E-Book, Deutsch, 368 Seiten
Bremer Träume und Kulissen
1. Auflage 2021
ISBN: 978-3-99027-183-4
Verlag: Jung u. Jung
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Roman
E-Book, Deutsch, 368 Seiten
ISBN: 978-3-99027-183-4
Verlag: Jung u. Jung
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Alida Bremer, geboren 1959 in Split, lebt seit 1986 in Deutschland. Studium der Vergleichenden Literaturwissenschaft, Romanistik, Slawistik und Germanistik in Belgrad, Rom, Münster und Saarbrücken. Autorin, Übersetzerin, Herausgeberin und Kulturvermittlerin zwischen Südosteuropa und dem deutschsprachigen Raum.
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2.
Eine grau umrissene Gestalt klopfte an die Tür einer im dritten Stock gelegenen Wohnung in der Ban Mladenova Nr. 5. Es regte sich nichts. Warum sollte es auch, es war kurz vor fünf, eine Uhrzeit, zu der im Sommer sogar Schlafwandler, demente Alte und chronisch Kranke in den Schlaf finden. Der Klopfende verlagerte sein Gewicht von einem Bein auf das andere und begann, lauter zu klopfen. Irgendwann trommelte er recht kräftig gegen die Holztür, doch noch immer bewegte sich in der Wohnung nichts. Er fasste Mut und schlug mit voller Wucht in ziemlich kurzen Abständen fünf, sechs Mal hintereinander zu. Eine Tür in der zweiten Etage öffnete sich, und eine verschlafene Stimme fragte von unten: »Wer ist da?«
Der Gesuchte war Kriminalkommissar Mario Bulat, dem der Polizeilehrling, nachdem er ein Stockwerk tiefer gestiegen war, mitteilte, dass im Keller des Polizeigebäudes seit einer halben Stunde eine Leiche liege, die jemand dorthin gebracht habe. Man habe außerdem nach Doktor Radman geschickt, mehr könne er nicht sagen, und er werde jetzt, wenn der Herr Kommissar erlaube, wieder zurückgehen. Mario Bulat sammelte seine Kleidung zusammen und schlich aus dem Zimmer, in dem seine Nachbarin Irena Ugrin gleichmäßig atmete, um sich in der Küche anzuziehen. Der Lehrling hatte verstört auf seine Unterhose gestarrt, als ob es unanständig wäre, wenn man im Sommer ohne Schlafanzug schlief. Im Badezimmer ließ er etwas Minzöl in ein Glas Wasser tropfen, gurgelte ausgiebig, strich sich mit den Fingern durch das Haar und spritzte sich etwas Wasser ins Gesicht.
Der Tod seiner Frau hatte Mario ratlos zurückgelassen und wenige Wochen nach der Beerdigung in Irenas Arme getrieben. Sie hatte eine Schüssel mit frittierten Sardellen in einer Marinade aus Zwiebeln, Kapern, Olivenöl und Zitrone mitgebracht und gefragt: »Haben Sie Brot im Haus?« Zum Glück hatte er Brot, das sie später in die Marinade tunkten, während ihm Irena Rilke vorlas. Ein bestimmtes Gedicht müsse er unbedingt hören, hatte sie gesagt. Es handelte von Orpheus, der über den Tod seiner Frau so betrübt war, dass die Götter ihm erlaubten, sie aus dem Reich der Toten zurückzuholen. Auf dem Weg zurück ins Leben drehte er sich voller Ungeduld um, während Hermes mit seiner toten Frau Eurydike leise hinter ihm herschlich. Das war gegen die Absprache, und seine Frau, »diese So-geliebte«, versank deshalb für immer in die Ewigkeit des Jenseits. Am traurigsten fand Mario, dass die Tote nicht mehr gewusst hatte, wer der Mann war, der vor ihr herging und sich zu ihr umgedreht hatte. Ihre Schritte, so hieß es im Gedicht, waren »von langen Leichenbändern beschränkt«.
Jetzt wartete eine Leiche im Polizeigebäude auf ihn. Ohne einen Anhaltspunkt zu haben, tippte Mario Bulat, während er durch die leeren Straßen schritt, auf Politik. In den letzten Wochen herrschte im Hauptgebäude der Spliter Polizei einige Unruhe. Die Kriminalpolizei war davon nicht betroffen, aber man kam nicht umhin, bei der Politischen Polizei eine ungewöhnliche Betriebsamkeit zu bemerken. Agenten gingen ein und aus, einige waren aus der Hauptstadt angereist, um die lokalen Kräfte zu verstärken. Bulat ließ die Tür seines Büros häufig offen, da es in dem Gebäude unangenehm warm werden konnte, und so stolperten gelegentlich Männer, die er nicht kannte, zu ihm herein, entschuldigten sich und verschwanden wieder.
An Spitzel war man in Split gewohnt. Seit Beginn des Jahrhunderts tummelten sich Österreicher, Ungarn, Türken, Bulgaren, Rumänen, Ukrainer, Albaner, Italiener, Franzosen, Serben, Russen, Griechen, Deutsche, Tschechen, Polen, Briten und sogar Amerikaner in der Stadt. Alle unterhielten ihre Netze von Schnüfflern, die an die jeweiligen Auftraggeber in ihren Ländern berichteten – man fragte sich bloß, was? Das jugoslawische Königreich wirkte bisweilen wie ein Umschlagplatz, auf dem keine Handelswaren, sondern politische Ideen, nationale Spinnereien, Abenteurer, Agenten und Flüchtlinge verladen wurden.
Mario Bulat hatte bis zum Ausbruch des Großen Krieges unter den Österreichern gedient. Im Krieg musste er für sie kämpfen, ohne dass er je verstand, warum, nach 1918 war alles anders. Plötzlich hieß es, ausgerechnet jenen zu dienen, die die alte Monarchie gestürzt hatten.
Der amtierende Polizeipräsident war in seiner Treue zum jugoslawischen Königreich eine Spur zu eifrig. Er trauerte der Diktatur nach, die zwischen 1929 und 1934 das Land in eiserner Umklammerung gehalten hatte – bis der König im Hafen von Marseille ermordet worden war. Seine letzten Worte hatten angeblich gelautet: »Achtet auf mein Jugoslawien.«
Die internationale Presse hatte das Attentat auf Aleksandar I Karadordevic als ein schlechtes Zeichen für den Frieden in Europa gedeutet. Hatte der Große Krieg nicht mit einem Attentat auf dem Balkan begonnen? In Berlin hielten sich die offiziellen Stellen mit Äußerungen zurück. In London und Paris wurde man sich schnell einig: Das Verhalten der Balkanstämme bedeute nichts für den Rest Europas, mögen sie sich dort unten die Köpfe einschlagen, wie sie wollten. Doktor Radman war da anderer Meinung: »Der Balkan wird als rückständig betrachtet, dabei sind wir die Avantgarde. Wo wir einmal waren, kommen die anderen erst hin.« Aber Doktor Radman sagte häufig unverständliche Dinge, über die es sich nicht zu streiten lohnte.
Mit der Zahl der Anhänger des gemeinsamen Staates Jugoslawien wuchs in Split auch die Zahl seiner Gegner, was nicht selten zu Schlägereien in den Kaffeehäusern führte. Den Polizeipräsidenten schien das weniger zu beunruhigen als die kommunistische Gefahr. König Aleksandar I Karadordevic war nicht von Kommunisten, sondern von Nationalisten getötet worden, aber dieses Argument überzeugte den Polizeipräsidenten nicht. Seine letzte Weisung an alle Abteilungen verlangte, die Aktivitäten der zugereisten Kommunisten aus dem Deutschen Reich zu überwachen. Mario Bulat hoffte, dass der Tote nicht einer von ihnen war oder irgendetwas mit ihnen zu tun hatte. Angeblich tummelten sie sich in großer Zahl in der Stadt. Sie waren dem Regime in ihrem Land entflohen, aber sie hatten sich das falsche Land ausgesucht, denn hier waren sie nicht willkommen.
Doktor Radman stand mit dem Rücken zum Eingang, tief über den Steintisch gebeugt. In dem Kellerraum war es angenehm kühl, aber es roch nach Blut und Tod.
»Drei Stiche in die Brust«, sagte der Arzt statt einer Begrüßung.
»Darko Baric!« Mario Bulat war nähergetreten und zeigte sich erschüttert.
»Schönes Gesicht, makelloser Körper. Das Schicksal macht nicht Halt vor den Anständigen. «, sagte der Arzt. »Einen jeden ereilt sein Tag.«
Der Doktor arbeitete im Städtischen Krankenhaus, das nur ein Park vom Polizeihauptgebäude trennte. Er hatte in Wien Medizin studiert und war als junger Arzt zurück nach Split gekommen. Nachdem er im Großen Krieg als Gefangener in einem britischen Lazarett gelegen hatte, wo er sich später, als die Briten begriffen, dass er Mediziner war, fortbilden durfte, wurde er zu einem Arzt für alle Fälle. Er operierte und entband, säuberte Wunden und legte Schienen an, sezierte Tote und verteilte Kräuter, die er auf den Pfaden in den umliegenden Bergen pflückte. Für die lokale Zeitung schrieb er ab und zu Artikel, die mit Zitaten aus der Weltliteratur und lateinischen Maximen gespickt waren. »Latein sollte die zweite Muttersprache aller Europäer sein!« Er trug maßgeschneiderte Hemden und dazu stets eine gepunktete Seidenschleife um den Kragen; nicht einmal zu Hause traf man ihn ohne sein an.
Es gab Dinge, die nie ausgesprochen wurden, über die jedoch alle in der Stadt Bescheid wussten. Die alten Steine flüsterten sie den Schlafenden nachts in die Ohren, und manchmal verselbstständigte sich das Geplapper. Ein Gerücht besagte, dass Doktor Radman und der Apotheker Petrinelli nicht nur Nachbarn und Vertreter zweier sich ergänzender Berufe waren, sondern auch etwas miteinander hatten. Heilige Mutter Gottes! Dass es Männer mit Männern trieben, wusste man seit jeher. Angeblich praktizierten bereits die alten Griechen, die einst in dieser Gegend waren, derartige Schweinereien, von den römischen Soldaten des Diokletian ganz zu schweigen. Und dennoch war so etwas immer aufs Neue unfassbar, garstig und ekelhaft. Vor allem deshalb, weil man sich als anständiger Mensch all das bildhaft vorstellen musste. Denn nirgends konnte man davon etwas sehen, und mit niemandem konnte man darüber sprechen. Dass es sich in diesem Fall um zwei Männer von großer Bedeutung für die Volksgesundheit handelte, machte die Sache nur noch pikanter. In der Stadt gab es wenige Ärzte und noch weniger Apotheker.
»Der Mann ist vor vier bis acht Stunden gestorben«, sagte Doktor Radman.
»Stjepan, wann ist der Tote hier angekommen?«
»Ziemlich genau um...