme Kerl konnte ja nichts dafür, er machte nur seine Arbeit. Was soll ich über ihn schreiben? Ich kann da nichts schreiben. Ich weiß nicht mal, was ich fühlen soll. Ich hatte es erst mittags erfahren, kurz vor meiner Abreise vom Land in die Stadt. Gottseidank überbrachte ein Anrufer die Nachricht. Ich weiß nicht, wie ich reagiert hätte, wenn ich es unterwegs aus dem Radio erfahren hätte. Ich bin so wütend geworden, dass ich auf der Fahrt vor mich hin geflucht habe. Ich war nicht sauer auf ihn, sondern auf mich. Weil ich der Illusion aufgesessen war, dass er immer da ist, immer da sein wird. Auf gewisse Weise stimmt das ja auch. Als ich ihm einmal gestand, dass ich SOLO SUNNY (1980) schon 17-mal gesehen habe, sagte er: Das finde ich übertrieben. Das mochte ich so an ihm. Diese kurzen Sätze, in Stein gemeißelt. »Ist ohne Frühstück. Ist auch ohne Diskussion.« Noch mehr liebte ich seine Poesie. Hin und wieder werde ich von wohlmeinenden Mitarbeitern ermuntert, auch ruhig mal ein poetisches Bild zu schreiben. Meist ist ein Sonnenuntergang gemeint oder irgendwas anderes mit Himmel. Bei Wolfgang ist die Poesie nie Kitsch. Niemals. »Poesie der Präzision«, »Poesie der Subversivität«, »Filme voller Poesie« heißt es über ihn und seine Texte. Aber was genau ist die spezielle Poesie eines Wolfgang Kohlhaase? Ist es, wie Andreas Dresen sagt »komplizierte Dinge mit einfachen Worten zu beschreiben«? Ganz sicher. Und doch ist dies auch wieder eine poetische Umschreibung seines Könnens. Ich glaube, es war in seinem Drehbuch zu SOMMER VORM BALKON (2005), in dem ich diese zwei Sätze gelesen habe: »Sie steht im Türrahmen. Üppig und verlassen.« Zwei Sätze nur. Sie treffen ins Herz, weil sie Räume im Kopf öffnen über das Woher und Wohin dieser Figur, über ihren Reiz, ihren Trotz, ihre Schwermut. Das Stehen im Türrahmen, auf der Schwelle zu etwas, bestellt, nicht abgeholt. Die Komposition von »üppig«, also blühend, aber vielleicht auch verblühend, und »verlassen«, allein gelassen, plötzlich einsam geworden, sich noch nicht abgefunden haben. Und mehr nicht. Auch das ist Poesie. Ist es also die Sprache, in der Kohlhaase seine Bücher verfasste? Sind es die Worte, die eine Vielzahl von (Be-)Deutungen zulassen? Ihre Komposition, die einen Spannungsraum schafft? Eine Sprache, die Bilder entstehen lässt. Freiräume schafft für Fantasie. Knapp und doch greif bar, plastisch und nie überladen? Das wäre schon viel. Und doch meine ich, seine Poesie ist mehr als eine Poesie der schönen, knappen Worte, der Beschreibungen. Es ist eine filmische Poesie. Und wie, nun weiter gefragt, wurde diese Poesie filmisch? Wie hat er das geschafft, Bilder und Vorgänge zu poetisieren? In einem Dialog mit Otto Gotsche über die Poesie der Arbeit sagte Kohlhaase: »Es sind nicht die Fakten an sich poetisch, sondern das Verhältnis zu den Fakten […] Nicht die Arbeit ist poetisch, sondern das Verhältnis zur Arbeit […] Mir scheint, dass nicht jeder neue Arbeitsprozess sofort poetisierbar ist. Er muss erst von vielen verstanden worden sein […].« Im Film DER NACKTE MANN AUF DEM SPORTPLATZ (1974) erzählt Kohlhaase von einem Künstler. Und er erzählt diese Figur durch ihre Arbeit. In langen Einstellungen schauen wir Kurt Böwe, der den Bildhauer Kemmel spielt, dabei zu, wie er formt. Minutenlang. Der Künstler als Arbeiter. Ein Atelier wie ein Werkschuppen, ein Kerl wie ein Baum, meist im Blaumann. Bei einer Arbeit, die jeder auf die eine oder andere Art kennt und versteht. Archaisch. Etwas formen. Aus Sand, Teig, Ton, Holz, Knete … Ist die Darstellung dieser Arbeit nun schon automatisch Poesie? Sicher nicht. Welche weiteren Voraussetzungen hat der Autor geschaffen, um dem Film die poetische Tonlage zu geben? DER NACKTE MANN AUF DEM SPORTPLATZ ist ein Film, der keine Geschichte im herkömmlichen Sinne erzählt, eher lose verknüpfte Episoden. Eine beispielsweise handelt von der Annäherung des Künstlers an einen Brigadier. Kemmel soll die Büste eines Arbeiters herstellen. Er ist auf der Suche nach einem Modell. Und findet es im Brigadier eines Tief baubetriebes. Aber der Mann will nicht. Kemmel sucht ihn immer wieder auf, weckt schließlich dessen Verständnis. Der macht ja auch nur seinen Job, es ist eben seine Arbeit, meint der Brigadier und lässt sich schließlich aufs Modell-Sitzen ein. Wir schauen zu, wie die Büste nach und nach entsteht. Wie Kemmel ein – für mich als Betrachterin – hoffnungsvolles Zwischenstadium einfach wieder einstampft und von vorn anfängt. Ein Endergebnis wird es nicht geben. Mehr noch, in einer späteren Szene wird beiläufig erwähnt, dass Kemmel die Büste verworfen hat. Das Geld hätte er gebraucht. Er lebt sehr bescheiden. Er verzichtet dennoch darauf. Warum? Sie hat ihm nicht gefallen, die Büste. Mehr nicht. Die Erklärung muss ich mir selbst geben. Ich muss sie in seiner Figur suchen. Die sich nie erklärt. Nur einmal spricht der Bildhauer in einfachen Worten über sein Kunstverständnis. Da besucht Kemmel einen Ort, in dem ein Relief von ihm aufgestellt werden soll. Aber die Einweihung findet nicht statt. Die LPG-Vorsitzende teilt ihm mit, es sei einstweilen im Spritzenhaus der Feuerwehr abgestellt. Dem Dorf, einschließlich ihr selbst, habe es nicht gefallen. Will man nicht jetzt was Schöneres sehen? Sie bietet Kemmel ein Stück Kuchen und ein Bett für die Nacht. Am Abend kommt sie noch einmal zu ihm. Sie sitzen sich gegenüber in einer kargen Kammer. Jetzt Streit, Versöhnung, Auflösung, gar ein Happy End? Aber nicht doch. Kemmel strahlt eine derart betrübte Gelassenheit aus, dass böse Worte nicht auf kommen können. Die LPG-Vorsitzende (großartig: Elsa Grube-Deister) druckst um ihr schlechtes Gewissen herum. Und Kemmel versucht, behutsam, nicht belehrend, seine Arbeitsweise zu beschreiben. »Jede Sache, wenn sie nicht ganz schlecht ist, hat etwas, was man gleich sieht, und etwas, was man nicht gleich sieht. Sowas muss erstmal dastehen und das Licht muss darauf scheinen, mal so, mal so. Und man muss daran vorbeigehen zur Arbeit, zum Konsum oder zur Kneipe …« Mit anderen Worten: Man soll Platz haben, man braucht Raum und Zeit, sich das Kunstwerk zu erschließen. Ob sie einander verstehen, bleibt offen. So offen, dass nicht die Frage interessant ist, wie die Szene zu einem befriedigenden Abschluss gebracht wird, sondern dass Kemmels Sätze nachklingen können. Das ist der Schlüssel zu seiner Figur, gleichsam zum Film und seiner Poesie. Der Poesie des Künstlers und vielleicht auch des Autors, der es uns ermöglicht, in seinem Film spazieren zu gehen wie in einem weitläufigen Garten. Poesie bei Kohlhaase also durch Weglassen, Freilassen, Offenlassen, etwas nicht ausführen, nicht anfüllen, ausfüllen, vollstopfen? So einfach? Nein, nicht einfach. Wie oft setze ich im Drehbuch hinter einen Dialogsatz drei Punkte und meine ein beredtes Schweigen, Blicke, Seufzer vielleicht, Atmen. Und dann wird genau dieser Moment albern, peinlich, die Schauspieler füllen ihn mit Füllwörtern, weil sie sich nicht zu helfen wissen, weil sich das Atmen irgendwie nicht ergibt. Wie hat er es geschafft, eine Leerstelle...