E-Book, Deutsch, 562 Seiten
Reihe: Max Brod - Ausgewählte Werke
Brod Stefan Rott oder Das Jahr der Entscheidung
1. Auflage 2014
ISBN: 978-3-8353-2534-0
Verlag: Wallstein Verlag
Format: PDF
Kopierschutz: 0 - No protection
Roman
E-Book, Deutsch, 562 Seiten
Reihe: Max Brod - Ausgewählte Werke
ISBN: 978-3-8353-2534-0
Verlag: Wallstein Verlag
Format: PDF
Kopierschutz: 0 - No protection
Die Welt kurz vor Beginn des Ersten Weltkriegs: Max Brods Prager Variante des »Zauberbergs« aus dem Jahr 1931.
Dieser Roman wurde oft als Max Brods »Zauberberg« bezeichnet, spielt er doch 1914, in den letzten Monaten vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs, welcher das alte Europa zum Einsturz brachte. Aber nicht ein entlegenes Sanatorium, sondern die kleine deutsche Gemeinde in Prag ist bei Brod das Modell der bürgerlichen Gesellschaft vor dem Kriege. Im Mittelpunkt steht der Gymnasiast Stefan Rott, ein junger Mann aus guter Familie, der sich die Welt zu erklären sucht und seine erste Liebe erlebt - er verehrt Phyllis, die Mutter eines Klassenkameraden und wird schließlich sogar von ihr erhört. Hinter der gutbürgerlichen Fassade aber verbergen sich Lüge und Korruption, wie Stefan nach und nach erkennen muss. Die schöne Phyllis ist dem reichen Advokaten Urban zugetan, und Geld spielt dabei durchaus eine Rolle.
Mit dem Attentat von Sarajevo stürzt auch diese kleine Prager deutsche Welt in den Abgrund: Frau Phyllis schießt auf ihren Ehemann, der Anarchist Dlouhy, Stefans Klassenkamerad, wird zum Tode verurteilt. Private und politische Entwicklung sind am selben Punkt angelangt: es wird nicht mehr geredet, es wird geschossen.
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Vorwort
Lang ist die Reihe der Schriftsteller, die in ihre Werke, hauptsächlich Dramen und Romane, poetologische Reflexionen, manchmal sogar systematisch formulierte Poetiken integriert haben. Am Anfang dieser Reihe steht, soviel mir bekannt ist, Aristophanes, der in seiner Komödie Die Frösche eine Art immanenter Poetik formuliert hat. Er hat es indirekt getan, indem er Tragödien von Aischylos und Euripides verglich, die Mittel und Verfahren formulierte, mit denen sie bei den Zuschauern Mitleid und Mitgefühl auslösen, sowie die Auswahl und Darstellungsweise der Gestalten und Schicksale in diesen Tragödien. Es ist indessen klar, daß die Äußerungen über die Dramentechnik von Euripides und Aischylos gleichzeitig Autoreflexionen über Aristophanes’ eigenes Werk sind, spezifische »Hinweise«, wie die Komödie, in die sie integriert sind, gelesen werden sollte. Ich glaube, daran hat sich seit jener Zeit bis heute, seit Aristophanes bis, sagen wir, Milan Kundera, nichts Wesentliches geändert: Immer sind in ein fiktionales Werk eingeschriebene poetologische Reflexionen gleichzeitig Autoreflexionen über das Werk selbst, sozusagen das »Bewußtsein seiner selbst« des betreffenden literarischen Werkes, Hinweise oder zumindest Vorschläge für seine Lektüre. Das ist im übrigen notwendig, schon Empedokles hat uns darauf aufmerksam gemacht, daß der Mensch in der Welt nur das sieht und wiedererkennt, was er in sich trägt, daher ist der Blick ein Symbol des Selbstverständnisses, das darauf verweist, daß der Betrachtende sich selbst deutet. Lang ist die Reihe der literarischen Werke, die sich mittels einer eingeschriebenen Poetik oder poetologischer Fragmente selbst reflektieren und deuten, und sie erstreckt sich von der Antike bis in unsere Tage, von Aristophanes bis Somerset Maugham und Milan Kundera. Und wie könnte es auch anders sein, wenn Literatur Kunst und Kunst ein sich seiner selbst bewußtes Gewerbe, eine professionelle Tätigkeit mit Technik und Theoriekompetenz ist, fähig, sich selbst zu reflektieren und einigermaßen zu erklären? Nicht so lang, aber beeindruckend ist die Reihe von Formen, in denen diese poetologischen, autoreflexiven Fragmente in den verschiedenen Werken vorkommen. Sie reicht von einer indirekt formulierten Poetik über beiläufige Bemerkungen zum Schreiben und zur Kunst überhaupt bis hin zu einer systematisch dargelegten und philosophisch begründeten Poetik, zum Beispiel in Ein Porträt des Künstlers als junger Mann von James Joyce. In meiner Erfahrung als Leser ist jedoch das Beispiel, das der Roman Stefan Rott oder Das Jahr der Entscheidung von Max Brod bietet, einzigartig. Die Autoreflexion in diesem Roman ist äußerst fokussiert, konzentriert auf ein Bild bzw. einen Begriff, ausgedrückt in einem Wort. Ich erinnere mich nicht, in welchem Essay T. S. Eliot den Begriff des objektiven Korrelats verwendet und gesagt hat, daß das literarische Werk ein Bild erschaffen muß, das die Erfahrung, auf der das Werk basiert, objektiviert, so daß sich in diesem Bild, als objektivem Korrelat, das Werk und der Leser treffen, weil es, dieses Bild, indem es die Erfahrung, auf der das Werk basiert, objektiviert, dem Leser ermöglicht, in seiner Erinnerung eine ähnliche Erfahrung zu finden oder diese im Werk geäußerte zu erleben. Ohne das ist die Kommunikation des Lesers mit dem Werk nicht ästhetisch, Kunst setzt eine Kommunikation voraus, die Verstand und Emotion, körperliche Empfindung und Intuition einschließt, weil das künstlerische Erleben alle Elemente des menschlichen Wesens einschließt, wie es die unmittelbare Erfahrung tut. Und ein solches Erleben, schrieb Eliot, wird gerade durch das objektive Korrelat ermöglicht. Eliots Begriff kam mir schon beim Lesen dieses Romans von Brod in den Sinn, weil der ganze Roman mit einer wahrhaftigen technischen Meisterschaft auf einen Begriff fokussiert ist, der gerade als objektives Korrelat funktioniert, als Bild, in dem sich der Leser mit dem Werk treffen und es erleben kann. Gemeint ist der Begriff »Atopon«. Er taucht im fünften Kapitel, »Die Philosophie der schönen Stellen«, auf, das in Gänze dem Innenleben des zentralen Helden gewidmet ist. In diesem Kapitel treffen und verflechten sich Erinnerungen und Fragen, Erfahrungen mit der Musik und philosophische Interessen, das emotionale und intellektuelle Erwachsenwerden von Stefan Rott. Gerade in diesem Kapitel wird, keineswegs zufällig, seine verstorbene Mutter in den Erzählgang eingeführt, werden ihr Charakter und Schicksal skizziert, werden die Erinnerungen des Helden an sie relativ erschöpfend evoziert, besonders die Erinnerung an ihr Musizieren, das natürlich durch seine Überlegungen über Wagner und seine eigenen Erfahrungen mit der Musik kommentiert wird. In diesem Kapitel, sage ich, das ganz dem Innenleben des Helden gewidmet ist, taucht in unmittelbarer Verbindung mit seiner Mutter, seinem Vater und der Musik das Wort »Atopon« auf: »Nun sprühen bürstende Klänge des kleinen Instruments, Ariston genannt. Das ist die Gestalt der Mutter. Sie tritt dem lieben sanften Vater entgegen, dessen Nietzsche-Ähnlichkeit den Griechen wie des Sokrates Silenen-Äußeres als ein ›Atopon‹ erschienen wäre, ein seltsam peinliches ›Fehl-am-Ort‹. Die Mutter aber kam vielleicht wirklich aus Nietzsches Sturmwindzone. Alles, was Stefan von ihr wußte, war, daß sie in ewiger Aufregung gelebt hatte.« Atopia ist im altgriechischen Wörterbuch Ungewöhnlichkeit, Sonderbarkeit, Widersprüchlichkeit und dann als Ableitung daraus Häßlichkeit, Verunstaltung. Atopos ist »nicht an seinem Platz«, daher auch »ungewöhnlich, seltsam, unpassend«. Der Roman lehrt uns, daß Sokrates ein Atopon war, ich denke, in Platons Gastmahl wird er auch so genannt, weil sein Silenen-Äußeres in keiner Weise mit seinem inneren Wesen, dem eines weisen und zurückhaltenden Menschen, übereinstimmt, der geradezu asketisch lebt. In einem Atemzug bezeichnet Brods Erzähler Sokrates und den Vater von Stefan Rott, der die Sanftheit selbst ist, aber aussieht wie Nietzsche, als ein Atopon. Die totale Unstimmigkeit von Äußerem und Innerem, die äußerste Widersprüchlichkeit zwischen dem Sichtbaren und Phänomenalen einerseits und dem Unsichtbaren und Wesentlichen andererseits, determiniert auch den Vater des Helden, der erscheint (aussieht) wie die Auflehnung selbst, aber im Kern im vorhinein allem zugestimmt hat. Im Roman wird nicht gesagt, aber gezeigt, daß buchstäblich alles ein Atopon ist, was in seiner Welt überhaupt auftaucht. Ein Atopon ist die erste Liebe von Stefan Rott, Frau Phyllis, und zwar in mehrfacher Hinsicht. Das gesellschaftliche Bild ihrer Person, also alles, was man in der besseren Prager Gesellschaft über sie hören und erfahren kann, stimmt überhaupt nicht mit den Tatsachen ihrer Biographie und dem, was man von ihr selbst hören kann, überein. Ganz ähnlich steht das Bild von ihrem Wesen, das auf der Sicht von außen und aus der Ferne basiert, in totalem Gegensatz zu dem Bild, das man gewinnt, wenn man Frau Phyllis etwas näher kennenlernt. Die Phyllis, die der verliebte Stefan Rott am Anfang ihrer Beziehung kennengelernt hat, ähnelt der Phyllis, die er im Kapitel »Gartenfest« kennenlernen konnte, wenig oder gar nicht. Wie eine Figur in einem Kaleidoskop verändert sich diese Gestalt unaufhörlich, eine Reihe von Informationen stellt sich als falsch heraus und muß durch eine andere Reihe von Informationen ersetzt werden, die sich in der Zukunft womöglich als genauso falsch erweisen wird, so wie ein Eindruck von ihrem Charakter fast bei jeder neuen Begegnung durch einen anderen Eindruck ersetzt werden muß, der sich als genauso vorübergehend erweisen wird. Als wäre sie nur ein Spiegel, in dem sich der, vor dem sie steht, oder das, worauf ihr Blick gerade ruht, spiegelt. Ein Atopon ist auch Stefan Rott selbst, der zentrale Held des Romans, der sich in ein Liebesabenteuer mit der Mutter seines besten Freundes einläßt, obwohl er die Ethik, die Moral, die Ehrlichkeit, die Treue und andere Tugenden, die er annehmen und in sich entwickeln möchte, ernst nimmt. Und auch der Freund Anton sowie die Revolutionäre und Anarchisten, mit denen er Stefan bekannt macht, stellen sich als Leute heraus, die »fehl-am-Ort« sind. Sie exekutieren einen Verräter, den sie entlarvt haben, auf eine Weise, die nicht im geringsten im Einklang mit den Idealen, für die sie sich einsetzen, und den proklamierten Zielen ihres Kampfes steht. (Die Freunde des anekdotischen Erzählens könnten sich an den Seiten erbauen, die von den geheimen und halbgeheimen Zirkeln im damaligen Prag handeln. In diesen Kreisen tauchen, unter anderen, Franz Kafka und Jaroslav Hašek auf, ersterer natürlich schweigsam und sehr bemüht, unsichtbar zu sein, und Hašek natürlich laut und bereit, sich in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit zu drängen.) An Stefans Erwachsenwerden hat der Religionslehrer Professor Werder viel aktiver mitgewirkt als Stefans Vater, dessen Rolle sich im Roman fast darauf reduziert, daß er gutmütig alles billigt und akzeptiert. Und auch der Professor ist, wie sich zeigen wird, fehl am...