E-Book, Deutsch, 320 Seiten
Bosch Jemand wie du
1. Auflage 2018
ISBN: 978-3-85179-414-4
Verlag: Thiele & Brandstätter Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: Wasserzeichen (»Systemvoraussetzungen)
Roman
E-Book, Deutsch, 320 Seiten
ISBN: 978-3-85179-414-4
Verlag: Thiele & Brandstätter Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: Wasserzeichen (»Systemvoraussetzungen)
Jean-Pierre Zanardi, der an der Rive Gauche eine Kunstgalerie betreibt, ist ein Freigeist. Paulina Homs lebt mit ihrer Familie ruhig und zufrieden in Barcelona – bis sie allein zur Hochzeit ihrer Cousine Júlia nach Paris reist. Es werden fünf Tage, die ihr Leben verändern sollen. Denn in Jean-Pierre Zanardi, der auch zur Feier kommt und ihr Tischherr ist, begegnet Paulina einem Mann, der nicht nur wie Marcello Mastroianni aussieht und in den schönsten Buchhandlungen der Welt antiquarische Bücher über Schmetterlinge sucht, sondern jeden Augenblick in etwas Besonderes zu verwandeln weiß. Fasziniert von seiner Art, das Leben und die Liebe zu sehen, lässt Paulina sich auf eine leidenschaftliche Liebesaffäre ein, die ihr ganzes weiteres Leben bestimmen wird, auch wenn wie sich nach diesen wenigen intensiven Tagen schweren Herzens von Jean-Pierre losreißt und die Liebenden sich nur noch ein einziges Mal begegnen sollen …Jahre später findet Gina in einem Buch über Schmetterlinge, das aus einer Buchhandlung in London stammt, merkwürdigerweise eine Visitenkarte ihrer früh verstorbenen Mutter Paulina Homs, auf der »Apelle-moi! – Ruf mich an!« geschrieben steht. Gina, die wenig über ihre Mutter weiß und von der großen Liebe so gar nichts hält, beginnt zu recherchieren und stößt auf eine unglaubliche Geschichte und den bewegendsten Liebesbeweis der Welt …
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1. Eine rätselhafte Gestalt Nie werde ich den Moment vergessen, in dem ich dich zum ersten Mal bewusst wahrgenommen habe. »Ich wette, sie kommt morgen nicht in die Schule«, flüsterte Àxel. »Und woher willst du das wissen?«, flüsterte ich noch leiser zurück. Vielleicht hätte ich nie ein Auge auf dich geworfen, wenn Àxel nicht diese Wette vorgeschlagen hätte, als er dich mitten im Unterricht weggehen sah. »So, wie sie abgeholt wird, kommt Gina nicht wieder.« Wir schauten beide aus dem Fenster, sahen dich an der Hand dieses Mannes, der mit ruhigen Schritten davonging und dich mitnahm, und Àxel fügte hinzu: »Jedenfalls nicht vor Montag.« »Ihr zwei da hinten … Würdet ihr bitte den Mund halten?« Mit Ayuso, dem Bibliothekar der Schule, war nicht gut Kirschen essen. Er war der Philosophielehrer der höheren Klassen, und obwohl er uns ein ums andere Mal zur Ordnung rufen musste, hatte er sich unsere Namen zum Glück immer noch nicht gemerkt. Tatsächlich war den Neunjährigen der Zutritt zum Paradies der Buchstaben nur einmal in der Woche gestattet, mittwochs nach dem Essen. Irgendein schlauer Padägoge hatte sich gedacht, es würde den Reiz des Bibliothekssaals erhöhen, wenn man ihn zum verbotenen Ort erklärte, weil wir dadurch Lust bekämen, uns öfter dort aufzuhalten, in den Regalen zu stöbern und in Geschichten zu blättern, bis wir auf eine stießen, die uns packte. Auf dieses eine Buch – jeder auf sein ganz persönliches natürlich –, das die Freude am Lesen in uns wecken würde. Für Àxel und mich jedoch war die Bibliothek vor allem der ideale Ausguck. Ja, sicher gab es dort Regale über Regale voller Bücher, ordentlich aufgereiht, mit dem Rücken nach vorne und sortiert nach Ayusos System – einem gewiss sehr ausgeklügelten System –, aber wir saßen lieber an der anderen Seite des Raumes vor dem großen Fenster. Wir legten irgendein Buch aufgeschlagen vor uns auf den Tisch, unterhielten uns flüsternd und beobachteten derweil den Hof mit den drei Pinien, während Ayuso an seinem hochherrschaftlichen Schreibtisch saß und, eine winzige Brille auf der Nasenspitze, uralte Postkarten von Barcelona archivierte. Àxel und ich hatten entdeckt, dass das große Fenster der Bibliothek ein strategischer Aussichtspunkt war, von dem aus man das gesamte Schulgelände überblicken konnte. Das Auge erfasste alles, von der Tür zur Turnhalle und den Umkleiden für die Jungen und Mädchen bis zum Haupttor, hinter dem man, wenn man den Hals reckte, noch ein Stückchen vom Carrer de Bellesguard erspähte, einer Sackgasse, in der die Frühaufsteher unter den Lehrern ihre Autos nebeneinander parken konnten. Auf der anderen Seite des großen Bibliotheksfensters lagen der Zeichensaal und, neben einer halb vertrockneten Bougainvillea, die Tür zum Sekretariat, wo sich im Falle von Verletzungen oder Kopfschmerzen auch Erste Hilfe, Zuflucht und Trost finden ließen. Mittwochs zwischen drei und vier war den drei Pinien auf dem Schulhof für eine Weile Ruhe vergönnt. Weder mussten sie als Torpfosten herhalten, noch band man ihnen Springseile um die Stämme. Wenn alle Kinder in ihren Klassenräumen waren, ging kaum noch jemand über den Hof. Nachdem der Abwasch erledigt war, schlurften die Köchinnen davon. Das Aufsichtspersonal des Speisesaals schwang sich auf die Fahrräder und verschwand eilig den Carrer de Bellesguard hinunter, um den Nachmittag zu genießen und sich ins Leben zu stürzen. Wenn wir mittwochs zwischen drei und vier mit der gesamten 3c in der Bibliothek waren, sahen wir hin und wieder Eltern durch das Schultor kommen und direkt aufs Sekretariat zusteuern, um aus dem Mund des Klassenlehrers das Urteil über ihr Kind zu vernehmen. An jenem heißen Mittwoch jedoch, einem Maitag, an dem es uns in unseren Schuluniformen schon zu warm wurde, sahen wir zu einer Zeit, zu der sonst nur der Wind und die Stille durch den Pausenhof strichen, eine rätselhafte Gestalt. Aus einem Taxi, das unmittelbar vor dem Schultor hielt, stieg ein Mann, der ungefähr im Alter unserer Eltern sein mochte, aber keiner der uns bekannten Väter war. Er trug Krawatte. Einen dunklen Anzug und eine Krawatte. In unsere Schule kamen nur sehr selten Krawatten. »Sieh mal, Biel!« Àxel deutete auf etwas, aber ich verstand nicht, was er meinte. »Das Taxi wartet.« Ich mag die Taxis von Barcelona, gelb und schwarz, eine schwer verdauliche Farbkombination, die einem Auto aber viel Persönlichkeit verleiht. In Buenos Aires sind die Taxis übrigens auch gelb und schwarz. Der Mann mit der Krawatte hatte dichtes, störrisches, schwarzes Haar und stieg mit müdem Schritt die Stufen von der Straße zum Schulgebäude hinauf. An der Tür zum Sekretariat wurde er von der Schulleiterin mit sehr ernster Miene empfangen. Daraus schloss Àxel, dass es sich nicht um einen gewöhnlichen Besuch handelte. Die Direktorin, Senyora Ramos, trat nur widerstrebend und ausschließlich in heiklen Fällen in Erscheinung. Sie schüttelten einander die Hand, gingen ins Sekretariat, und damit verloren wir die weitere Entwicklung für einige Minuten aus dem Blick. Das Gespräch war jedoch offenbar kurz, denn die Direktorin kam allein wieder heraus und strebte, hochaufgerichtet und mit kerzengeradem Rücken – entweder wegen eines Bandscheibenschadens oder weil sie wie eine strenge Tänzerin wirken wollte –, schnurstracks auf den Zeichensaal zu. Jeden Mittwoch, während wir, die 3c, nach der Mittagspause in die Bibliothek mussten, hattet ihr, die 3b, Unterricht im Zeichnen oder Modellieren. In jener Woche sollten alle Drittklässler Joan Mirós Haus in Mont-roig del Camp abmalen, das Torío an die Wandtafel gehängt hatte. Nicht schlecht. Einen Miró kopieren, und das in einer Stunde. Und mit so vertrockneten Farben, dass es, als wir sie endlich mit Wasser aufgeweicht hatten, schon Zeit war, das Blatt abzugeben. Prima Typ, dieser Torío. Was vielleicht am Fach liegen mochte. Trotzdem machte auch er, als er mit der Direktorin aus dem Zeichensaal kam, ein ernstes Gesicht. Dann gingen sie wieder hinein, und im nächsten Augenblick sagte Àxel, der von seinem Platz aus besser sehen konnte: »Sieh nur, Biel, sieh nur! Sie nehmen Gina mit.« Torío blieb in der offenen Tür des Zeichensaals stehen, und die Direktorin ging mit dir weiter zum Sekretariat, und da dachte ich, das ist ja seltsam. »Was mag sie angestellt haben?«, fragte ich Àxel. Noch ehe ihr das Sekretariat erreicht hattet, kamen der geheimnisvolle Mann und deine Klassenlehrerin, deren Namen ich nicht mehr weiß, wieder heraus, sie hängte dir den Rucksack über und gab dir – ganz mütterlich, wenn ich das so sagen darf – rechts und links einen Kuss. Und die Direktorin, die noch nie jemandem ein Küsschen gegeben hatte, beschränkte sich darauf, dir mit kühler Geste über die Wange zu streicheln. Der Mann aber wirkte sehr entschieden, nahm dich bei der Hand und entfernte sich langsam mit dir Richtung Straße. Als ihr am Zeichensaal vorbeikamt, winkte dir Torío mit einem Pinsel Lebewohl und lächelte dir zu, soweit ich das aus der Ferne beurteilen konnte. Ich musste mir eh schon den Hals verdrehen, um etwas zu sehen. »Meinst du, sie haben sie rausgeworfen?« »Gina?« »Warum bringen sie sie wohl fort?« »Der Mann ist jedenfalls nicht ihr Vater …« »Wer soll es denn sonst sein?« »Ihr Vater hat einen Schnurrbart, und diesen Mann habe ich noch nie gesehen.« Und während Ayuso damit beschäftigt war, einen schusseligen Schüler zusammenzustauchen, weil dieser Italo Calvinos Der Baron auf den Bäumen zu spät zurückbrachte, spekulierten Àxel und ich darüber, warum man dich der Schule verwiesen haben mochte. »Sie hat vielleicht Geld geklaut«, schlug einer von uns vor. »Geld, wo?« »Aus dem Lehrerzimmer vielleicht«, überlegten wir. »Oder sie haben sie in der Jungenumkleide erwischt.« Wir mussten lachen. »Ja, sie ist reingegangen, hat sich ausgezogen und den Jungs von der 3b ihre Muschi gezeigt.« Ayuso, der an der Tür stand, brüllte uns an. Wir taten, als wären wir in unsere Lektüre vertieft und fühlten uns gar nicht angesprochen, gingen jedoch wispernd weitere Möglichkeiten durch. Zu diesem Zeitpunkt hattet ihr, der schweigsame Mann, der dich abgeholt hatte, und du, die Schule bereits verlassen und wart ins Taxi gestiegen. Der Fahrer hatte die Wartezeit bei laufendem Taxameter genutzt, um den Wagen zu wenden, damit er aus der Gasse direkt auf den Carrer de Bellesguard fahren konnte. »Vielleicht sind ihre Eltern gestorben …« »Ihre Großeltern, meinst du wohl. Wie kommst du auf ihre Eltern?« In diesem Augenblick, an einem heißen Mittwoch im Mai gegen vier Uhr nachmittags, als ich durch das Fenster der Bibliothek auf die drei Pinien im Hof einer Schule starrte, die den Namen eines Heiligen trug, und Ayuso zu einer phantasmagorischen Figur wurde, die ständig vor sich hin schimpfte, brach für mich eine Welt zusammen. Mich erfasste plötzlich die erschreckende Erkenntnis, dass auch Eltern sterben konnten. Das hatte mir bis dahin noch niemand gesagt. Ich hatte auch noch nie darüber nachgedacht. Und mit einem Mal gerieten alle meine Gewissheiten ins Wanken. Ein Risiko hielt Einzug in mein Leben. Eine neue, unbekannte, tiefe Angst. »Àxel, glaubst du wirklich, dass unsere Eltern sterben können, solange wir noch Kinder sind?« Er erzählte mir, er habe einen Vetter, dem das passiert sei, und behauptete, es stimme nicht, dass Eltern erst sterben, wenn sie alt sind. Na ja, jedenfalls nicht unbedingt. Ich wollte es nicht glauben, und als meine Mutter mich abholte und wir in unseren R5 stiegen, fragte ich sie, ob es...