Bove | Journal – geschrieben im Winter | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 220 Seiten

Reihe: Werkausgabe Emmanuel Bove

Bove Journal – geschrieben im Winter

Roman

E-Book, Deutsch, 220 Seiten

Reihe: Werkausgabe Emmanuel Bove

ISBN: 978-3-86034-577-1
Verlag: Edition diá Bln
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection



In tagebuchartigen Einträgen notiert der Erzähler seine Sticheleien gegen seine Frau Madeleine, um mit fast wissenschaftlicher Genauigkeit deren und seine eigenen Reaktionen zu untersuchen. Dabei werden die tiefen Abgründe dieser Beziehung eindringlich aufgedeckt. Die drastischen Selbstversuche und Reflexionen kehren sich jedoch unvermittelt gegen den Protokollanten selbst und führen zum Auseinanderbrechen der Beziehung. 'Die Ehe als kriegerisches Schauspiel. Emmanuel Bove [...] ist ein Meister der Schlachtbeschreibung.' [Quelle: Manuela Reichart, Berliner Zeitung] Zum Weiterlesen: 'Emmanuel Bove. Eine Biographie' von Raymond Cousse und Jean-Luc Bitton ISBN 9783860347096

1898 als Sohn eines russischen Lebemanns und eines Luxemburger Dienstmädchens in Paris geboren, schlug sich Emmanuel Bove mit verschiedenen Arbeiten durch, bevor er als Journalist und Schriftsteller sein Auskommen fand. Mit seinem Erstling 'Meine Freunde' hatte er einen überwältigenden Erfolg, dem innerhalb von zwei Jahrzehnten 23 Romane und über 30 Erzählungen folgten. Nach seinem Tod 1945 gerieten der Autor und sein gewaltiges ?uvre in Vergessenheit, bis er in den siebziger Jahren in Frankreich und in den achtziger Jahren durch Peter Handke für den deutschsprachigen Raum wiederentdeckt wurde. Heute gilt Emmanuel Bove als Klassiker der Moderne.
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7. Oktober Madeleine tut gerne so, als höre sie von einer Schmeichelei zum ersten Mal. Berichtet man ihr, eine ihrer Freundinnen finde sie schön, heuchelt sie Überraschung. Madeleine scheint nicht glauben zu können, dass es wahr ist, während man ihr in Wirklichkeit das Gesagte schon am Vortag zugetragen hat. Sie fürchtet nicht, der andere könnte argwöhnen, ihr Nichtwissen sei nur gespielt. Als sei sie absolut aufrichtig, geht sie sogar so weit, Einzelheiten zu erfragen. Genau das ist heute geschehen. Am Abend kam uns Jacques Imbault besuchen. Im Laufe der Unterhaltung sagte er meiner Frau, er habe ihre Fotografie in einer Zeitschrift gesehen. »Ich habe nicht gewusst, dass man Sie als Modell verpflichtet hat«, fügte er ironisch hinzu. Jacques Imbault hält sich für außerordentlich geistreich, und damit man das auch merkt, spricht er unter anderem ständig von irgendwelchen Anstellungen. So bin ich ihm vor einigen Tagen bei der Garderobe eines Theaters begegnet. Ich hatte meine Nummer verlegt, und als er mich sah, wie ich zerstreut wartete, bis alle ihre Sachen erhalten hatten, um die meinen wiederzubekommen, ein wenig so, als sei ich beauftragt worden, den reibungslosen Ablauf der Verteilung zu überwachen, sagte er lachend: »Ich möchte wetten, die Direktion hat Sie als Aufseher engagiert!« Obgleich mir Madeleine die Zeitschrift gestern gezeigt und dabei über die Fotografen geschimpft und sogar gedroht hatte, den Herausgeber zu verklagen, wobei sie übrigens eine gewisse Genugtuung nicht hatte verhehlen können, schützte sie Erstaunen vor. »Aber Jacques, sagen Sie mir, was ist das für eine Zeitschrift? Ich muss sie mir unverzüglich besorgen.« Und was das Beste ist: Nachdem sie unserem Freund zahllose Fragen gestellt hatte, erinnerte sie sich plötzlich wieder an alles. Es war vor allem dieses wiedererlangte Erinnerungsvermögen, das mir lächerlich erschien. Dass jemand Erstaunen vortäuscht, wenn ihm ein Freund sagt, er habe von seiner großzügigen Geste erfahren, mag ja noch angehen; dass er sich dann aber gleich darauf wieder an jene Geste erinnert, ist unerträglich. Wenn sie das Vergnügen, das ihr die Betrachtungen der anderen zu ihrer Person bereiten, gebührend ausgekostet hat, hält Madeleine es nicht mehr für nötig, ihr Spiel fortzusetzen. Sie gesteht dann, im Bild zu sein, ohne auch nur eine Sekunde lang daran zu denken, der andere könnte diesen Wandel merkwürdig finden. Denn für meine Frau ist es gänzlich unmöglich, sich vorzustellen, dass jemand ihre Gedanken errät. Was immer sie den andern vorgaukelt, nie und nimmer käme ihr die Idee, man könnte ihre Beweggründe entdecken. Gerade in diesem Punkt ist sie das genaue Gegenteil von mir. Während ich aus Angst, einen eigennützigen, kleinlichen oder selbstgefälligen Gedanken bloßzulegen, stets aufs Äußerste bemüht bin, meine Worte abzuwägen, glaubt Madeleine, sie sei so undurchschaubar, dass sie sich ohne das geringste Risiko die unwahrscheinlichsten Kapriolen erlauben könne. Als sie sich heute daran erinnerte, dass ihre Fotografie tatsächlich in einem Wochenblatt erschienen war, nachdem sie zuerst vorgegeben hatte, nichts davon zu wissen, kam ihr nicht der Gedanke, Jacques könnte vermuten, sie habe sich schon vorher daran erinnert. Und was mich betrübt, ist die Tatsache, dass sie zornig wird, wenn ich versuche, sie darauf hinzuweisen und ihr begreiflich zu machen, warum ein solches Verhalten ironische Reaktionen provoziert, gerade so, als sehe ich in ihr nur die niedrigen Seiten. Sie beschuldigt mich, eifersüchtig zu sein, zu glauben, die Welt sei böse, ohne dass sie dabei eine Sekunde lang erkennt, inwieweit meine Beobachtungen zutreffen, und ohne die tiefe Zuneigung zu spüren, die aus meinem Wunsch spricht, sie möge sich nicht zum Gespött unserer Freunde machen. Sie versteht nicht, dass ich sie nur verteidigen will. Sie glaubt im Gegenteil, ich bemühe mich, in ihr etwas Schlechtes zu entdecken, das sonst niemand bemerkt. 12. Oktober In meiner Kindheit hatte ich Angst vor allem, sehr zum Ärger meiner Mutter, zu deren Prinzipien es gehörte, niemals die Hand gegen ein Kind zu erheben. Sie verstand nicht, dass ich furchtsam war, obschon sie mich doch nie geschlagen hatte. Dies war ihr umso unangenehmer, als man angesichts solcher Furcht annehmen konnte, sie schlage mich tatsächlich. »Aber sei doch nicht so ängstlich, Kind. Alle Leute meinen, man quäle dich.« Und dadurch, dass man mir ständig vorwarf, Angst zu haben, fürchtete ich mich schließlich davor, Angst zu haben, was mich doppelt zaghaft machte und mich wegen nichts und wieder nichts in Schluchzen ausbrechen ließ. Denn im tiefsten Innern, ohne mir dessen bewusst zu sein, schien mir, die Tränen versteckten alles, als wären sie eine Tarnung. Nun waren es meine Tränen, die meine Mutter gegen mich aufbrachten. Man warf mir nicht mehr vor, ängstlich zu sein, sondern zu weinen, als ob ich unglücklich wäre, während in Wirklichkeit die Furcht es war, die mich in diese Zustände versetzte. Ich zitterte wegen jeder Kleinigkeit. Doch diese Kleinigkeiten kamen nie von außen; sie kamen aus meinem Innern. Stieß ich einen Gegenstand um, glaubte ich sogleich, etwas Schreckliches begangen zu haben. Vergaß ich, meinen Vater zu küssen, traute ich mich nicht mehr unter seine Augen. Dauernd schien mir, als habe ich etwas Tadelnswertes getan, wofür er mich bestrafen würde, obschon man mich noch nie bestraft hatte. Die Furcht vor Strafe und Zurechtweisung lähmte mich. Wenn ich mich beim Spiel mit andern Kindern meines Alters so weit vergaß, zu lachen oder herumzutollen, kam es sogar vor, dass ich mich plötzlich an etwas Unbedeutendes erinnerte, das ich gemacht hatte – einen Fleck auf meinem Hemd, einen Kratzer an meinem Bein –, und schon zitterte ich, als ob man mich dafür bestrafen würde, dass ich mich schmutzig gemacht hatte oder gefallen war. Statt sich zu verlieren, wuchs diese Ängstlichkeit, je älter ich wurde. Als ich fünfzehn geworden war, beschloss mein Vater, mich in ein Internat zu schicken, um meinen Charakter zu stählen und mich fürs Leben zu rüsten. Eines Morgens fuhr er mich selbst nach Oloron. Am Tag zuvor hatte man alles vorbereitet. Während meine Mutter in heller Aufregung war aus Angst, etwas zu vergessen, hatte ich schon eine Ahnung von Alleinsein verspürt; denn nichts lässt das Gefühl von Einsamkeit stärker aufkommen, als wenn bei jenen, die einem lieb sind, der Schmerz der Trennung in den Hintergrund zu treten scheint, um den Vorbereitungen, der Fürsorge und der Ergebenheit Platz zu machen, obschon diese doch nur Ausdruck der Liebe sind. Ich schaute dem geschäftigen Hin und Her meiner Mutter zu und dachte: »Was kümmert sie sich so sehr um die Dinge und so wenig um mich.« Da ich nur untätig herumstand, tadelte sie mich von Zeit zu Zeit milde. Sie hatte mich so manches Mal zuvor mit den gleichen Worten getadelt, doch immer mit der anschließenden Drohung: »Du wirst schon sehen, wie du dich ändern wirst, wenn du erst einmal in Oloron bist«, dass ich an diesem Abend unwillkürlich dachte, man sei nur nett zu mir, weil dies der letzte Tag sei. Wenn man eine Wohnung für eine andere verlässt und zusieht, wie die Zimmer sich leeren, die Möbel aus verschiedenen Wohnräumen nebeneinander zu stehen kommen, ein Objekt, das einem lieb ist, aus Platzmangel plötzlich in einen unpersönlichen Koffer gleitet, überkommt einen eine gewisse Traurigkeit; und aus diesem ganzen Durcheinander, dieser Wohnung, die unversehens leersteht, während die nächste noch nicht bewohnt ist, entsteht ein schmerzlicher Eindruck des Verlorenseins. Wenn aber alles bleibt, wenn nur wir selbst weggehen, wenn unsere Sachen, die man aus den verschiedenen Zimmern zusammenträgt, keine Leere hinterlassen und wir spüren, dass das Leben nach unserem Weggang auch ohne uns wie bisher weitergehen wird, verstärkt sich das Gefühl von Traurigkeit noch. Ich rührte mich nicht, doch am Abend, als ich allein in meinem Zimmer im Bett lag, vor leerem Tisch und leeren Schränken, fühlte ich mich so unglücklich, dass ich zu weinen anfing. Ich weinte still vor mich hin, den Kopf unter den Laken versteckt, ohne an meine Tränen zu denken, die ich unter anderen Umständen hätte trocknen wollen. Als ich mich so gehenließ und dabei nur darauf achten musste, dies lautlos zu tun, was sogar eine angenehme Erregung in mir hervorrief, empfand ich eine Art heitere Verzweiflung. Ich dachte an nichts, und wenn ich mitunter spürte, dass ich mich langsam beruhigte, dachte ich: »Ich werde unglücklich sein«, und schon schluchzte ich von neuem los. Doch plötzlich hörte ich, wie sich die Tür zu meinem Zimmer öffnete. Ich hob die Lider und sah durch das Laken hindurch ein blassgelbes Licht. Da empfand ich ein solches Schamgefühl, ertappt worden zu sein, dass ich wie versteinert dalag, was ohne mein Dazutun den Anschein erwecken mochte, als schliefe ich, und ich hegte dabei die unsinnige Hoffnung, man merke nichts. Mein Körper, der mich unter den Betttüchern durch seine zuckenden Bewegungen verriet, bedeckte sich mit Schweiß. Über mir hörte ich die Stimme meines Vaters. Ich erinnere mich noch, dass sie in mir jene seltsame Angst vor dem Gnadenstoß auslöste, die man empfindet, wenn man hingefallen ist und sich alle rettend um einen drängen. Sie sagte sanft: »Weine doch nicht so, Louis, du bist jetzt ein großer Junge. Was würden deine Kameraden denken, wenn sie dich sähen?« Mein Vater tat als außerordentlich nachsichtiger Mann gerne so, als sei es ihm wichtiger, dass sein Kind sich gegenüber seinen Kameraden gut benehme als ihm selbst gegenüber. Im selben Augenblick beschlich mich ein seltsames Gefühl, das ich erwähnen muss, damit man meinen Charakter besser verstehe. Als ich jene Worte hörte, erstarrte mit einem Schlage das Blut in meinen Adern....


1898 als Sohn eines russischen Lebemanns und eines Luxemburger Dienstmädchens in Paris geboren, schlug sich Emmanuel Bove mit verschiedenen Arbeiten durch, bevor er als Journalist und Schriftsteller sein Auskommen fand. Mit seinem Erstling "Meine Freunde" hatte er einen überwältigenden Erfolg, dem innerhalb von zwei Jahrzehnten 23 Romane und über 30 Erzählungen folgten.
Nach seinem Tod 1945 gerieten der Autor und sein gewaltiges Œuvre in Vergessenheit, bis er in den siebziger Jahren in Frankreich und in den achtziger Jahren durch Peter Handke für den deutschsprachigen Raum wiederentdeckt wurde. Heute gilt Emmanuel Bove als Klassiker der Moderne.


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