Brodak | Als ich 13 war, überfiel mein Vater seine erste Bank | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 288 Seiten

Brodak Als ich 13 war, überfiel mein Vater seine erste Bank

E-Book, Deutsch, 288 Seiten

ISBN: 978-3-312-01004-2
Verlag: Nagel & Kimche
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Im Sommer 1993, als Molly dreizehn wird, überfällt ihr Vater elf Banken. Er wird geschnappt und sitzt jahrelang in Amerika im Gefängnis. Nach seiner Entlassung verhält er sich eine Weile ruhig, dann zieht er wieder los. Dazwischen ist Joseph Brodak für seine Familie da, mit einem Job bei GM, einem Haus mit Garten, einer Ferienreise nach Peru. Als Kind ahnte Molly eine unbekannte Seite; heimlich hatte er schon einmal eine Familie gehabt. Er bleibt tagelang verschwunden, als Geschenk für die Schwester steht plötzlich ein Sportwagen vor der Tür, und er ist ein notorischer Lügner. Als er verhaftet wird, ist niemand wirklich überrascht. Molly Brodak rekonstruiert ihre Geschichte mit rückhaltloser Offenheit; aus der kühlen Präzision entsteht eine mitreißende Wirkung.
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1   Ich war mit meinem Dad unterwegs, als ich zum ersten Mal etwas klaute. Es war ein kleines Buch mit Vornamen. Ich war damals sieben und verschlang Wortschätze: Lexika, Vokabellisten, Speisekarten. Die Verlockung dieser Aneinanderreihung von Namen, ihre ansprechende Gestalt und ihre klare Ordnung – das war für mich wie ein unlösbares Puzzle. Ich konnte nicht darum bitten, aber ich konnte es auch nicht liegen lassen. Ich hielt es an die Brust gedrückt, als wir den Laden wieder verließen. Es war hellblau, und über dem Archivbild eines lächelnden weißen Babys mit weißer Windelhose stand, in pastellfarbenen Blockbuchstaben, BABY. In die erste Seite vertieft, wartete ich neben Dad, während er die Tüten mit unseren Einkäufen im Kofferraum seines ramponierten goldenen Chevette verstaute; er hielt inne, als er es sah. Erst sagte er nichts. Er wich meinem Blick aus. Er drückte mir bloß fest die Hand in den Rücken und marschierte mit mir zurück zu der Kasse, von der wir gekommen waren, pflückte mir das bescheuerte Buch aus den Händen und reichte es der Kassiererin. «Das hat meine Tochter gestohlen. Ich bitte um Verzeihung.» Er strahlte die Menge der Umstehenden mit rechtschaffenem Rundumblick an. Die schlaffe Kassiererin zuckte zusammen und murmelte mit einem gutmütigen Ki- chern, das sei schon okay. Dann beugte mein Dad sich über mich und rief: «Jetzt entschuldigst du dich. Das tust du nie wieder.» Der kalte Zorn in seiner Miene hatte einen glitzernden Rand, den ich nicht deuten konnte. Als er mich an den Schultern packte, lächelte er fast. Ich erinnere mich an seine glänzenden Augen über mir und an den hohen, riesigen Verkaufsraum und an die Helle darin. Bestimmt weinte ich, aber das weiß ich nicht mehr. An eins erinnere ich mich gut: an ein saures Aufwallen in meiner Brust, an den kalten Schweiß, der mir aus allen Poren brach; mir graute vor dem, was ich begehrt und was ich getan hatte; wie beschämt wir jetzt alle meinetwegen waren. Ich stahl nie mehr, bis ich ein Teenager war und er im Gefängnis saß.     2   Dad überfiel einen Sommer lang Banken. Er überfiel die Community Choice Credit Union in der 13 Mile Road in Warren. Er überfiel die Warren Bank in der 19 Mile Road. Er überfiel die NBD Bank in Madison Heights. Er überfiel die NBD Bank in Utica. Er überfiel die TCF Bank in der 10 Mile Road in Warren. Er überfiel die TCF Bank in der 14 Mile in Clawson, in der ich mit siebzehn mein erstes Konto eröffnete. Die mit den Bonbonsträußchen in jedem Fenster und dem säuerlichen Krautgeruch vom Bioladen nebenan. Er überfiel die Credit Union One in der 15 Mile Road in Sterling Heights. Er überfiel die Michigan First Credit Union in der Gratiot in Eastpointe. Er überfiel die Comerica Bank in der 8 Mile, Ecke Mound. Das war ziemlich nahe an dem Viertel in Detroit, in dem er aufgewachsen war, Poletown East, etwa zehn Meilen weiter südlich. Er überfiel die Comerica Bank in einem Kroger-Supermarkt in der 12 Mile, Ecke Dequindre. Die Supermarktkunden schlenderten vorbei, während Dad stumm einen Zettel über den Schalter schob: Das ist ein Überfall. Ich bin bewaffnet. Er überfiel die Citizen’s State Bank in der Hayes Road in Shelby Township. Danach stellten ihn die Bullen endlich. Sie schauten in sein Auto, das vor Tee-Js Golfplatz an der 23 Mile Road geparkt war: auf dem Rücksitz eine Tasche mit Geld und seine Verkleidung, unübersehbar. Er selber saß an der Bar, trank Bier und aß ein warmes Schinkensandwich.   In dem Sommer wurde ich dreizehn. Nach einer langwierigen Gerichtsverhandlung, die sich immer wieder verzögerte, weil er dauernd Einspruch erhob und seine Pflichtverteidiger feuerte, wanderte er für sieben Jahre ins Gefängnis. Nach seiner Entlassung führte er sieben Jahre lang ein normales Leben, dann raubte er wieder Banken aus.     3   Sehen Sie, das ist es schon. Damit haben wir bereits die Fakten. Die Fakten kann man leicht erzählen; das tu ich ständig. Sie haben mit mir nichts zu schaffen. Sie verbergen das Problem wie ein Deckel. Um die Fakten geht es nicht. Es geht um alles, was aus dem Erzählrahmen weggeschnitten wird. Die Fettreste, zersplitterten Knochen, Knorpel, Flachsen. Ich und Mom und meine Schwester und er, die eigentliche Ausgabe von ihm, jenseits der Banditenversion aus den Abendnachrichten. Ich sehe mich dort, als Kind, unter den ganzen Geschichten. Es ist 1987, und ich sitze zwischen meinen Eltern wie ein Kassettenrekorder. Oder Dad auf der Couch, gebannt auf den Fernseher starrend, Mom aus der Küche herüberschauend, ich auf dem klumpigen beigen Teppich mit meinen Rechtschreibübungsblättern. Ich schreibe das Wort people, sehe es von der Bleistiftspitze gleiten, mit einem Mal aber lausche ich so aufmerksam, dass ich nicht mehr sehe, was ich eigentlich tue. Mom mault, was weiß ich denn und was stimmt bloß nicht mit dir, wieder und wieder, und Dad redet währenddessen unbeirrt auf sie ein und lacht, freundlich, ohne den Blick vom Bildschirm zu wenden. Weitere Wörter bilden sich in unsicherer Schrift unter meiner Hand. Meine Schwester, neunjährig, stürmt herein und durch die Hintertür wieder hinaus, die sie ostentativ zuknallt. Die Stimmen unserer Eltern werden laut, reißen aber jäh ab, als von draußen seltsame, knackende Laute hereindringen. Wir schauen alle durch das Panoramafenster: Auf der betonierten Fläche kauert meine Schwester und zertrümmert mit einem Hammer walnussgroße Dekosteine aus dem Garten des Nachbarn. Sie holt so weit aus, wie es geht, und lässt dann den Hammer auf einen Stein hinabsausen, so dass er in Staub und Splitter auseinanderfliegt. Dad wendet sich wieder dem Fernseher zu. Mom hastet hinaus, und jetzt drückt meine Schwester die Waffe an ihre Brust: Mom taucht auf und entreißt ihr den Hammer. Ich registriere das alles so genau, dass ich es nicht sehe, während es passiert. Wo bin ich, wenn ich so aufmerksam lausche und schaue? Ich sitze am Esstisch und beobachte das Crescendo der Salven, die meine Eltern gegeneinander feuern, von wütenden Gabelhieben über Tellerwürfe bis hin zu zornschnaubenden Abgängen und schrillem Gekreisch, meine Schwester in die Gemeinheiten einstimmend, nur um sich nicht ausgeschlossen zu fühlen, während ich einfach zusehe, wie man vom Sofa aus fernsieht: Ich konnte sie sehen, aber sie mich natürlich nicht. Ich schob mein zerkochtes, zerdrücktes Gemüse auf dem Teller herum, gebannt auf das Drama starrend, als sähe ich Scooby Doo oder GI Joe im Fernsehen. Ich hätte schlafen können, mich davonschleichen, hätte summen, tanzen, sogar reden können, sie hätten mich nicht bemerkt, ich war ihr blinder Fleck. Schreiben konnte ich, stellte ich fest, und niemand hörte mich. Eine Überlebenstechnik ist Kleinwerden. Wenn die Möglichkeiten knapp sind und du ausharren musst, wo du bist, wie es ein Kind nun mal muss, ist Unsichtbarkeit eine nützliche Sache. Diese Familie, die gelegentlich vollzählig unter einem Dach, häufiger aber in unterschiedlichen Kind-Erwachsenen-Teilkombinationen zusammenkam, umwob mich als lose Problemkonstellation. Auf meinem kleinen Territorium, als wäre es in einem anderen Land, war ich kein Problem. Ich hielt mich still und brav, schlau und verschwiegen und sauber, las und spielte mit mir allein, fing Käfer, sammelte Steine, lesend, zeichnend, stumm. Und ich wollte noch weniger werden, ein Nichts, denn ich dachte, dann könnten sie alle wenigstens das haben, dieses eine Nichtproblem im Haus, das nicht brüllte und nicht schrie, das die Küche fegte und die geworfenen Sachen aufklaubte und insgeheim ganze zerkämpfte Zimmer wiederherstellte und manchmal sogar leise sang, froh, damit sie es womöglich doch hörten. Mein ganzes Leben lang habe ich über das alles geschwiegen.     4   Eines Tages ist es plötzlich so, als sei eine Membran durchstoßen worden: vorher. Dad war ein Dad wie alle anderen, und auf einmal ist er es nicht mehr. Wir saßen uns im Big Boy gegenüber, jeder auf seiner Bank, der Tisch direkt vor den winterschwarzen Fenstern, die unser Spiegelbild schwach zurückwarfen, und ich fragte ihn beiläufig, wie es in einem Aufnahmestudio zugeht und wie dort gearbeitet wird. Ich dürfte ungefähr elf gewesen sein, und ich hatte die nebelhafte Vorstellung, dass es aufregend und romantisch wäre, in einem Aufnahmestudio zu arbeiten, in irgendeiner Funktion bei der Entstehung von Musik mitzuhelfen, aber sie nicht selber machen zu müssen. Er ließ seine Lider flattern, wie er es oft tat, und antwortete ohne Zögern. Er sprach über die Studioausstattung, über die Zusammenarbeit der Band mit dem Produzenten, wie viel Toningenieure verdienen und wie ihre Zeitpläne aussehen. Details, die er unmöglich wissen konnte, wie mir allmählich dämmerte. Irgendwo hinter meinen Augen setzte ein gewaltiger Trommelwirbel ein. Ich sah, dass er log. Seine Augenpartie veränderte sich, während er sprach, es war wie eine Trübung oder Farbveränderung, und von diesem Moment an konnte ich es immer erkennen. Während er redete, spürte ich, wie sich mein Vertrauen – von dem ich gar nicht wusste, dass ich es hatte: das...


Brodak, Molly
Molly Brodak, wurde 1980 in Michigan geboren und lebt heute in Georgia, wo sie an der Augusta University Englische Literatur unterrichtet. Bislang veröffentliche sie Gedichte in literarischen Periodika und in der Presse. 2009 erhielt sie für ihren Lyrikband A Little Middle of the Night den Iowa Poetry Price.

Schaden, Barbara
Barbara Schaden studierte Romanistik und Turkologie in Wien und München. Nach einigen Jahren in der Filmbranche und im Verlagslektorat seit 1992 freiberufliche Übersetzerin. Sie übersetzte Sachbücher von Siddharta Mukherjee, Allen Frances, Amy Chua, Peter Demetz, Amana Fontanella-Khan und Umberto Eco u.v.a.


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