Roman
E-Book, Deutsch, 416 Seiten
ISBN: 978-3-641-03263-0
Verlag: Heyne
Format: EPUB
Kopierschutz: Adobe DRM (»Systemvoraussetzungen)
C. J. Box lebt in Cheyenne im amerikanischen Bundesstaat Wyoming. Er arbeitete als Rancher, Jagdaufseher und Journalist. Heute koordiniert er Tourismus-Programme in den Rocky Mountains. Für 'Stumme Zeugen' wurde er mit dem wichtigsten amerikanischen Krimipreis, dem Edgar Award, ausgezeichnet. Für seine Joe-Pickett-Romane gewann C.J. Box bereits den Anthony Award, den französischen Prix Calibre 38, den Macavity Award, den Gumshoe Award, den Barry Award, und wurde darüber hinaus für den Edgar Award und den L.A. Times Book Prize nominiert.
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1
Als ich am Samstag, dem 3. November, morgens mein Büro betrat, fiel mir sofort auf, dass der Anrufbeantworter blinkte. Am Vortag hatte ich spät Feierabend gemacht, folglich musste jemand danach noch meine Direktwahl benutzt haben. Seltsam. Ich heiße Jack McGuane. Damals war ich vierunddreißig. Melissa, meine Frau, war im gleichen Alter. Ich nehme an, Sie haben meinen Namen schon einmal gehört oder kennen mein Gesicht aus dem Fernsehen. Doch angesichts dessen, was auf dieser Welt alles geschieht, hätte ich Verständnis dafür, wenn ich ein Fremder für Sie wäre. Unsere individuellen Geschichten gehen unter im reißenden Strom der Ereignisse. Zu jener Zeit arbeitete ich als Tourismusfachmann beim Denver Metro Convention and Visitors Bureau, einer städtischen Einrichtung, deren Aufgabe es war, den Fremdenverkehr in Denver zu fördern und Kongresse in die Stadt zu holen. Darum bemüht sich jede größere Kommune. Ich arbeite hart, mache häufig Überstunden und komme notfalls auch samstags ins Büro. Für mich ist es wichtig, dass ich viel arbeite, selbst in einem bürokratischen Milieu, wo Fleiß nicht unbedingt ermutigt oder belohnt wird. Wie Sie sehen, bin ich weder der intelligenteste noch der gebildetste Mensch auf dieser Welt. Meine Herkunft empfiehlt mich nicht für den Job. Aber ich habe einen Trumpf im Ärmel – ich arbeite mehr als alle anderen in meiner Umgebung. Selbst dann, wenn ich nicht muss. Ich bin das personifizierte schlechte Gewissen dieser Bürokraten und stolz darauf. Etwas anderes als diesen Stolz habe ich nicht. Bevor ich an die Arbeit ging, drückte ich allerdings noch auf die Taste, um die Nachricht auf dem Anrufbeantworter abzuhören. »Hier ist Julie Perala, ich rufe aus der Agentur an …« Ich starrte auf den Lautsprecher. Die Stimme klang angespannt und reserviert und passte nicht zu der zuversichtlichen und einfühlsamen Julie Perala von der Adoptionsagentur, mit der Melissa und ich viele Stunden verbracht hatten, bis wir schließlich unsere neun Monate alte Tochter Angelina adoptierten. Mein erster Gedanke war, wir hätten vielleicht eine Rechnung nicht bezahlt. »Ich rufe ungern in Ihrem Büro an, aber ich hofe, dass Sie die Nachricht hören und sofort zurückrufen. Ich muss schnell mit Ihnen reden, wenn möglich vor Sonntag.« Sie nannte die Telefonnummer ihres Büros und ihres Handys, und ich schrieb beide auf. Dann: »Es tut mir so leid, Jack.« Das folgende kurze Schweigen wirkte auf mich, als wollte sie noch etwas sagen, doch dann hörte ich das Geräusch, mit dem der Hörer aufgelegt wurde. Ich lehnte mich zurück, hörte mir die Nachricht erneut an und sah nach, wann sie eingegangen war. Am Freitagabend um Viertel vor neun. Zuerst rief ich die Agentur an, war aber nicht überrascht, als sich sofort der Anrufbeantworter einschaltete. Dann wählte ich die Handynummer. »Hallo?« »Hier ist Jack McGuane.« »Oh.« »Sie hatten mich gebeten, sofort zurückzurufen. Ihre Nachricht hat mir einen Schreck eingejagt. Was ist los?« »Sie wissen es nicht?« »Was soll ich wissen?« Ihr Tonfall verriet zugleich Zorn und Panik. »Martin Dearborn hat sich nicht telefonisch bei Ihnen gemeldet? Er ist doch Ihr Rechtsanwalt, oder? Unsere Anwälte sollten ihn anrufen. Mein Gott.« Mein Herzschlag beschleunigte sich, die Hand, mit der ich den Hörer umklammerte, war feucht. »Ich weiß gar nichts. Dearborn hat nicht angerufen. Bitte sagen Sie mir, was los ist.« »Mein Gott, warum muss ausgerechnet ich es Ihnen erzählen …?« »Was?« Eine kurze Pause. Dann: »Der leibliche Vater will Angelina zurückhaben.« Ich bat sie, das zu wiederholen. Für den Fall, dass ich mich verhört hatte. Sie tat es. »Ja und?«, sagte ich. »Er will sie zurück? Wir haben sie adoptiert. Jetzt ist sie unsere Tochter. Wen interessiert, was er will?« »Sie verstehen nicht … Es ist kompliziert.« Ich stellte mir Melissa und Angelina vor, die zu Hause einen gemütlichen Samstagmorgen verbrachten. »Natürlich wird sich alles regeln«, sagte ich. »Das Ganze muss ein Irrtum sein. Es wird alles in Ordnung kommen.« Trotz meiner zuversichtlichen Worte hatte ich einen schalen Geschmack im Mund. »Der leibliche Vater hat sein elterliches Sorgerecht nie abgetreten«, sagte sie. »Die Mutter schon, der Vater nicht. Es ist eine entsetzliche Situation. Ihr Anwalt hätte Ihnen längst alles erklären sollen. Ich möchte nicht diejenige sein, die Ihnen die rechtlichen Aspekte auseinandersetzen muss, dafür bin ich nicht qualifiziert. Wie gesagt, es ist kompliziert.« »Das alles kann nicht wahr sein«, sagte ich. »Es tut mir so leid.« »Mir ist das völlig unverständlich. Sie ist seit neun Monaten bei uns. Die leibliche Mutter hat uns ausgesucht.« »Ich weiß. Ich war dabei.« Ich richtete mich auf und beugte mich über den Schreibtisch. »Sagen Sie mir, wie wir das Problem loswerden. Sollen wir diesen Halbwüchsigen auszahlen, damit er uns in Ruhe lässt?« Julie antwortete nicht. »Sind Sie noch dran?« »Ja.« »Wir trefen uns in Ihrem Büro. Sofort.« »Es geht nicht.« »Es geht nicht, oder wollen Sie nicht?« »Ich kann nicht. Ich hätte nicht mit Ihnen reden, Sie nicht anrufen dürfen. Die Rechtsanwälte und meine Vorgesetzten haben gesagt, ich soll keinen Kontakt zu Ihnen aufnehmen, aber ich glaubte, es tun zu müssen.« »Warum haben Sie nicht bei mir zu Hause angerufen?« »Ich habe kalte Füße bekommen. Sie haben keine Ahnung, wie sehr ich mir gewünscht habe, die Nachricht auf dem Anrufbeantworter löschen zu können.« »Ich weiß es zu schätzen, dass Sie mich benachrichtigt haben, aber Sie können jetzt nicht einfach die Brocken hinschmeißen. Ich muss genau verstehen, was Sie sagen. Wir müssen zusammen dafür sorgen, dass uns dieser Typ in Ruhe lässt. Das sind Sie uns schuldig.« Ich hörte merkwürdige Geräusche und dachte, die Verbindung wäre gestört. Dann begrif ich, dass sie weinte. »South Wadsworth, ganz hier in der Nähe«, sagte sie schließlich. »Da gibt es ein Restaurant, das Sunrise Sunset. Wir können uns in einer Stunde dort trefen.« »Könnte sein, dass ich ein paar Minuten später komme. Ich muss noch nach Hause und Melissa abholen. Sie wird dabei sein wollen. Und da alles so schnell geht, wird Angelina wahrscheinlich auch mitkommen.« »Ich hatte gehofft …« »Was? Dass ich die beiden nicht mitbringen würde?« »Ja. Das macht alles schwerer … Ich hatte gehofft, wir könnten uns allein trefen.« Ich knallte den Hörer auf die Gabel. Noch halb benommen, notierte ich die Adresse des Restaurants.
Schon bevor sie tatsächlich eintrat, hatte ich die Ahnung, dass gleich Linda van Gear vor meinem Schreibtisch stehen würde. Meine Chefin kündigte sich stets durch eine penetrante Parfümwolke an, die ihr meterweit vorauseilte. Sie war eine imposante, zupackende Frau, eine Naturgewalt. Melissa hatte sie einmal als »Karikatur eines echten Weibsbilds« bezeichnet. Linda war eine schrofe Person, aufgetakelt und mit einer Betonfrisur, die an die übereinander geschobenen Knochenplatten eines Dinosauriers erinnerte. Man glaubte, die Jacken ihrer Hosenanzüge hätten Schulterpolster, aber sie brauchte keine. Ihre Lippen waren rot, blutrot angemalt, und wenn sie sie mit der Zunge benetzte, sah man häufig etwas Lippenstift auf ihren Vorderzähnen. Wie viele Frauen in der Tourismusbranche hatte auch Linda einst davon geträumt, Schauspielerin zu werden. Oder zumindest eine mittlere Fernsehgröße, etwa Moderatorin einer Show, bei der aus einem Haufen singender Dilettanten der neue Superstar herausgepickt wird. Bei den Kolleginnen in unserer Abteilung und vielen anderen aus der Tourismusbranche war sie nicht gerade beliebt, aber ich kam mit ihr klar, konnte gut mit ihrer direkten Art umgehen. »Hallo, Darling«, sagte sie, als sie den Kopf durch die Tür streckte. »Wie ich sehe, haben Sie die Unterlagen schon gefunden.« Ich hatte noch gar nicht darauf geachtet, was auf meinem Schreibtisch auf mich wartete, sah aber jetzt eine dicke Mappe mit Geschäftskarten. Sie roch nach ihrem Parfüm, Zigarettenrauch und vergossenem Wein. »Liegt alles vor mir.« »Sind ein paar heiße Eisen dabei«, sagte sie mit gespielter Begeisterung. »Verbrennen Sie sich nicht die Finger. Wir sehen uns in einer halben Stunde.« Sie blinzelte, studierte meine Miene. »Alles in Ordnung?« »Nein.« Ich hatte keine Lust, in die Details zu gehen, glaubte aber, eine plausible Erklärung liefern zu müssen, um die Besprechung mit ihr verschieben zu können. Linda lauschte mit glänzenden Augen. Das war ganz nach ihrem Geschmack. Sie liebte dramatische Storys, und meine ließ an Dramatik nichts zu wünschen übrig. »Irgendein Halbstarker will das Sorgerecht für Ihr Baby?« »Ja, aber ich werde mich wehren.« »Der Kinderwahn ist spurlos an mir vorbeigegangen«, sagte sie kopfschüttelnd. »Ich konnte da nie wirklich folgen.« Sie war kinderlos und hatte keinen Zweifel daran gelassen, dass sie nie Mutter werden wollte. Ich nickte, als hätte ich verstanden. Ein heikles Thema. »Sie wissen, dass ich am Montag mit dem Gouverneur nach Taiwan fliege. Wir müssen auf jeden Fall vorher miteinander reden. Mir sitzt noch vom...