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E-Book

E-Book, Deutsch, 125 Seiten

Borcic Garbin

Wind der blauen Schatten

E-Book, Deutsch, 125 Seiten

ISBN: 978-3-944359-07-6
Verlag: Schruf & Stipetic
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection



Auf der Insel Vis, weit vor der Küste Kroatiens, herrscht noch ein uraltes Erbrecht. Stjepan und seine drei Brüder können ihr Elternhaus erst dann ihr eigen nennen, wenn sie eine Vielzahl von Verwandten ausbezahlen. Dazu müssten sie sich untereinander einigen. Stattdessen entbrennt zwischen ihnen ein erbitterter Streit. Vor allem Stjepan leidet unter der Situation und verrennt sich in dem Versuch, eine juristische Lösung herbeizuführen. Dabei sind es die unausgesprochenen Erlebnisse aus der Kindheit, die zwischen den Brüdern stehen. Die Schatten der Vergangenheit drohen die Familie in einen Strudel aus Depression, Gier und Gewalt zu stürzen. Da mischt sich ihr altes Kindermädchen Mandina ein. Sie kennt alle Familiengeheimnisse, die seit Langem zwischen den Brüdern gären.

Anela Borcic ist 1966 in Split geboren und studierte an der dortigen Pädagogischen Fakultät, bevor sie als Lehrerin auf ihre Heimatinsel Vis zurückkehrte und Leiterin der örtlichen Grundschule wurde. Sie veröffentlichte Lyrikbände und eine Sammlung von Erzählungen. 2009 erschien ihre Novelle Garbin - Wind der blauen Schatten.
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03 Sommermenschen, Wintermenschen
Inzwischen quälte ich mich schon das siebte Jahr und das Ziel schien weiter entfernt als am Anfang, denn mit der Zeit hatte meine schon seit der Kindheit labile Gesundheit stark gelitten. In der verflossenen Zeit hatte ich mir lediglich einen Überblick verschafft, über mir hatte sich das kosmische Chaos von Eigentums- und Besitzverhältnissen aufgetan und meine Wahrnehmung und Vorstellung von sturer Verbissenheit und durchtriebenem Eigennutz, zu dem meine Nächsten fähig waren, geschärft. Alles, selbst das Zusammensuchen von Dokumenten, erschien sinnlos, vergeblich und viel zu kompliziert. Anfangs hatte es mich noch mit Glück erfüllt, diese vermaledeiten Erbdokumente in einem kleinen Umschlag zu sammeln, dann in einem größeren und schließlich in dem größten, den ich finden konnte. Bald musste ich dafür einen ausrangierten Schuhkarton hernehmen und schließlich eine alte Reisetasche. Je größer das Behältnis wurde, desto ungesünder wurde, was mich innerlich umtrieb. Meine Hoffnung sank umgekehrt proportional zum Anstieg meiner Trauer. Doch was hätte ich tun sollen? Ordentlich stapelte ich die Dokumente, sortierte sie, damit alles beisammen war und ich nicht suchen musste. Ich war besessen von der Angst, etwas Wichtiges könnte, Gott bewahre, verloren gehen, und so überprüfte und ordnete ich die Papiere immer wieder neu. Die absurdeste Erkenntnis dabei war, dass alle meine Brüder mit Sicherheit genauso viele Dokumente besaßen wie ich, um sich ihrerseits einen vollständigen Einblick in ihren Vorgang zu verschaffen. Sie hatten sich nicht einfach Kopien von meinen Dokumenten gemacht, weil ich der Älteste war, sondern waren auf dem gleichen Weg wie ich zu ihnen gekommen – durch Anstehen in den gleichen Schlangen, Schreiben der gleichen Anträge, Betteleien um eine sofortige Ausstellung des Dokuments, vor allen anderen, denn UNSERE Angelegenheit sei dringend, unaufschiebbar ... Und so zog sich das Ganze hin. Wir trugen schon seit Jahren die notwendigen Papiere zusammen – und doch fehlte immer etwas oder wir hatten nicht alle Zeit, wenn das Gericht uns lud.
Inzwischen teilten wir das Haus vor allem mit Verstorbenen und Unbekannten. Genauer gesagt unseren Teil des Hauses, der inzwischen ziemlich verfallen war. Von unserer Haushälfte besaßen wir irgendwelche Phantom-Zehntel, Zwölftel oder gar Zweiundsiebzigstel, bei idealer Aufteilung, jawohl! In einem der Grundbuchauszüge in meiner Tasche stand zum Beispiel, dass unser verstorbener Großvater, sage und schreibe, den zweiundsiebzigsten Teil von 630 Quadratmetern des Grundstücks besaß. Leider hatte unser Nachbar ungefragt auf einem großen Stück davon ein Haus gebaut, und nun sollten wir den Rest aufteilen, ohne dabei den Verstand zu verlieren. Doch wenn es uns erst einmal gelang, das Erbe zu teilen, würden wir auch gegen den Nachbarn prozessieren, und sollte er in der Zwischenzeit sterben, dann eben gegen seine Erben. Auf einen Prozess mehr oder weniger kam es schließlich nicht an.
Unermüdlich und dieser ungünstigen Erblage zum Trotz, gingen wir im unregelmäßigen Rhythmus unserer Inselaufenthalte im Rathaus von Tür zu Tür, um möglichst viele Informationen einzuholen, und trafen dabei häufig in der gleichen Angelegenheit zusammen. Am schlimmsten war es, wenn es wärmer wurde. Im Frühjahr hetzten wir durch die trostlosen Amtsräume, düstere Gedankenfetzen im Kopf und ein flaues Gefühl im Magen. Es war niederschmetternd! Zumindest für mich. Einmal stand mein jüngster Bruder, der freche Bubi, vor mir in der Warteschlange. Er kam an die Reihe und ging dann, ohne einen Gruß oder eine Geste, die gezeigt hätte, dass wir verwandt sind. Ihn dort zu treffen, versetzte mir einen Schlag, kalte Blitze fuhren mir in die Glieder. Aber ich konnte es nicht vermeiden. Also setzte ich mich ruhig und grüßte die anderen Wartenden. Die älteren der Anwesenden, deren Erinnerung so weit zurückreichte, dass sie uns als Brüder erkannten (zum Glück waren das nur wenige), grinsten entweder in sich hinein oder erkundigten sich später besorgt nach unserer Teilung, bis hin zu pikanten Details, dabei heuchelten sie Mitgefühl, der eine oder andere sogar mit einem verlogenen Tränchen im Auge, nur damit ich, verleitet durch ihr angebliches Mitgefühl, so viele Informationen wie möglich ausplauderte.
Als ich schließlich an die Reihe kam, musterte mich die Angestellte in der schäbigen Amtsstube unerbittlich von oben bis unten, dann öffnete sie bereitwillig und mit einem zynischen Lächeln die uralten, zerfledderten Bücher genau an der Stelle, die mich interessierte, noch bevor ich auch nur ein Wort gesagt hatte. Das war gar nicht nötig, weil sie ohnehin schon alles wusste. Ihr Wort bedeutete Trost oder Weltuntergang für all die Verwirrten, die zu ihr pilgerten. Sie herrschte über das trostloseste Grundbuchamt der Welt, diese Herrin der verstaubten Bücher, in denen die große Wahrheit stand. Sie konnte (wenn sie gut gelaunt war) im Nu all die wahnsinnig wichtigen winzigen krakeligen Ziffern heraussuchen, von denen das Glück und Unglück der Leute abhing. Manchmal hörte sie nur zu, wie ein Beichtvater, ohne Fragen zu stellen oder ungeduldig zu werden (auch nur an ihren guten Tagen). In den Augen der Unwissenden war sie die Verkörperung der Macht; im Staccato erklärte sie ihnen, was einfach nicht in ihre Köpfe wollte, nicht beim ersten, nicht beim zweiten und manchmal auch nicht beim hundertsten Mal. Ein weiteres Mal zu fragen wagten sie nicht aus Angst, sie zu reizen; deshalb kamen sie lieber ein anderes Mal wieder, stellten sich an und warteten, um sie noch einmal zu fragen, das war am sichersten, wenn man sie nicht erzürnen wollte.
Diese Frau hatte schon alles gesehen, und in ihren Augen wiederholte es sich in endloser Folge. Nicht nur unsere Angelegenheit. Mehr oder weniger alle Familien auf der Insel hatten ähnliche Probleme. Und so ging der Gilb von den Papieren aus dem Grundbuchamt eine Symbiose ein mit der vergilbenden Haut ihrer Klienten, die ungeduldig darauf warteten, den amtlichen Auszug ausgehändigt zu bekommen, und aus den Augenwinkeln gierig die Hieroglyphen und von alter Schönschrift umrahmten Skizzen in den Büchern aufsogen. Später versuchten sie diese Tag und Nacht zu rekapitulieren, bis zur nächsten Sitzung am gleichen Ort. Im Winter kamen in der Regel nur Leute zu ihr, die sie bereits kannte.
Oft brachte das Wetter feuchte und lästige Winde aus dem Süden, die die Insel im Würgegriff hielten, dann wälzten sich schwere Wolken so tief über die Berggipfel der Bucht, dass sie sich mit den Hirnwindungen der Inselbewohner vermischten. Diese Wetterlage bescherte der Frau im Grundbuchamt heftige Unordnung, spülte die gefährlichsten und unzufriedensten Klienten an, die in ihren Köpfen bereits die verschwommene Grenze des Zulässigen überschritten hatten und selbst zum Teil der entfesselten Natur geworden waren. Manchmal kam es ihr vor, als hätten diese Leute sich selbst in einen Südwind verwandelt und würden nun vor ihrer Tür auf seltsamen Frequenzen in Böen pfeifen und mit ihren verworrenen Gedanken voller graziler Parzellenziffern klappern und scheppern. Kurz gesagt bereiteten sie ihr Unbehagen und machten sie nervös.
Der Sommer wiederum brachte ihr unbekannte oder flüchtig bekannte, aber nicht weniger anstrengende Leute, die hier Urlaub machten und die Zeit zwischen Strandausflügen, Besuchen bei Familienmitgliedern im Altersheim (wo man sie meist nicht erkannte, weil sie nur aus Eigennutz oder anstandshalber kamen) und anderen Unternehmungen dazu nutzten, ihren verästelten Wurzeln nachzuspüren oder in kürzester Zeit fieberhaft zu entwirren, was ihre Vorfahren über Jahrhunderte hinweg verwirrt hatten. Zu diesen Sommermenschen gehörten auch meine Brüder Tone und Silvester, während der jüngste, der Bubi, eine Geschichte für sich war. Die beiden älteren hatten von nichts eine Ahnung, außer von Essen und Fußball, und erzählten immer noch die Geschichte, wie sie die alte Tante Bonica besuchen wollten, der auch ein Teil des Hauses gehörte (und die weder Mann noch Kinder hatte). Doch sie landeten im falschen Zimmer und sprachen mit einer anderen alten Frau, im Glauben, es sei die Tante. Sie übergaben ihr Geschenke und versuchten ein Gespräch anzuknüpfen, zuerst über das Wetter, dann über die Gesundheit und schließlich über das Erbe, und führten die alte Frau langsam zum Wesentlichen, bis sie die Kontrolle verloren und die Frau urplötzlich begann, ihren verstorbenen Mann zu verfluchen, der sich gleich nach dem Ersten Weltkrieg nach Argentinien abgesetzt und sie mit fünf Kindern mittellos zurückgelassen hatte. Er hatte nie geschrieben, geschweige denn Geld geschickt. Meine Brüder sahen sich erschrocken an, ließen die Geschenke zurück und flüchteten ohne ein weiteres Wort. Das war ganz offensichtlich nicht die richtige alte Frau!
Bonica bekam in der Regel nur Besuch von Mandina, die sich wunderte, als die Bonica zwei Tage nach dem Besuch meiner Brüder im Altenheim behauptete, keinen Besuch bekommen zu haben. Sie konnte sich nicht erklären, was geschehen war, und beschimpfte ihre Zimmergenossinnen als Banditen und diebische Elstern, die ihr Ärmsten alle Geschenke geklaut und bestimmt die...


Anela Borcic ist 1966 in Split geboren und studierte an der dortigen Pädagogischen Fakultät, bevor sie als Lehrerin auf ihre Heimatinsel Vis zurückkehrte und Leiterin der örtlichen Grundschule wurde. Sie veröffentlichte Lyrikbände und eine Sammlung von Erzählungen. 2009 erschien ihre Novelle Garbin – Wind der blauen Schatten.


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