E-Book, Deutsch, Band 5, 416 Seiten
Reihe: Samurai (Ravensburger)
ISBN: 978-3-473-38477-8
Verlag: Ravensburger Verlag GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: Adobe DRM (»Systemvoraussetzungen)
Bevor Chris Bradford zu schreiben begann, arbeitete er als Berufsmusiker und Songwriter. Er trägt den Schwarzen Gürtel in Tai-jutsu, der geheimen Kampfkunst der Ninja, und beherrscht weitere asiatische Techniken wie Judo und Karate. Aus seiner Leidenschaft für die japanische Kultur entstand seine Abenteuer-Reihe 'Samurai'. Mit seiner Familie und den Katzen Tigger und Rabarber lebt er in einem kleinen Ort in den South Downs, England.
Weitere Infos & Material
2
Die Verhaftung Unsicher schwankte Jack aus dem Stall. Draußen gaben seine Beine unter ihm nach und er fiel in den Morast. Eine Weile ließ er nur das kalte Regenwasser über sein Gesicht rinnen und wartete, bis er genügend Kraft hatte, es noch mal zu versuchen. Der Stall grenzte an die Rückseite eines einfachen, einstöckigen Holzhauses mit einem Reetdach und Wänden aus Bambus. Das Haus hatte hinten eine Schiebetür. Jack fasste sie ins Auge, stand mühsam wieder auf, stolperte und fiel mehr oder weniger auf die Tür zu. Mit einem letzten Stolperschritt erreichte er sie und hielt sich erleichtert am Rahmen fest. Warum bin ich so schwach?, überlegte er, während er verschnaufte. Er schob die Tür auf und trat in die winzige Küche. Über einem Feuer kochte ein Topf mit Fisch-Nudelsuppe vor sich hin. Unmittelbar vor ihm befand sich eine zweite Tür mit einem in der Mitte geteilten Vorhang aus weißer Baumwolle. Er lugte durch den Spalt. Offenbar befand er sich in einem Teehaus am Rand der Straße. Der Boden war mit Strohmatten belegt und vor ihm stand ein Tresen mit grünem Tee und Reiswein. Dahinter kamen einige niedrige Holztischchen, ansonsten war der Raum unmöbliert. Nach einer Seite war er offen und nur durch einen großen Vorhang vor Wind und Wetter geschützt. Am anderen Ende des Raums sah Jack einen mit einer Schürze bekleideten älteren Mann stehen. Offenbar war das der Besitzer und Wirt. Er war klein, hatte dürre Beine und schütteres Haar und redete erregt auf einen Gast ein, der einen ziemlich heruntergekommenen Eindruck machte. Er trug einen einfachen schwarzen Kimono, verziert mit einem Familienwappen in Form einer weißen Kamelienblüte, hatte einen struppigen Bart, wirre schwarze Haare und blutunterlaufene Augen. Auf dem Boden neben ihm lagen ein breitkrempiger Strohhut und zwei schartige Schwerter – eines davon lang, das andere kürzer. Zwar handelte es sich nicht um Jacks Schwerter, aber er kannte die Bedeutung eines solchen Schwertpaares: Ihr Besitzer bekleidete den Rang eines Samurai. »Ihr müsst jetzt zahlen und gehen!«, sagte der Wirt entschieden zu dem Gast. Doch der Art nach zu schließen, wie er die Hände knetete, hatte er Angst vor dem Samurai. Zu Recht. Die Samurai waren die herrschende Klasse Japans und es konnte den Alten leicht den Kopf kosten, wenn er einem ihrer Vertreter nicht den gebührenden Respekt zollte. Der Samurai antwortete nicht und nahm nur verärgert einen Schluck aus seiner Tasse. »Ich rufe sonst die Polizei«, drohte der Wirt. Der Samurai murmelte undeutlich vor sich hin und knallte eine Münze auf den Tisch. »Das … reicht leider nicht«, sagte der Wirt mit aussetzender Stimme, denn sein Mut drohte ihn zu verlassen. »Ihr hattet seit gestern Abend drei Krüge Sake!« Schnaubend suchte der Samurai in den Ärmeln seines Kimonos nach Geld. Zwei weitere Münzen kamen zum Vorschein, aber sie fielen ihm aus der Hand und rollten über den Boden. Der Wirt sammelte sie hastig ein und wandte sich erneut an den Samurai. »Jetzt müsst Ihr gehen.« Der Samurai starrte ihn finster an. »Ich habe … für den Sake bezahlt«, lallte er und drückte einen Krug mit Reiswein an die Brust. »Und jetzt trinke ich ihn auch … und zwar bis auf den letzten Tropfen.« Der Wirt fügte sich nur ungern, aber der mörderische Blick in den Augen des Samurai hielt ihn davon ab, weiter auf seiner Forderung zu beharren. Unter Andeutung einer Verbeugung zog er sich zurück und beeilte sich, den einzigen anderen Gast des Teehauses, einen schnurrbärtigen Mann mittleren Alters, zu bedienen. Jack überlegte gerade, wie er den Wirt auf sich aufmerksam machen sollte, da hörte er jemanden erschrocken nach Luft schnappen. Ein Mädchen, kaum älter als vierzehn, war neben dem Tresen aufgetaucht und starrte ihn mit aufgerissenen Augen an. Sie hatte ein schmales Gesicht und schwarze, zu einem Knoten zusammengebundene Haare. In den zitternden Händen hielt sie ein Tablett mit klirrend wackelnden Teetassen. Jack fiel ein, dass er bestimmt einen furchtbaren Anblick bot, und versuchte sie mit einem Lächeln zu beruhigen. Sogar das tat ihm weh. Das Mädchen stellte das Tablett ab und hatte sich rasch wieder gefasst. Sie bedeutete Jack, einzutreten und sich an einen Tisch zu setzen. Jack zögerte, unschlüssig, ob der Samurai von seiner Anwesenheit erfahren sollte. Doch das Mädchen winkte ihm wieder, führte ihn zu einem Platz und verschwand in der Küche. Wegen des Samurai hätte Jack sich nicht zu sorgen brauchen. Er war so betrunken, dass er nicht einmal den Kopf hob. Der andere Gast dagegen blickte überrascht herüber, weniger wegen Jacks erbärmlichen Zustands als vielmehr wegen seines ausländischen Aussehens, der blonden Haare und blauen Augen. Doch mit dem für Japaner typischen Taktgefühl verbeugte er sich nur kurz und setzte sein Gespräch mit dem Wirt fort. Das Mädchen kehrte mit einer dampfenden Schale Nudelsuppe zurück, und obwohl ihm eben noch übel gewesen war, hatte Jack auf einmal furchtbaren Hunger. Er musste dringend etwas essen, um wieder zu Kräften zu kommen. »Arigato gozaimasu«, sagte er und dankte dem Mädchen mit einer Verbeugung. Sie starrte ihn mit offenem Mund an. »Du sprichst Japanisch?« Jack nickte. Das verdankte er seiner besten Freundin, Akiko. Nachdem es ihn nach Japan verschlagen hatte, hatte ihn zuerst der portugiesische Priester Pater Lucius im Japanischen unterrichtet. Er war allerdings schon bald nach Jacks Ankunft gestorben und Akiko hatte den Sprachunterricht fortgesetzt. Mit ihr hatte Jack stundenlang unter dem Kirschbaum im Garten von Akikos Mutter in Toba gesessen und die japanischen Sitten und Gebräuche kennengelernt. Auch wenn er sich nicht mehr an die letzten Tage erinnern konnte, einige Dinge würde er nie vergessen – darunter Akikos Freundschaft und Güte. Er blickte auf die Schale vor ihm auf dem Tisch. »Tut mir leid, ich habe kein Geld.« »Das macht nichts«, erwiderte das Mädchen und legte einen Holzlöffel daneben. »Danke.« Die Suppe roch köstlich und Jack lief das Wasser im Mund zusammen. Das Mädchen wandte sich zum Gehen, doch Jack hielt sie zurück. »Bitte … hast du mir den Wasserkrug hingestellt?« Das Mädchen lächelte scheu und nickte. »Das war sehr freundlich von dir. Vielleicht kannst du mir sagen, wo ich bin?« »In Kamo«, antwortete sie. Und auf sein verwirrtes Gesicht hin fügte sie hinzu: »Das ist ein Dorf am Ufer des Kizu, nicht weit von dem Städtchen Kizu entfernt.« »Bin ich noch im Iga-Gebirge?« »Nein, das liegt zwei Tagesmärsche von hier im Osten. Hier ist die Provinz Yamashiro.« Wenigstens wusste Jack jetzt, dass er auf dem Weg nach Hause ein gutes Stück vorangekommen war. »Hast du mich in diesem Zustand gefunden?«, fragte er und deutete auf seine Verletzungen. »Nein, mein Vater.« Das Mädchen sah zu dem Teehausbesitzer hinüber, der inzwischen hinter dem Tresen stand und Jack von dort beobachtete. Der Gast mit dem Schnurrbart war mittlerweile gegangen. »Das war gestern Morgen. Jemand, der dich offenbar für tot hielt, hat dich am Fluss liegen lassen.« Besorgt musterte sie Jacks geschwollenes Auge und die aufgeplatzte Lippe. »Mir fehlt nichts«, sagte Jack und machte ihr zuliebe ein tapferes Gesicht. »Weißt du, ob dein Vater auch meine Sachen gefunden hat?« Das Mädchen schüttelte bedauernd den Kopf. »Nur dich.« »Junko!«, rief ihr Vater streng. »Die Suppe kocht über.« Junko verbeugte sich vor Jack und lächelte. »Du hast Glück, dass du noch lebst.« Damit eilte sie in die Küche zurück. Ich lebe, stimmt, dachte Jack. Aber wie lange noch? Er besaß nichts mehr. Weder Geld, um etwas zu essen zu kaufen, noch seine Kleider oder die Verkleidung, mit der er seinen Verfolgern entkommen konnte. Er hatte keine Freunde, die ihm halfen, und keine Schwerter zu seiner Verteidigung. Und er konnte nicht erwarten, dass das Mädchen und sein Vater ihn länger als ein paar Tage verköstigen würden. Danach war er wieder auf sich gestellt. Er aß einen Löffel Suppe und zuckte zusammen, denn seine aufgeplatzte Lippe brannte. Doch das warme, nahrhafte Essen weckte seine Lebensgeister. Als er fertig war, fühlte er sich ein wenig besser und deutlich kräftiger. Wenn ich mich jetzt noch ein wenig ausruhe, dachte er, fällt mir vielleicht wieder ein, was passiert ist. Besonders schmerzte ihn, dass er den kostbaren Portolan seines Vaters verloren hatte. Nur mit diesem Logbuch ließen sich die Weltmeere sicher befahren, es war deshalb von unschätzbarem Wert. Überhaupt existierten nur wenige Logbücher einer vergleichbaren Genauigkeit und seine Bedeutung erschöpfte sich keineswegs in der Verwendung als Navigationsinstrument. Ein Land, das ein solches Logbuch besaß, konnte damit die Handelswege zwischen den Ländern und die Meere beherrschen. Sein Vater, der Steuermann der Alexandria, hatte ihm eingeschärft, dass es keinesfalls in falsche Hände fallen durfte, und Jack hatte es in den vergangenen drei Jahren unter Einsatz seines Lebens gegen alle Gefahren verteidigt. Einmal war es gestohlen worden und die Wiederbeschaffung war ihn teuer zu stehen gekommen. Sein guter Freund Yamato hatte sein Leben geopfert, es dem verbrecherischen Ninja Drachenauge abzunehmen. Und was immer diesmal passiert war, das Logbuch befand sich jetzt ganz bestimmt in falschen Händen. Die Frage war nur, in wessen. Der...