Mein Lebensweg mit Gott und Menschen
E-Book, Deutsch, 256 Seiten
ISBN: 978-3-7751-7629-3
Verlag: Hänssler
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Sarah Brendel (Jg. 1976) lebt mit ihrem Mann und ihren zwei Kindern bei Dresden, nahe der Sächsischen Schweiz, in der Künstlerkommunität »Schloss Röhrsdorf«. Sie ist Musikerin, veröffentlichte mehrere Alben und spielte Hunderte Konzerte im In- und Ausland. Mit Freunden gründete sie den »Refugeeum e. V.« für Menschen auf der Flucht und engagiert sich für die Menschenrechtsorganisation »IJM«. Neben vielen Projekten genießt sie vor allem das Familienleben, Spaziergänge, Kochen, Schallplatten und Gartenarbeit.
Autoren/Hrsg.
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KAPITEL I
»Ich wohne in der Möglichkeit – Ein fensterreiches Haus – viel heller als die Wirklichkeit Mit Türen – ein und aus –«
– Emily Dickinson6
DAS WUNDER MEINER KINDHEIT
Als ich noch ein kleines Kind war, verfielen meine Eltern starker Drogensucht. Beide kamen ins Gefängnis und ich kam in ein Heim und dann in eine Pflegefamilie. Nach vier Jahren holten mich meine Eltern zurück nach Hause. Sie waren frei von Drogen und ihr Herz war voller Leben. Hier beginnt meine Geschichte.
Ich erinnere mich an viele wilde Gestalten, die barfuß durch unseren Garten liefen, der weitab vom Lärm der Straßen in einem kleinen, unscheinbaren Dorf lag. Als ich diesen Ort zum ersten Mal betrat, war ich vier Jahre alt. Vorher hatte ich in einem hohen Haus im obersten Stockwerk mitten in der Stadt gewohnt und davor in einem Kinderheim. An beide Orte erinnere ich mich nur grau.
Der erste Blick durch das hölzerne Tor zum Garten zeigte eine blühende Farbenlandschaft aus sanften hellblauen Tupfern von Kornblumen und Wiesenklee in Strichen aus Altrosa. Ich blickte auf eine Wiese aus dichtem grünem Gras mit langen Halmen, die den vom Wind zerzausten Pusteblumen Rückendeckung gaben. Und ich verguckte mich in einen Klatschmohn, dessen Rot so schön wie der Umhang eines Prinzen war. Ich nahm alles auf, was ich weit und breit sehen konnte, auch den Geruch der Kirschblüten und Azaleen. Meine Fantasie begann Purzelbäume zu schlagen und war genauso blühend wie das endlose Blumenfeld, das sich mir erstreckt hatte.
Jahre sind seither ins Land gegangen. Ich wünschte, wir könnten gemeinsam unter dem Kirschbaum am Tor sitzen, dort, wo ich die Welt durch Kinderaugen sah.
Ein Freund meiner Eltern kam am Tag meiner Heimkehr zu Besuch. Später erzählte er mir, dass ich vor lauter Glück zu ihm gesagt hätte: »Jesus kommt bald wieder!« Dieser Jauchzer entzückte den Freund meiner Eltern so sehr, dass er, inspiriert davon, später Pastor wurde.
Seit jener Zeit sind Gärten meine Lieblingsorte. Hier fällt alles von mir ab. Gärten sind Friedensorte. Der alte Kirschbaum am Holztor, in dessen kraftvollen Ästen ich Stunden verbrachte, zeigte mir einen neuen Blick auf die Welt, in der ich jetzt lebte. Von hier oben beobachtete ich die Menschen, die bei uns ein und aus gingen: den kleinen rothaarigen Felix, der mein Freund wurde und später spurlos verschwand, den Schuster Lederpeter, der mir meine erste Schultasche nähte, meine hochgewachsene Tante mit den langen, rotleuchtenden Haaren, die ich heimlich bewunderte, und die dunkle Luise mit ihrem Pagenkopf und altmodischer Kleidung, in ständiger Begleitung eines Kinderwagens. Ich denke an Thomas den Großen, der mich wie kaum ein anderer zum Lachen brachte, und an Peter, meinen liebsten Spielkameraden – wie Michel aus Lönneberga sah er aus. Ein Junge vom Hof mit einem verschmitzten Lächeln, immer für jedes Abenteuer bereit.
Viele faszinierende Persönlichkeiten gingen bei uns ein und aus – kunterbunte Originale, einzigartige Menschen auf dem Weg zum Leben.
DIE MUNDHARMONIKA
Meine Erzählungen beginnen weit vor meiner Geburt mit der Geschichte meiner Eltern und Großeltern. In ihrem Feinkostenladen »Zum Schinkenstüble« tanzte meine Oma Lieselotte unbändig auf dem Tisch, wenn die Amerikaner zum Essen vorbeikamen, und spielte dabei flott die Mundharmonika. Ich denke, es war eine Art Befreiungsakt für sie, nach all dem, was sie und mein Opa während des Krieges erlebt hatten. Trotz harter Jahre waren der Lebensmut und die Freude meiner Oma nicht gewichen. Sie legte den Boden für die musikalischen Talente in unserer Familie. Es war in der Zeit, als mein Papa auf die Welt kam – Anfang der 50er-Jahre. Mein Papa sang in jungen Jahren in einer Bluesband. Ich glaube, er spielte dabei auf derselben volkstümlichen Mundharmonika, die meine Oma auf dem Ladentisch zum Besten gegeben hatte.
Irgendwann entdeckte ich beim Aufräumen eine verstaubte Kiste, in der eine kleine Schachtel lag. »The Echo Harp« stand in handgeschriebenen Buchstaben auf der Verpackung, in der das silberglänzende Instrument wie auf einer grünen Aue im Samt lag. Ich betrachtete die darauf gezeichnete Kulisse von allen Seiten, die Felsenberge und einen Wasserfall, der aus dem Stein von den Gipfeln bis hinunter zum Fuße des Berges floss. Zwischen dicht bewachsenen Tannen schlängelte sich sein Weg zu einer urgemütlichen Berghütte, aus deren Schornstein der Qualm mit den Wolken wehte. Der Weg zur Hütte ging steil bergauf und war rechts und links von Feldsteinen gesäumt.
Dieses kleine Instrument, in das man seinen Atem bläst, war das erste, das mich neugierig aufs Musizieren machte. Viel mehr als die Blockflöte, die ich lernen musste.
KÜNSTLERELTERN
Lange bevor meine Eltern sich kennenlernten und eine Familie gründeten, und lange bevor sie aufs Land zogen, war ihr Weg anders verlaufen. Im Schatten der Nachkriegszeit, auf der Suche nach einem Neuanfang, fanden sie in Künstlerkreisen in Hamburg und Hannover Gleichgesinnte.
»Wahrscheinlich suchte ich das, wovon ich in ›Unterwegs‹ gelesen hatte, die Großstadt, ihr Tempo und ihre Geräusche, das, was Allen Ginsberg ›die Welt der Wasserstoff-Jukebox‹ genannt hatte.«
– Bob Dylan7
Diesen Satz von Bob Dylan könnte mein Papa gesagt haben, denn er war genauso beseelt von dem Wunsch, eine neue Welt hinter der eigentlichen Welt zu entdecken. Die Generation meiner Eltern war eine traumatisierte Jugend, die mit den Nachwehen und starker Orientierungslosigkeit aufwuchs, die der Krieg hinterlassen hatte. In den meisten Häusern gab es wenig Raum für freies Denken und Hinterfragen. So prosperierten immer mehr junge Kommunen, die sich in leerstehenden Häusern zusammenfanden, um zu philosophieren, zu schreiben und Neues auszuprobieren – auch Drogen. Der Hunger nach Aufbruch und linderndem Balsam für einen kollektiven Schmerz schien unstillbar.
In den 1960er-Jahren gab es viele Aufstände gegen die politischen Geschehnisse: der Kalte Krieg, der Tod John F. Kennedys, Martin Luther King Jr. wurde erschossen, der Krieg in Vietnam, die Kubakrise und Robert Kennedy wurde ebenfalls umgebracht. Junge Leute zettelten Proteste für mehr Freiheit in Kunst und Kultur an und verschafften sich Gehör mit Musik. Die Rolling Stones benannten sich nach dem Lied »Rollin’ Stone« des schwarzen Blues-Musikers Muddy Waters. Und der Stein kam wirklich ins Rollen.
Meine Eltern erzählten mir, wie sich Anfang der 60er-Jahre wochenweise Radio- und Zeitungsnachrichten überschlugen, weil Bands wie die Beatles plötzlich in aller Munde waren. In England gab es Massenaufläufe von Heranwachsenden. Hysterische Kids strömten in überfüllte Stadien. Busse und Bahnen waren zeitweise stillgelegt, weil überall Jugendliche die Straßen besetzten. Auch in Amerika war die Beatlemania bald in vollem Gange. Die Beatmusik löste den Rock ’n’ Roll ab und pustete frischen Wind in die staubigen Häuser des Spießertums und Wohlstands.
»Grown up wrong«, sangen die jungen Stones im Frühjahr 1964. Blumenkinder tummelten sich in den Parks und belebten die Plätze. Veränderung lag in der Luft.
Unterwegs in ihren jeweiligen Städten, verschmolzen meine Eltern mehr und mehr mit der Künstlerszene der goldenen 60er.
Mein Papa las gerne, zeichnete, schrieb kleine Aufsätze und Reisetagebücher auf seiner ersten großen Fahrt nach London. Von seinem Taschengeld kaufte er sich seine erste Schallplattensammlung. The Velvet Underground & Nico, die Beatles und die Small Faces hatten seine ungeteilte Aufmerksamkeit. Er besuchte ihre Konzerte. Sogar Jimi Hendrix sah er einige Jahre später bei einem seiner letzten Liveauftritte.
Es gab eine Eckkneipe in Hamburg, die vor allem Kunst- und Musikliebhaberinnen sammelte. Dort tauschte man die neusten Errungenschaften aus – zunächst Platten und Bücher, später auch Drogen. Hier verbrachte mein Papa neben seinem Kunststudium viel Zeit.
Meine Mutter lebte in Hannover ein ähnliches Leben. Sie schrieb, vorwiegend Gedichte, die lyrisch von solch besonderer Stimmung waren, dass sie bald entdeckt und zu Lesungen in der ganzen Stadt eingeladen wurde. Zudem hatte sie ein ausgeprägtes Interesse für Malerei und Schauspiel.
AUSGETRETENER PFAD
»It was a dark and stormy night.«
– Snoopy8
Es war Anfang der 70er-Jahre. Meine Eltern begegneten sich das erste Mal im Warteraum einer Suchtklinik. Beide hatten nach jahrelangem Drogenkonsum die ihnen sich letztmöglich erscheinende Gelegenheit beim Schopf ergriffen und sich in eine mehrwöchige Therapie begeben. Während ihres Aufenthaltes fanden sie in philosophischen Tag- und Nachtgesprächen zueinander. An meinem Papa war ein Schriftsteller verloren gegangen. Er verwob meine Mama in seine abenteuerreichen Erzählungen und eroberte sie auf lyrischen Pfaden.
In den ersten Monaten gelang es ihnen, das Alte hinter sich zu lassen und über eine neue Brücke in die Zukunft zu gehen. Mit dem Wunsch und der Hoffnung auf ein gemeinsames, heiles Leben zeugten sie mich, in einer sternklaren Nacht.
Doch schon wenige Monate nach meiner Geburt klopfte ein alter Dealer-Kumpane an ihre Tür und zog sie zurück in vergilbte Gewässer, aus deren Schlamm sie sich nicht mehr allein befreien konnten. Immer tiefer drifteten sie zurück in die Drogensucht, die sie schließlich wegen waghalsiger Geschäfte ins Gefängnis und mich in die Arme meiner Großmutter brachte. Ich war noch kein Jahr alt. Obwohl mein Opa aus Hamburg immer wieder Geld für mich schickte, konnte meine Großmutter mich nicht mit...