Bonné | Lichter als der Tag | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 336 Seiten

Bonné Lichter als der Tag

E-Book, Deutsch, 336 Seiten

ISBN: 978-3-7317-6119-8
Verlag: Schöffling
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Raimund Merz kennt Moritz und Floriane von Kindheit an. Ihr Lebensmittelpunkt ist ein wilder Garten am Dorfrand. Als Inger zu ihnen stößt, die Tochter eines dänischen Künstlers, bilden die vier eine verschworene Gemeinschaft, bis sich beide Jungen in das Mädchen verlieben. Inger entscheidet sich für Moritz, Raimund und die ehrgeizige Floriane werden ebenfalls ein Paar. Jahre später kreuzen sich die Wege der vier erneut - für Raimund die Chance, sich der Leere seines Lebens ohne Inger zu vergegenwärtigen. Verzweifelt sucht er nach einem Weg zurück zu sich selbst und zu einer Aussöhnung mit der Vergangenheit. In einem furiosen Finale bricht er auf nach Lyon zu einem Gemälde, das ihn in Bann zieht wie in der Kindheit der wilde Garten. Mirko Bonnés großer Liebesroman überträgt das Wahlverwandtschaften-Thema in die heutige Zeit. Er fragt nach Gründen von Entzweiung und Entfremdung und zeichnet dabei das ergreifende Porträt eines Mannes, der die Kraft findet, aus dem Schatten über seinem Dasein hinauszutreten. Lichter als der Tag eröffnet ihm und dem Leser den Schatz einer verschütteten Welt.

Mirko Bonné, geboren 1965 in Tegernsee, lebt in Hamburg und der Provence. Fu?r seine Übertragungen aus dem Französischen und Englischen, u. a. von Joseph Conrad, John Keats, Grace Paley und Oscar Wilde, erhielt er zuletzt den Hamburger Literaturpreis fu?r Übersetzung 2020. Fu?r sein schriftstellerisches Werk, das neben vielbeachteten und wiederholt fu?r den Deutschen Buchpreis nominierten Romanen auch Lyrik und Essays umfasst, wurde er u.a. mit dem Prix Relay (2008), dem Marie Luise Kaschnitz-Preis (2010), dem Rainer Malkowski-Preis (2014) und einer Nominierung fu?r den Alfred-Döblin-Preis (2019) ausgezeichnet. 2025 erhielt er von der Hansestadt Hamburg den Hubert-Fichte-Preis für seinen Roman Alle ungezählten Sterne.www.mirko-bonne.de
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II
Facetten einer falschen Freundschaft Solsort, Amsel, hatte das Segelboot ihrer Eltern geheißen, weil es einen schlanken schwarzen Rumpf und zwei schwarze Spinnaker gehabt hatte, die bei Wind Flügeln ähnelten. Eine Slup war die Solsort gewesen. In dem Feldmarkdorf östlich von Hamburg, in das man sie als Teenager verpflanzt hatte, war das Meer fern, und sie vermisste es monatelang keine Sekunde, froh, das Meer los zu sein, bis sie eines Morgens aus dem Haus ihrer Tante kam und einfach loslief Richtung Norden, quer über die Felder und Redder, immer weiter. Den ganzen Tag aß sie nur Obst von den Bäumen und Beeren von den Sträuchern und trank Wasser aus Teichen und aus Wasserhähnen auf Campingplätzen. Solange sie unterwegs war, sang sie. Und als auf der Landstraße der Peterwagen neben ihr hielt, in den sie einsteigen musste zu der netten Polizistin und ihrem stummen Kollegen am Steuer, war sie zwar enttäuscht, weil sie es nicht bis zum Meer geschafft hatte, aber auch stolz auf sich, dass sie nicht eingeknickt und umgekehrt war. Tante Jane lächelte. »Du bist groß«, sagte sie achselzuckend und wiederholte es auf Dänisch. »Du er stor.« Das Landleben war ihr seit der Zeit zwischen Ringkøbing und den Ringkøbinger Grasdünen nur allzu vertraut. Sie hatte Schafe satt und fand Kühe unerträglich. Sie verabscheute Milch. Jeden Grashalm hatte sie gezählt. Wofür Zäune? Sie kannte die Gerüche und Blicke der Bauern, die immer brandneuen, immer größeren Traktoren, das ewige Nutzdenken. Von allem Ländlichen angeödet, sehnte sie in jedem Moment Weite herbei. Sie war sich wieder sicher, ihre Liebe galt der See. Vor allem bei Sturm hatte sie schon als Mädchen stundenlang in den Dünen gehockt, um über das silbern flimmernde Wasser bis nach Holland, bis nach England zu sehen! Sie musste aus allem einen Gewinn ziehen können, und so wischte sie alles vom Tisch, was nicht der Befriedigung ihrer Herzensbedürfnisse diente. Inger war sentimental, aber nicht gefühlig. Sie weinte nie, nicht mal, wenn sie an die Amsel dachte. Sie lachte, aber Freude empfand sie dabei keine. Sie war künstlerisch begabt, hatte viel gelernt von ihrem Vater und – seit er tot war – viel über Malerei mit ihm geredet. Und doch war sie ein Gefühlsmensch. Sie suchte nach einem Weg zurück, zurück zum Meer. Wonach suchten die anderen denn? Flori schien es um Bestätigung zu gehen – die Bestätigung des Lebensentwurfes ihrer Mutter –, Moritz wollte erfolgreich sein wie sein Vater, aber mit Leuten wie seinem Vater nichts zu tun haben. Und Raimund? Er dachte so in die Welt hinein, als gebe es in jeder Hecke etwas zu lesen, das bedeutsam, nur noch keinem aufgefallen war. Sie dachte oft, eigentlich müsste sie mit Raimund zusammen sein und irgendwo am Meer leben, bloß er und sie. Er war so empfindsam, wie sie es gern gewesen wäre. Aber wenn sie Raimund sah, erinnerte sich Inger wieder daran, dass alles in ihr gestorben war. Etliche Jahre, bevor Ende der Neunziger der Tanke-Rauch und seine Frau mit dem Jaguar bei Burg auf Fehmarn in den Tod rasten, war die Blechflunder schon einmal an der späteren Unglücksstelle gewesen. Es war einer der letzten Sommer vor dem Mauerfall, ein nicht sehr heißer, fast durchgehend schöner Juli mit oftmals leuchtend blauem Himmel. Die Flunder glitt an Burg vorbei und in Puttgarden auf die Fähre nach Rødby. Moritz und Raimund wollten sich eine Woche lang durch Dänemark treiben lassen und dann sehen, wie es in Südschweden so war. Sie überquerten Falster und folgten auf Seeland der Küste nach Norden. Sie hörten laut Musik, sangen die Liedzeilen mit, die ihnen etwas über ihr eigenes Leben mitteilten, sie rauchten die Zigaretten, die Raimund ihnen während der Fahrt drehte, bliesen den Qualm durchs offene Schiebedach hinaus, erzählten sich Geschichten von Patienten, um die sie sich im Zivildienst gekümmert hatten, und stoppten in Küstenstädtchen, um Bier und etwas zu essen einzukaufen, das sie am Abend in der Gemeinschaftsküche eines Wanderheims kochten, ehe sie an veralgten Öresundstränden Steine sammeln gingen, die dann im Kofferraum landeten und die sie nie wieder eines Blickes würdigten. Es gab nichts, was schöner war als der Tag, den sie erlebten; es gab nur eine verschwommene Vergangenheit, aus der sie angeblich kamen, und keine Zukunft, die sie kümmerte. Raimund wollte im Herbst nach England gehen, um in Birmingham zu studieren, Biologie, ein halbherzig gefasster Plan, eher aus Pflichtgefühl seiner Mutter gegenüber. Moritz dagegen hatte vor, entweder die elterliche Firma zu übernehmen, was seit einiger Zeit hieß, sie vor der Pleite zu bewahren, oder aber er würde ebenfalls studieren, in Wien oder Berlin, und als Architekt mindestens so großartig und berühmt werden wie Rem Koolhaas oder sogar Frank Lloyd Wright. Sie machten Pläne, aus denen nichts werden konnte. Sie verherrlichten tagsüber das Licht und in der Nacht die Dunkelheit. Es gab die Ferne und es gab die Nähe, und es gab Orte und Augenblicke, da waren Nähe und Ferne dasselbe. Es gab Musik, die ihnen nicht aus dem Kopf ging. Und es gab Inger, die aus diesem so nahen und zugleich fremden Land kam, durch das sie fuhren. Es gab während ihrer Zeit in Dänemark keine Stunde, in der sie nicht an Inger dachten und einer etwas von ihr erzählte, das dem anderen neu war. Noch nie hatte ihm eine Stadt so gefallen wie Kopenhagen. København! Für ihn nicht nur die dänische Hauptstadt, sondern das Herz des Landes, in dem die Frau aufgewachsen war, der sein Herz gehörte. Es gab Tausende von jungen Leuten wie sie, die in Nyhavn in den Ufercafés saßen und durch das Gassenlabyrinth der Altstadt strömten. Ein paar Freiburger, die sie trafen, erzählten, erst vor wenigen Tagen habe Bruce Springsteen ein Konzert in Kopenhagen gegeben und zuvor auf Strøget inkognito Straßenmusik gemacht. Sie stiegen auf den Runden Turm. Er hatte keine Stufen, nur eine Fahrbahn, auf der früher Pferde und Kutschen wie in einem riesigen Schneckenhaus aus Stein bis zur Aussichtsplattform gelangt waren. Moritz entschloss sich dort oben, so schnell wie möglich mit dem Studium zu beginnen; begeistert von der Bauweise des Turms, zeichnete er dutzende Skizzen, während sich Raimund den Lärm der Droschken, das Gekeuche und Getrappel der Pferde und das Geknall der Peitschen vorstellte. Als sie nach drei Tagen aus Kopenhagen hinausfuhren, legten sie einen Zwischenstopp in Amager ein, wo Moritz sich die Erlöserkirche Vor Frelsers mit ihrem spiralförmigen Kupferturm ansah. Oben angekommen, fragte sich Raimund lange, ob ihn die Liebe zur Freundin seines besten Freundes nicht genauso schneckenhausartig zu einer Spitze führte, wo er dann entweder würde unverrichteter Dinge umkehren oder hinunterspringen müssen. Dann verließen sie Ingers Land und nahmen an einem frühen Abend die Fähre über den silbern leuchtenden Öresund nach Schweden. Alles in den Trelleborger und Malmöer Vororten erschien ihnen zweckdienlich, nur eine Jugendherberge gab es nirgends. »Ich stelle mir vor, ich hätte ihn gesehen«, sagte Moritz. Im Kassettenradio lief Springsteens »New York City Serenade«. Moritz hatte einen Ausdruck im Gesicht, als hätte der Boss das Lied nur für ihn geschrieben. »Stell dir vor, wir auf Strøget und er auf Strøget, wir hätten ihn gesehen und hätten ihn nicht erkannt«, sagte Raimund. Langsam fuhren sie dahin durch das sommerlich verwaiste Südschweden. »Nein«, sagte Moritz irgendwann, Stunden später, als es schon dunkel wurde. »Ich hätte ihn erkannt, garantiert.« »Euer unerträgliches Bierkneipengitarrensologeschrammel!« Floriane verdrehte die Augen. »Hauptsache, keiner kann danach tanzen. Also ich will, dass was anderes läuft. Raimund, mach was anderes an, aber kein Gewieher mit Gitarren und Getrommel. Na los! Sonst fliegt dieser Turnschuh auf den Plattenspieler, das schwör ich dir!« Flori mochte nichts so sehr wie tanzen. Die Musik war ihr dabei fast egal, Hauptsache, sie lief ihr durch den Körper, die Muskeln. Wenn sie tanzte, spürte sie, wie ihre Wut eine Kraft wurde, die ihr Beweglichkeit und Freiheit schenkte. Es gab Abende in Moritz’ oder Raimunds Zimmer, da saßen sie zusammen, lachten, redeten über ihre Eltern und die Lehrer und hörten Musik; sie trank nicht. Und wenn Inger und die beiden Jungs schon auf dem Boden lagen und nur noch Quatsch von sich gaben, tanzte Floriane allein in einer dunkleren Zimmerecke, bis sie nicht mehr konnte. Über den Feldern und in den Parks hing Nebeldunst, als sie noch immer durch die dunkle Gegend kurvten. Moritz war gereizt, aber nicht davon abzubringen, dass nur er fuhr. »Wieso siehst du das Ganze nicht mal anders?«, fragte ihn Raimund ernst und auch ein wenig belustigt. »Wenn ich die Kiste versenke, seid ihr etwas los, was euch sowieso nur an Hajo Kossleck erinnert. Also?« »Du fährst sie nicht, und wenn du hundert Argumente hast«, sagte Moritz und wirkte wie üblich munter, solange er etwas durchsetzen zu müssen meinte. »Die Blechflunder ist der Beweis, dass wir nicht aufgeben. Sie ist eine Kriegsbeute. Ein Geschenk zwar von diesem Wegelagerer, aber eigentlich ein trojanisches Pferd. Na, verstehst du sowieso nicht.« »Sei dir da nicht so sicher.« »Ich bin mir bei keiner Antwort sicher, noch nicht bemerkt?« »Außer bei der, dass ich die Flunder nicht fahren darf.« Raimund starrte zum Seitenfenster hinaus in den Nebel. Was für ein schöner Nebel, dachte er. »Du fährst, wenn mich ein Schwede verprügelt und ich nicht mehr fahren kann. Dann fährst du.« Moritz lachte. Was für ein mieser, elender...


Bonné, Mirko
Mirko Bonné, geboren 1965 in Tegernsee, lebt in Hamburg und der Provence. Fu¨r seine Übertragungen aus dem Französischen und Englischen, u. a. von Joseph Conrad, John Keats, Grace Paley und Oscar Wilde, erhielt er zuletzt den Hamburger Literaturpreis fu¨r Übersetzung 2020. Fu¨r sein schriftstellerisches Werk, das neben vielbeachteten und wiederholt fu¨r den Deutschen Buchpreis nominierten Romanen auch Lyrik und Essays umfasst, wurde er u.a. mit dem Prix Relay (2008), dem Marie Luise Kaschnitz-Preis (2010), dem Rainer Malkowski-Preis (2014) und einer Nominierung fu¨r den Alfred-Döblin-Preis (2019) ausgezeichnet. 2025 erhielt er von der Hansestadt Hamburg den Hubert-Fichte-Preis für seinen Roman Alle ungezählten Sterne.www.mirko-bonne.de

Mirko Bonné, geboren 1965 in Tegernsee, lebt als Schriftsteller und Übersetzer in Hamburg. Sein vielfältiges Œuvre umfasst neben viel beachteten Romanen Gedichtbände, Erzählungen und Übersetzungen, darunter zuletzt Grace Paley, Henry James und Joseph Conrad. Für sein Werk wurde er mit dem Prix Relay (2008), dem Marie-Luise-Kaschnitz-Preis (2010) sowie dem Rainer-Malkowski-Preis (2014) ausgezeichnet und mehrfach für den Deutschen Buchpreis nominiert.


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