Brandstetter | Lebenszeichen | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 224 Seiten

Brandstetter Lebenszeichen


1. Auflage 2018
ISBN: 978-3-7017-4582-1
Verlag: Residenz
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

E-Book, Deutsch, 224 Seiten

ISBN: 978-3-7017-4582-1
Verlag: Residenz
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Ein Lebenszeichen ist nach der Definition des Duden ein "Anzeichen oder Beweis dafür, dass jemand (noch) lebt. Herzschlag und Atem sind die wichtigsten Lebenszeichen." Alois Brandstetter Von Adalbert Stifter bis zum Plastikdübel, von Sebastian Brants "Narrenschiff" bis zur Alarmanlage, die sich die Gattin des Autors zu Weihnachten wünscht, von heiligen Reliquien bis zu unheiligen Frömmlern: Alois Brandstetter widmet sich gleichermaßen neugierig, scharfsichtig und ironisch den Details des Alltags und den großen Fragen des Lebens. Begegnungen mit seltsamen Zeitgenossen oder zeitgeistigen Begriffen werden zum Anlass für Überlegungen voller Wissen und Lebensklugheit. Die "Lebensbescheinigung", die Brandstetter dem deutschen Renten Service jährlich abliefern muss, inspiriert ihn zu einem der kräftigsten und hintersinnigsten "Lebenszeichen" dieses wunderbar vergnüglichen Bandes.

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Lebenszeichen
Jahr für Jahr muß ich der Deutschen Post AG, Niederlassung Renten Service in Berlin, eine sogenannte Lebensbescheinigung (Life Certificate, Certificat de vie), bestätigt von einer österreichischen Behörde und von mir beglaubigt unterzeichnet, senden, damit ich weiterhin meine deutsche Rente überwiesen bekomme, die mir auf Grund meiner dreizehnjährigen Tätigkeit an der Universität des Saarlandes zusteht und für die ich, auch wenn sie nicht besonders hoch ist, Deutschland mein Leben lang dankbar war … Lebensbescheinigung, auch Lebensnachweis, lautet der amtliche Ausdruck für das, was man umgangssprachlich vielleicht Lebenszeichen nennt. Ein Beamter bestätigt, bekräftigt, bescheinigt und beglaubigt, daß sich der Bittsteller am und vor dem Schalter bewegt hat … Da ich eigentlich spät, aber doch, wie es sich gehört, ein Testament »errichtet« oder von einem Notar errichten habe lassen, und für den Fall der Fälle (Demenz, Alzheimer) auch die Frage der »Sachwalterschaft« geregelt habe, müßte dann wohl mein Sachwalter nach Deutschland mitteilen, daß ich, vielleicht beeinträchtigt, aber im Grunde »still alive« bin. Es besteht aber sicher nicht die Gefahr, daß mein als Sachwalter benannter Sohn der deutschen Behörde meinen Tod verschweigt, um weiterhin meine Pension zu kassieren, dafür haben wir ihn zu gut erzogen. Von Betrugsfällen dieser Art liest man freilich manchmal. Ein Lebenszeichen ist nach der Definition des Deutschen Universalwörterbuchs (Duden) ein »Anzeichen oder Beweis dafür, daß jemand (noch) lebt. Herzschlag und Atem sind die wichtigsten Lebenszeichen.« Und das erste Lebenszeichen des Neugeborenen ist bekanntlich der Schrei, ein unartikulierter, vielsagender Schrei, der Mutter und Hebamme beruhigt. Im »Deutschen Wortschatz« meines Saarbrücker Lehrers Hans Eggers ist zum Stichwort Lebenszeichen auf das Kapitel D, Geistesleben, verwiesen, und darunter auf Brief … Der Brief also als das Lebenszeichen schlechthin. »Von den Analphabeten wissen wir wenig. Sie schreiben uns keine Briefe …« Aus dem Internet erfahre ich zu meinem Erstaunen, daß ich diesen Satz im Zusammenhang mit den schlecht beleumundeten Galatern und dem Galaterbrief des Apostels Paulus in meinem Roman »Ein Vandale ist kein Hunne« erörtert habe. Ein alter Mensch darf sich auch einmal wiederholen. Aber Alter soll auch kein Freibrief für dauernde Wiederholungen sein. Bei den Stammtischen älterer Menschen gibt es freilich immer wieder Teilnehmer, die bald wöchentlich den gleichen, nein, denselben Witz zum besten geben, für den sie freilich immer wieder mit beifälligem Gelächter belohnt werden. Nicht nur die Erzähler, auch die Hörer sind vergeßlich. Die »Narratoren« fragen nicht lange: Kennt ihr den schon? Das lateinische Wort Narrator klingt, vom Deutschen her angesehen, wie ein Kompositum aus Narr und Tor … Die Sprachwissenschaft spricht bei Wörtern, die in einer anderen Sprache ähnlich klingen, aber anderes bedeuten, von »gegensinnigen« Wörtern. Das Standardbeispiel ist sicher das italienische caldo, das die Italienisch lernenden Deutschen gern als »kalt« mißverstehen, obwohl es bekanntlich im »Gegensinn« »heiß« bedeutet. Caldo und kalt sind »falsche Freunde«, wie es die Sprachwissenschaft nennt. Manchem »Narrator« (deutsch »Redhaus«) möchte man gern in Latein zurufen: Si tacuisses philosophus mansisses, frei übersetzt: Reden ist Silber (Blech), Schweigen ist Gold. Ich habe mir das selbst manchmal leider zu spät gesagt und hätte mich gern in die Zunge gebissen! Aus der Benediktinerregel, über die ich oft nachgedacht und sowohl im Roman »Die Abtei« als auch neuerdings für ein Internet-Projekt der Schweizer Abtei Disentis in Graubünden einiges geschrieben habe, könnte man gerade über die taciturnitas, das Schweigen, eine Menge lernen. Sie ist eine der mönchischen Kardinaltugenden. Viel vom Schweigen zu reden verstößt freilich auch gegen die taciturnitas … Die Verschwiegenheit kann eine Tugend sein, aber auch ein Laster … Oft wenn wir in Sitzungen des Universitätskollegiums auf die Schweigepflicht hingewiesen wurden, handelte es sich um eine nicht ganz »stubenreine« Materie. Und irgend jemand hat es dann doch einem befreundeten Journalisten unter dem Siegel der Verschwiegenheit erzählt und der hat es dann zur Unzeit publiziert und hinausposaunt. Es gibt keine Gremien ohne die sogenannten »undichten Stellen«. Es regt sich im Menschen immer und manchmal zur Unzeit die Sensationslust, auch die Lust, etwas Unerhörtes und oft auch Banales mitzuteilen. Auch Gerüchte werden auf diesem Weg ausgestreut … Es rühren sich die sogenannten »Lebensgeister« oft wie Quälgeister … Die Lebensgeister gehören nach Wehrle-Eggers in das Kapitel Gefühlsleben, im besonderen zu Gemütsart. Gleich in zweien meiner Wörterbücher steht der Beispielsatz: »Ein starker Kaffee erweckte seine Lebensgeister!« Im Deutschen Wörterbuch der Brüder Jacob und Wilhelm Grimm gibt es im übrigen sehr wohl den in neueren Wörterbüchern in Abrede gestellten Singular Lebensgeist. »Von allen guten Geistern verlassen« zu sein, ist bitter, für den oder die Betroffene, vor allem aber für seine oder ihre Mitmenschen. Schon gar, wenn es sich um Potentaten und Machthaber handelt, die mit Atomkriegen drohen und an deren Geisteszustand es berechtigte medizinische Zweifel gibt … Ein besonders wichtiges »Lebenszeichen« ist bei sich dem Ende zuneigenden Schriftstellerkarrieren (wie meiner …) der Leserbrief, wenn der lange epische Atem versagt – und die Lust am Recherchieren schwindet. Ist das Leserbriefschreiben unter der Würde eines zünftigen Schriftstellers? Der Leserbrief ist immerhin gelebte Demokratie! Julian Schutting hat freilich gemeint, daß Autoren, die ganz allgemein für Zeitungen zu schreiben beginnen, alsbald auch anfangen würden, die Bedeutung dieser Beiträge zu überschätzen. Die letzte »Publikation« Thomas Bernhards war ein Leserbrief an die Salzkammergut-Zeitung, ein Plädoyer für die Erhaltung der Gmundner Straßenbahn – sein letztes literarisches »Lebenszeichen«! Er hat ja auch sonst das Leserbriefeschreiben und das Verfassen »Offener Briefe« nicht gerade verschmäht … Die Initialzündung einiger seiner berühmten Skandale war ein explosiver »Offener Brief«. Und im Gegensatz zu Karl Ignaz Hennetmair, »Bernhards Eckermann«, bin ich der Meinung, er sei bei seinem letzten Brief an die Salzkammergut-Zeitung noch sehr wohl bei Verstand gewesen … In »Goethe schtirbt« schreibt Bernhard, die letzten Worte Goethes seien nicht »Mehr Licht!«, sondern »Mehr nicht!« gewesen. War Thomas Bernhards persönliches »Vermächtnis« also trotz allem nicht der pessimistische Hype der »Auslöschung«, auch nicht das schlußendliche Dementi alles von ihm Geschriebenen durch Goethe selbst, der sich bei Bernhard als »Vernichter des Deutschen« bezeichnet und als anachronistischer Wittgenstein-Verehrer (!) darstellt –, sondern das rührende Plädoyer für die Erhaltung der Gmundner Stern und Hafferl-Schmalspurbahn? Es heißt von Martin Luther, daß er gesagt haben soll: »Und wenn ich wüßte, daß morgen die Welt untergeht, so würde ich heute noch einen Apfelbaum pflanzen …« Im Vorgarten des Augustiner-Eremiten-Klosters in Erfurt, wo Luther von 1505 bis 1512 Mönch war, gibt es eine gigantische Eiche, die schon Jahrhunderte vor der Reformation gepflanzt worden ist, wenn nicht gar um Christi Geburt … Es ist ein Erlebnis, auf einen mächtigen Baum zu schauen, von dem man weiß, daß ihn schon Menschen vergangener Jahrhunderte angesehen und bewundert und sich in seinem Schatten wohlgefühlt haben. Als ich 60 Jahre alt geworden bin, hat meine Heimatgemeinde mir zur Ehre in der Nähe meines Vaterhauses eine Eiche gepflanzt, weil ich einmal in einer Erzählung das Schlägern vieler Eichen um Aichmühl in meiner Kindheit beklagt habe. Der Baum entwickelte sich in den 20 Jahren seither prächtig. Ach, könnte ich das auch von mir sagen! Bäume als Lebenszeichen … Der Baum blüht auf, der Pate verwelkt. Thomas Bernhard also, moribund und »todgeweiht«, kurz vor seiner Fahrt zum Salzburger Notar, um sich und sein Lebenswerk in einem Testament dem verhaßten Österreich ganz und gar zu »entziehen«, gibt ein letztes, versöhnliches Lebenszeichen an eine Lokalzeitung … Nicht lange nach diesem Lebenszeichen kam aus Gmunden die Todesnachricht. Franz Kafka hat kurz vor seinem Tod als Vierzigjähriger in seinem Testament um die Vernichtung seines Nachlasses gebeten, Max Brod hat sich das höchste Verdienst erworben, indem er Kafkas Letzten Willen nicht befolgt hat. Es gab und gibt mir immer zu denken, daß das Deutsche einmal...


Alois Brandstetter,geboren 1938 in Pichl (Oberösterreich), lehrte als Professor für Deutsche Philologie an der Universität Klagenfurt. Zahlreiche Auszeichnungen, u. a. Kulturpreis des Landes Oberösterreich 1980, Wilhelm-Raabe-Preis der Stadt Braunschweig 1984, Kulturpreis des Landes Kärnten 1991, Adalbert-Stifter-Preis und Großer Kulturpreis des Landes Oberösterreich (2005). Zuletzt erschienen: "Zur Entlastung der Briefträger" (2011), "Kummer ade!" (2013), "Aluigis Abbild" (2015) und zum 80. Geburstag "Lebenszeichen" (2018).



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