Roman
E-Book, Deutsch, 480 Seiten
ISBN: 978-3-641-10393-4
Verlag: Manesse
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Ein märchenhaft reicher Fürst, der sich auch Jahre nach der bürgerlichen Emanzipation noch geriert wie ein absolutistischer Potentat: Dieser Anachronismus inspirierte Élémir Bourges zu einem der raffiniertesten Werke des Fin de Siècle. In seinem Roman spiegelte er alle Spielarten der «Décadence» - Prunksucht, Künstlichkeit, Inzest. Und gewährte Richard Wagner einen prominenten Auftritt in der Weltliteratur.Der deutsche Herzog Karl von Este lauscht gerade seinem von Wagner dirigierten Geburtstagskonzert, da fallen die Preußen in seine Residenz ein. Überstürzt muss er das verschwenderische Fest abbrechen und ins Pariser Exil fl iehen. Schon in der Kutsche, verleiht der Herzog Wagner einen Orden. Ihr Gespräch endet mit einem Eklat: Dass der letzte Teil des Nibelungenzyklus «Götterdämmerung» heißen soll, empfi ndet der Herzog als Provokation. Doch Wagners Replik erweist sich als verhängnisvolles Omen, denn in Paris erlebt das Fürstenhaus seinen moralischen Niedergang. Élémir Bourges versteht es, im Pomp seiner Erzählwelten zu schwelgen und im nächsten Moment deren Abgründe aufzuzeigen. Er bewunderte Wagners Musik und ließ sich bei seinem Roman von den opulenten Klängen des Komponisten anregen.
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II Schleppend und mit allerhand Zwischenhalten und Unterbrechungen entfernte sich Karl von Este, nachdem er Frankfurt erreicht hatte, von seinem Herzogtum. Dort hatte er unvermittelt seine Bediensteten und Kinder verabschiedet, welche ihn in seinem Pariser Palais erwarten würden; als Gefolge behielt er nur ein paar Küchendomestiken, wie Koch, Eismacher, Kellermeister, und, ihm in der Chaise gegenüber, Arcangeli, der aufgrund einer immer deutlicher markierten Gönnerschaft Seiner Hoheit vom Kutscher zum Vertrauten aufgestiegen war. Die Hoheit zeigte sich allerdings überaus missgestimmt. Eine drückende Julihitze erfüllte die geschlossene Berline35 und der Herzog versuchte ihr entgegenzuwirken, indem er sich den ganzen Tag über mit Früchten vollstopfte; Melonen, Trauben, Kirschen und Mandelpfirsiche spülte er mit literweise Bier herunter. Ein feuriger Wind drang durch das heruntergeklappte Schirmleder und die Sonne ließ die gefirnisste Chaise inmitten der kreidigen Ebenen der Champagne glühen. Dann schlug das Wetter um in anhaltende Schauer; dazu kamen ein ewig fahler und grauer Himmel, von Schlamm überzogene Wege und die Scheiben hinabrinnender Regen. Der Herzog ließ nun oft anhalten, aber dank Trinkgeldern, Flüchen und Peitschenhieben erreichten sie eines Morgens gegen sieben Uhr die Hauptstadt und die Avenue des Champs-Élysées. Er stieg aus, küsste Otto und Claribel, grüßte Franz, Hans Ulrich und Christiane, die zu seinem Empfang herbeigeeilt waren, und stellte ihnen Arcangeli als ersten Kammerdiener vor, was nur zu deutlich den kometenhaften Aufstieg und Beginn der Herrschaft eines Günstlings anzeigte; dann betrat Karl von Este seine Gemächer und ließ sich zu seinem Bett geleiten, das er zehn Tage lang nicht mehr verließ. Er stand spät auf, seufzte, wimmerte, befahl dem Italiener, niemanden, wer immer es auch sei, zu ihm zu lassen und die Vorhänge geschlossen zu halten. Im Zwielicht, das ihm nicht missfiel, wirkte das prächtige Schlafzimmer noch ruhiger: seine altgoldenen Fransen, seine dunklen flämischen Hautelisse-Tapeten36 und das von einer Balustrade eingefasste Baldachinbett mit den gedrehten Säulen. Auf einem Tisch stand zu jeder Zeit und immer in Reichweite eine vollständige Mahlzeit bereit: Austern, Kaviar, Crevetten, dazu eine dieser getrüffelten holländischen Pasteten, Poires tapées37, Kalbskeulenschnitten mit bitteren Pomeranzen; sodann in einem Eiskübel aus Silber alle Sorten von Früchten, Bier, Schokolade, Champagner, große mit tausenderlei Süßigkeiten übervolle Bonbonnieren aus Perlmutt und Elfenbein. Der Herzog naschte unaufhörlich an diesem und jenem. Er pickte zwei oder drei Bissen heraus, doch wollte sich kein rechter Appetit einstellen, und es wurde ihm schwer, die Brocken hinunterzuschlucken. Matt streichelte er César, stopfte den Sittich mit Zwiebackstückchen, fiel erschöpft auf sein Bett zurück und wiederholte unaufhörlich, er habe noch nie einen heißeren und schlimmeren Sommer erlebt. Unterdessen ließ sich Arcangeli weitere Vergnügungen einfallen: mechanisches Spielzeug, in Rosenöl erstickte Schmetterlinge, von Fröschen gezogene Wägelchen, auf Flanell gesäte Kresse, Hyazinthen, die in Wasser wuchsen. Als unvergleichlicher Pantomime imitierte er sämtliche Bewohner des herzoglichen Haushaltes, die starren Bewegungen des Grafen von Oels, den kehligen Akzent von Mister Smithson, das leichte Lispeln der Wienerin Augusta. Wahrhaftig, ein drolliger Günstling, der für die Mitwirkung bei einer Gauklerparade wie geschaffen schien! Mit der Ausgelassenheit eines Affen tauchte er überall gleichzeitig auf, mal saß er auf der Rückenlehne eines Sessels, mal lief er auf allen vieren; dann wieder Hopser, tausend Verrenkungen, Sprünge, große Gesten, Gejohle. Unterdessen schlug der Herzog in seinem Schlafrock aus weißem Satin mit roten Schleifen und für die Nacht aufgewickeltem Haar die Zeit tot, indem er goldene Galonstreifen auszupfte oder Bilder in Teile zerschnitt, die er anschließend mischte, wahllos herauszog und anders zusammensetzte. Das behelmte Haupt des Herrn von Bismarck fand sich so zufällig auf den Schultern einer Schmierenkomödiantin wieder und Seine Hoheit geriet außer sich vor Freude ob solcher lächerlichen Umkehrungen. Trotzdem zweifelte Karl von Este, dem Arcangeli schamlos angebliche Triumphe der österreichischen Armee vorgaukelte, nicht im Geringsten an seiner baldigen Rückkehr nach Blankenburg. Obwohl er lange von Paris weg gewesen war, wollte er bei diesem Besuch nichts von der Stadt sehen, sondern sagte, er würde erst wieder einen Fuß vor die Tür setzen, um seine Postkutsche zu besteigen. Briefe, Zeitungen, Pakete, sogar die Depeschen des Grafen von Oels, das alles ließ der Herzog zu einem großen Stapel anwachsen, bis ihn eines Tages die Laune ankam, sich des Berges anzunehmen. Und da ereilte ihn die ganze Wahrheit mit voller Wucht. Der Einmarsch der Preußen in Blankenburg, gleich am Tag nach seiner Flucht, war dort das Signal für einen umfassenden Ausbruch gewesen. Seine Capricen, seine Tyrannei, seine Weigerung, vom Landtag beschlossene Gesetze zu unterzeichnen, die schlecht besoldeten Truppen, der dahinsiechende Handel, das durch übermäßige Forderungen ausgetrocknete Finanzwesen, das ganze zurückgelassene und leidende Herzogtum erhob sich gegen ihn und klagte ihn an. Die einen hatte er verbannt, die anderen eingesperrt oder ihrer Güter beraubt, weil ihm ihre Nase nicht gefiel. Und das so sinnlos, manchmal so ungestüm, dass sein Landtag einst erwogen hatte, eine geheime Kommission De lunatico inquirendo38 einzusetzen. Die schlechten Nachrichten rissen nicht ab. Die Preußen hatten entdeckt, wo die aus Wendessen herausgebrachten Möbel versteckt waren, und nur Wertloses war der Plünderung entgangen. Als der erschütterte Graf von Oels im Namen des regierenden Herzogs protestierte, hatte ihm der Offizier nur geantwortet: «Euer Herr regiert nicht mehr!» Tatsächlich war Prinz Wilhelm, der mit der hannoverischen Armee gefangen gesetzt wurde, ins Hauptquartier gerufen worden, um sich mit den Siegern über die Neuordnung des Herzogtums zu einigen. Die Wut des Herzogs war unbeschreiblich. Er schäumte, stampfte mit den Füßen, schlug auf die Möbel ein, brüllte, er plane, Wilhelm eine Forderung zu senden, die in ganz Europa nachklingen werde – seine Tobsucht versetzte das ruhige Haus in Schrecken. Er bestellte bei dem berühmten Armeelieferanten Larribeau fünfundzwanzigtausend Kokarden mit dem Pferd,39 ließ Proklamationen und Dekrete in einer Million Exemplaren drucken und hielt sich bereit, Paris jederzeit zu verlassen. Die von ihm ausgehende Unruhe führte dazu, dass alle ungeduldig Ausschau hielten, immer in Erwartung und Furcht vor einem neuen Beschluss: Dann verklang der Lärm, nur noch triste Stille überall; man begegnete sich von Weitem, wagte außer ein paar geflüsterten Worten nicht miteinander zu sprechen. Karl von Este war krank vor Ungeduld und wollte gerade irgendeine Verrücktheit begehen, als sich die Neuigkeit der Schlacht von Sadowa40 zuerst gerüchteweise, dann immer weiter verbreitete und schließlich wie eine Bombe einschlug – mit allen Details. Es war ein schrecklicher Schlag für Herzog Karl. Er schloss sich ein, schlief nachts mit rund um sein Bett aufgestellten Kerzen, an seiner Seite Arcangeli, der wortlos bei ihm wachte. Doch schon am folgenden Tag hatte er wieder Hoffnung geschöpft und meinte, Wunder zuwege zu bringen, indem er Baron Cramm als Bevollmächtigten nach Berlin zum Kabinett schickte. Der inhaltsleere Auftrag passte gut zu dessen lächerlichem Auftritt: Er war nämlich angewiesen worden, sich zu unterwerfen, dem Sieger die Stiefel zu küssen und feierlich seine Ergebenheit für die Zukunft zu beteuern. Worauf der Herzog besonders zählte, war ein handschriftlicher Brief an Fürst Bismarck von ihm, Karl I. von Este-Blankenburg, Gebieter des welfischen Fürstenhauses. Zunächst hatte er erwogen, anstelle jenes Hampelmannes einen seiner älteren Söhne zu schicken. Doch fürchtete er, dass diese sich von ihm lösen würden, wenn er sie aus ihrer Nichtigkeit befreite, und vielleicht auch, dass sie keine hinreichende Anstrengung unternähmen, um angesichts des drohenden Schiffbruchs ihr kleines Boot zu retten. Außerdem mochte er Hans Ulrich nicht besonders und Franz, der von Rockzipfeln umgeben groß geworden war, verabscheute jegliche Mühe und überhaupt alles Geschäftliche. Seine Mutter war ebenso schwach wie er, hatte ihn immer um sich gehabt und ihn fest im katholischen Glauben erzogen – er war das einzige Kind von Karl von Este, das nicht Protestant war. Allerdings ließ sich die gute Augusta durch ihre religiöse Praxis, die sich vor allem auf das «Agnus Dei» und den päpstlichen Segen beschränkte, nicht von Galanterien und Vergnügungen abhalten. Imposant und unordentlich, so wie es ihrem Aussehen, ihrer schiefen Frisur und ihren an einer Seite verrutschten Kleidern entsprach, lebte sie mit drückenden Schulden und ruiniert von ihrer Spielleidenschaft. Allerdings hatte sie die Furcht vor dem Tod mit zunehmendem Alter zur vorsichtigsten und wunderlichsten aller Frauen gemacht; und nun fesselte sie diese Manie wochenlang ans Bett, das sie allerdings nicht wie Herzog Karl als solches schätzte, sondern aus selbst auferlegten medizinischen Gründen. Sie stand nur für eine oder zwei Stunden am Tag auf, in dieser Zeit richtete sie sich her oder spielte Federball mit ihrer Kammerfrau, und so traf man sie nie außerhalb der kleinen, ihr angewiesenen Wohnung, die aus drei ruhigen, abgelegenen und auf den Garten weisenden Zimmern bestand. Als sich die kriegerische Wut des...